Dritter Adhyâya.

[296] Vers 1-6. Der Âtman als persönlicher Gott (Îça oder Rudra).


1. Der netzausbreitend1 herrscht mit Herrscherkräften,

Die ganze Welt beherrscht mit Herrscherkräften,

Einer bleibend beim Entstehen und Bestehen [der Welt],

Unsterblich werden, welche das verstehen!


2. Der eine Rudra, – zu keinem zweiten stehn sie2, –

Ist's, der die Welt beherrscht mit Herrscherkräften;

Er weilt in den Wesen, und wutentbrannt zur Endzeit

Zerschmettert er als Herr die Geschöpfe alle.


3.3 Allseitig Auge und allseitig Antlitz,

Allseitig Arme und allseitig Fuss,

Schweisst schaffend er mit Armen, schweisst mit Flügeln

Zusammen Erd' und Himmel, Gott, der Eine.


4.4 Er, der der Götter Ursprung und Hervorgang,

Der Herr des Alls, Rudra, der grosse Weise,

Er, der vormals Hiraṇyagarbha zeugte,

Der Gott begabe uns mit edler Einsicht.


5.5 In deiner gnäd'gen Form, Rudra,

Die nicht schrecklich, nicht unheilvoll,

In dieser, deiner Form, der heilbringendesten,

Lass uns, Bergwohner, dich erblicken.


6.6 Der Pfeil, den du, Bergfroher,

Zum Schleudern trägst in deiner Hand,

Den mach' uns gnädig, Berghüter;

Nicht schädige er Mensch und Tier.


[297] Vers 7-21. Höher als diese Personifikation des Göttlichen (wenn wir tataḥ param auf das unmittelbar Vorhergehende beziehen dürfen) steht das (unpersönliche) Brahman, dessen Verkörperung im Weltall und im Menschen, mit Einflechtung vieler Zitate, dargelegt wird.


7. Doch höher noch steht Brahman! Den höchsten, grossen,

Der Leib für Leib versteckt in allen Wesen,

Den Einen, der das Weltall hält umschlossen, –

Wer den als Gott versteht7, der wird unsterblich.


8.8 Ich kenne jenen Purusha, den grossen,

Jenseits der Dunkelheit wie Sonnen leuchtend;

Nur wer ihn kennt, entrinnt dem Reich des Todes;

Nicht gibt es einen andern Weg zum Gehen.


9.9 Höher als der nichts andres ist vorhanden,

Nichts Kleineres und nichts Grösseres, was auch immer,

Als Baum im Himmel wurzelnd10 steht der Eine,

Der Purusha, der diese ganze Welt füllt.


10. Was höher hoch als diese Welt,

Das ist gestaltlos, schmerzenlos,

Unsterblich werden, welche das verstehen,

Die andern gehen ein in lauter Leiden.11


11. Mit Antlitz, Haupt und Hals allwärts12,

Weilt er in aller Wesen Herz;

Er, der Heil'ge, durchdringt alles,

So wohnt er selig (çiva) überall.


12. Gross, herrlich ist der Purusha,

Er regt an die Erkenntniskraft13;

Zu jenem reinen Ort14 ist er

Herr des Zugangs, Licht, wandellos.
[298]

13.15 Der Purusha, zollhoch, als innre Seele

Ist stets zu finden in der Geschöpfe Herzen;

Nur wer an Herz und Sinn und Geist bereitet, –

Unsterblich werden, die ihn also kennen.


14.16 Der Purusha mit tausendfachen Häuptern,

Mit tausendfachen Augen, tausend Füssen

Bedeckt ringsum die Erde allerorten,

Zehn Finger hoch noch drüber hin zu fliessen.


15.17 Nur Purusha ist diese ganze Welt,

Und was da war, und was zukünftig währt,

Herr ist er über die Unsterblichkeit, –

Diejenige, die sich durch Speise nährt.


16.18 Nach allwärts ist es Hand, Füsse,

Nach allwärts Augen, Haupt und Mund,

Nach allen Seiten hin hörend,

Die Welt umfassend steht es da.


17. Durch aller Sinne Kraft scheinend

Und doch von allen Sinnen frei,

Als Gott und Herrn der Welt [ehrt ihn],

Als grossen Hort des Weltenalls.


