c. Der Fall
§ 267

[75] Der Fall ist die relativ-freie Bewegung, frei, indem sie durch den Begriff des Körpers gesetzt, die Erscheinung seiner eigenen Schwere ist; sie ist ihm daher immanent. Aber sie ist zugleich als die nur erste Negation der Äußerlichkeit bedingt, die Entfernung von dem Zusammenhange mit dem Zentrum ist daher noch die äußerlich gesetzte, zufällige Bestimmung.

Die Gesetze der Bewegung betreffen die Größe, und zwar wesentlich der verflossenen Zeit und des in derselben durchlaufenen Raums; es sind unsterbliche Entdeckungen, die der Analyse des Verstandes die höchste Ehre machen. Ein Weiteres ist der nicht empirische Beweis derselben, und auch dieser ist von der mathematischen Mechanik gegeben worden, so daß auch die auf Empirisches sich gründende Wissenschaft mit dem bloß empirischen Weisen (Monstrieren) nicht zufrieden ist. Die Voraussetzung bei diesem apriorischen Beweise ist, daß die Geschwindigkeit im Fall gleichförmig beschleunigt ist, der Beweis aber besteht in der Verwandlung der Momente der mathematischen Formel in physikalische Kräfte, in eine beschleunigende Kraft, welche in jedem Zeitmoment einen (denselben) Impuls mache15, und in eine Kraft der Trägheit, welche die in[75] jedem Zeitmomente erlangte (größere) Geschwindigkeit fortsetze, – Bestimmungen, die durchaus ohne empirische Beglaubigung sind, so wie der Begriff nichts mit ihnen zu tun hat. Näher wird die Größenbestimmung, welche hier ein Potenzenverhältnis enthält, auf die Gestalt einer Summe zweier voneinander unabhängiger Elemente gebracht und damit die qualitative, mit dem Begriffe zusammenhängende Bestimmung getötet. Zu einer Folge aus dem so bewiesen sein sollenden Gesetze wird gemacht, daß in der gleichförmig beschleunigten Bewegung die Geschwindigkeiten den Zeiten proportional seien. In der Tat ist dieser Satz aber nichts als die ganz einfache Definition der gleichförmig beschleunigten Bewegung selbst. Die schlecht-gleichförmige Bewegung hat die durchlaufenen Räume den Zeiten proportional; die beschleunigte ist [die], in der die Geschwindigkeit in jedem der folgenden Zeitteile größer wird, die gleichförmig beschleunigte Bewegung somit [die], in der die Geschwindigkeiten den verflossenen Zeiten proportional sind; also v/t d.i. s/t2.

Dies ist der einfache wahrhafte Beweis. – v ist die Geschwindigkeit überhaupt, die noch unbestimmte, so ist sie zugleich die abstrakte, d.i. schlecht-gleichförmige. Die Schwierigkeit, die [bei] jenem Beweisen vorkommt, liegt darin, daß v zunächst als unbestimmte Geschwindigkeit überhaupt in Rede steht, aber sich im mathematischen Ausdruck als s/t, d.i. schlecht-gleichförmige, präsentiert. Jener Umweg des von der mathematischen Exposition hergenommenen Beweisens dient für dies Bedürfnis, die Geschwindigkeit als die schlecht-gleichförmige s/t zu nehmen und von ihr zu s/t2 überzugehen. In dem Satze, daß[76] die Geschwindigkeit den Zeiten proportional ist, ist die Geschwindigkeit zunächst überhaupt gesagt; so wird sie überflüssigerweise mathematisch als s/t, die schlechtgleich-förmige gesetzt, so die Kraft der Trägheit hereingebracht und ihr dies Moment zugeschrieben. Damit aber, daß sie den Zeiten proportional sei, ist sie vielmehr als die gleichförmig beschleunigte s/t2 bestimmt, und jene Bestimmung von s/t hat hier keinen Platz und ist ausgeschlossen.16

Das Gesetz des Falles ist gegen die abstrakte gleichförmige Geschwindigkeit des toten, von außen bestimmten Mechanismus ein freies Naturgesetz, d.h. das eine Seite in ihm hat, die sich aus dem Begriffe des Körpers bestimmt. Indem daraus folgt, daß es aus diesem muß abgeleitet werden können, so ist dieses sich vorzusetzen und der Weg[77] anzugeben, wie das Galileische Gesetz, daß die durchlaufenen Räume sich wie die Quadrate der verflossenen Zeiten verhalten, mit der Begriffsbestimmung zusammenhängt.

