9. Der grobe Körper.

[333] Der sichtbare vergängliche Leib (sthûla-deha, °śarîra), der in der animalischen Welt von Vater und Mutter erzeugt wird – das Pflanzenreich kommt nur nebensächlich in Betracht89[333] –, besteht aus sechs Hüllen (ṣâṭkauśika), nämlich Haaren, Blut, Fleisch, Sehnen, Knochen und Mark, von denen die drei ersten der Mutter, die drei letzten dem Vater entstammen90.

Die Verbindung des groben Leibes mit dem feinen Körper und der Seele nennen wir Leben91, ihre Trennung Tod. Das Leben in einer bestimmten Existenz (janman) kann nicht eher durch den Tod ausgelöscht werden, als bis das Resultat der früheren Werke, deren Frucht zu reifen begonnen hat (prârabdha), vollständig ausgekostet ist92.

Obschon die unsichtbare Kraft der Werke (adṛṣṭa, apûrva), die Gattung des groben Körpers bestimmt, in welche die von dem feinen Körper umkleidete Seele nach dem Ablauf einer Existenz einzieht, ist diese Kraft doch nicht das den groben Leib bildende Prinzip93. Vielmehr lernten wir als solches schon oben S. 318 den Atem (prâṇa) oder richtiger: die mit dem Atem als dem Lebensprinzip verbundene Seele kennen. Man war der Meinung, daß im Mutterleibe zuerst ein Flöckchen (kalala), daraus ein Bläschen (budbuda) und weiter ein Fleischklumpen (mâmsa-peśî), der Rumpf (karaṇḍa) die Glieder (aṅga), d.h. Kopf, Arme und Beine, und schließlich die Nebenglieder (pratyaṅga, s. im Petersburger Wörterbuch), d.h. Stirn, Nase, Kinn, Ohren, Finger usw., entstehen94. Über den Stoff, aus dem dieser grobe Körper sich bildet, ist in Indien gestritten worden. Die einen, d.h. die Vertreter der landläufigen Anschauung95 sagen, daß er[334] aus den fünf groben Elementen bestehe; andere scheiden den Äther aus und nennen nur vier96; wieder andere, d. h, die Vedantisten, lehren, daß der Körper aus drei Urelementenf Feuer, Wasser und Nahrung, zusammengesetzt sei97; und schließlich existiert auch die Ansicht, daß er nur aus zweien (d.h. wohl Erde und Wasser) sich bilde98. Aber alle diese Anschauungen sind nach der Ansicht des Sâmkhya-Systems nicht richtig. Zwar besteht das Substrat des inneren Körpers, wie wir sahen, aus den fünf feinen Elementen; aber der grobe Körper hat nach der auch von der Vaiśeṣika-Nyâya-Philosophie geteilten99 Sâmkhya-Lehre lediglich das Element Erde zur materiellen Ursache100. Die verbreitete Anschauung, daß der Leib aus den fünf groben Elementen gebildet sei, beruht darauf, daß die übrigen vier Elemente die Stabilität des Körpers bewirken, indem das Blut durch das Wasser, die Körperwärme durch das Feuer, der Atem durch die Luft und die Luftröhre durch den Äther erhalten wird101. Das gleiche gilt selbst von den überirdischen Wesen in den Welten des Sonnen-, Wasser- und Luftgottes; denn such hier dienen die feurigen, bezw. wässrigen und luftigen Bestandteile nur dazu, die überwiegende Masse der erdigen Bestandteile zu erhalten. Nur die letzteren befähigen den Körper, Freude und Schmerz zu empfinden; wenn sie an se geringer wären als das, was die anderen Elemente zur Erhaltung des Körpers beitragen, so würde jede Empfindung unmöglich sein102.

89

Sûtra V. 121 Vijñ.

90

Kârikâ 39 und Sûtra III. 7, 11 nebst den beiderseitigen Kommentaren. Ebenso (nur Haut statt Haare) in dem Sâmkhya-Abschnitt Mbh. XII. 11332, 33.

91

Vijñ. zu Sûtra VI. 63.

92

Vijñ. zu Sûtra I. 24.

93

Sûtra VI. 61, 62. Dies ist eine Polemik gegen die Lehre der Vaiśeṣika-Nyâya-Philosophie, nach der die Seele durch Vermittlung des Adṛṣṭa die Bildung des Körpers leitet.

94

Sâmkhya-tattva-kaumudî zu Kârikâ 43.

95

Vgl. die üblichen Ausdrücke pañcatâ, pañcatva ›Auflösung des Körpers in die fünf Elemente, s.v.a. Tod‹.

96

Sûtra III. 17, 18.

97

Deussen, System des Vedânta 259, 260.

98

Vijñ. zu Sûtra V. 102.

99

Vaiśeṣikasûtra IV. 2. 2, 3 und Nyâyasûtra III. 28-32. Suali, Introduzione 154 fg.

100

Sûtra III. 19, V. 102, 112 im Gegensatz zu der Mbh. XII. 7936-38 Pañcaśikha in den Mund gelegten landläufigen Anschauung.

101

Vijñ. zu Sûtra V. 102.

102

Anir. und Mahâd. zu Sûtra V. 112; etwas anders Vijñ. zu III. 19.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 333-335.
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