18. Der in der Stadt mit neun Toren (vgl. Kâṭh. 5,1)

Als Schwan wohnend (Çvet. 1,6) nach aussen schweift19,

Der ist der ganzen Welt Herrscher,

Alles dessen, was steht und geht.


19.20 Ohn' Hände greift er, ohne Füsse läuft er,

Sieht ohne Augen und hört ohne Ohren,[299]

Er weiss, was wissbar, aber ihn weiss niemand,

Er heisst der Erstlings-Purusha, der Grosse.


20.21 Des Kleinen Kleinstes und des Grossen Grösstes,

Wohnt er als Selbst im Herzen dem Geschöpf hier;

Den willensfreien schaut man, fern von Kummer,

Durch Gottes Gnade als den Herrn, als Grösse.


21. Ich weiss ihn, jenen alterlosen Alten,

In allem, es durchdringend, gegenwärtig,

Als Selbst in allem, dem Entstehn absprechen

Die Brahmanwisser, das sie ewig nennen.


Fußnoten

1 Ça kara denkt an das Fangnetz der Mâyâ. Zunächst wird wohl das bekannte Bild von der Spinne und dem Netz (zuerst Bṛih. 2,1,20) vorschweben; vgl. 5,3. 6,10; jâlam vom Spinnennetz auch Brahma-Up. 1: yathâ mâkshîkâ ekena tantunâ jâlam vikshipati.


2 Die Brahmanwisser halten zu ihm allein.


3 = Ṛigv. 10,81,3; die Erklärung siehe Gesch. d. Phil. I, 136.


4 Derselbe Vers etwas anders 4,12 und wieder anders Mahânâr. 10, 19.


5 Vers 5-6 = Vâj. Samh. 16,2-3 (Nîlarudra-Up, 8. 5).


6 Vers 5-6 = Vâj. Samh. 16,2-3 (Nîlarudra-Up, 8. 5).


7 Wer unter dem erwähnten Gotte Rudra den Âtman (das Brahman) versteht.


8 = Vâj. Samh. 31,18 (Gesch. d. Phil. I, 290).


9 = Mahânâr. 10,20.


10 Es ist derselbe Baum, von dem Kâṭh. 6,1 die Rede ist.


11 Die dritte Zeile oben 3,1; die beiden letzten Bṛih. 4,4,14.


12 Dies ist eine blosse Paraphrase von Stellen wie Ṛigv. 10,81,3 (oben Vers 3) und 10,90,1 (unten Vers 14). Im folgenden sind bhagavân und çiva noch nicht Eigennamen, wohl aber der erste Keim derselben.


13 sattvam, von Ça k. im wesentlichen richtig als antaḥkaraṇam erklärt, ist wohl hier, wie Kâṭh. 6,7, Synonym von buddhi.


14 Kâṭh. 3,9.


15 Dieser Vers (bis auf die erste Zeile Çvet. 4,17 wiederholt) ist eine Fusion aus Kâṭh. 6,17 und Kâṭh. 6,9, wo (vgl. Mahânâr. 1,11. Çvet. 4,20) die ursprüngliche Form des Spruches erhalten ist.


16 Vers 14-15 = Ṛigv. 10,90,1-2 (erklärt Gesch. d. Phil. I, 152).


17 Vers 14-15 = Ṛigv. 10,90,1-2 (erklärt Gesch. d. Phil. I, 152).


18 Wieder, wie oben Vers 11, eine Paraphrase.


19 Das Subjekt des Erkennens, indem es durch die Sinne wahrnimmt, »schweift gleichsam« nach aussen, lelâyati iva, wie es in der ursprünglichen Stelle Bṛih. 4,3,7 heisst, woher wohl mit dem Ausdrucke die Vorstellung entlehnt ist.


20 Das Subjekt des Erkennens allein ist greifend, laufend, stehend, hörend, obgleich die betreffenden Organe gar nicht Subjekt sind; und dieses individuelle Subjekt ist das Ursubjekt, »das Grosse« (mahad, buddhi) der Sâ khyalehre.


21 Vgl. über diesen Vers die Anmerkungen zu Mahânâr. 10,1. Kâṭh. 2,20 (oben S. 247. 274).

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 296-300.
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