Dieser Zusammenhang ist aber als einfach darinliegend anzusehen, daß, weil hier der Begriff zum Bestimmen kommt, die Begriffsbestimmungen der Zeit und des Raums gegeneinander frei werden, d.i. ihre Größenbestimmungen sich nach denselben verhalten. Nun ist aber die Zeit das Moment der Negation, des Fürsichseins, das Prinzip des Eins, und ihre Größe (irgendeine empirische Zahl) ist im Verhältnisse zum Raum als die Einheit oder als Nenner zu nehmen. Der Raum dagegen ist das Außereinandersein, und zwar keiner anderen Größe als eben der Größe der Zeit; denn die Geschwindigkeit dieser freien Bewegung ist dies, daß Zeit und Raum nicht äußerlich, nicht zufällig gegeneinander sind, sondern beider eine Bestimmung ist. Die als der Form der Zeit, der Einheit, entgegengesetzte Form des Außereinander des Raums, und ohne daß irgendeine andere Bestimmtheit sich einmischt, ist das Quadrat, – die Größe außer sich kommend, in eine zweite Dimension sich setzend, sich somit vermehrend, aber nach keiner anderen als ihrer eigenen Bestimmtheit, – diesem Erweitern sich selbst zur Grenze machend und in ihrem Anderswerden so sich nur auf sich beziehend.

Dies ist der Beweis des Gesetzes, des Falls aus dem Begriffe der Sache. Das Potenzenverhältnis ist wesentlich ein qualitatives Verhältnis und ist allein das Verhältnis, das dem Begriffe angehört. – Noch ist auch in Beziehung auf Nachfolgendes hinzuzufügen, daß, weil der Fall zugleich noch Bedingtheit in der Freiheit enthält, die Zeit nur abstrakte Einheit als die unmittelbare Zahl bleibt, so wie die Größenbestimmung des Raums nur zur zweiten Dimension gelangt.
[78]

§ 268

Der Fall ist das nur abstrakte Setzen eines Zentrums, in dessen Einheit der Unterschied der partikularen Massen und Körper sich als aufgehoben setzt; Masse, Gewicht hat daher in der Größe dieser Bewegung keine Bedeutung. Aber das einfache Fürsichsein des Zentrums ist als diese negative Beziehung auf sich selbst wesentlich Repulsion seiner selbst; – formelle Repulsion in die vielen ruhenden Zentra (Sterne); – lebendige Repulsion, als Bestimmung derselben nach den Momenten des Begriffs und wesentliche Beziehung dieser hiernach unterschieden gesetzten Zentra aufeinander. Diese Beziehung ist der Widerspruch ihres selbständigen Fürsichseins und ihres in dem Begriffe Zusammengeschlossenseins; die Erscheinung dieses Widerspruches ihrer Realität und ihrer Identität ist die Bewegung, und zwar die absolut freie Bewegung.[80]

15

Es ließe sich sagen, daß diese sogenannte beschleunigende Kraft ihren Namen sehr uneigentliche führe, da die von ihr herrühren sollende Wirkung in jedem Zeitmomente gleich (konstant) ist, – der empirische Faktor in der Größe des Falls, die Einheit (die 15 Fuß an der Oberfläche der Erde). Die Beschleunigung besteht allein in dem Hinzusetzen dieser empirischen Einheit in jedem Zeltmoment, Der sogenannten Kraft der Trägheit dagegen kommt wenigstens auf dieselbe Weise die Beschleunigung zu; denn es wird ihr zugeschrieben, daß ihre Wirkung die Dauer der am Ende jedes Zeitmoments erlangten Geschwindigkeit sei, d.i. daß sie ihrerseits diese Geschwindigkeit zu jener empirischen Größe hinzufüge; und zwar sei diese Geschwindigkeit am Ende jedes Zeitmoments größer als am Ende des vorhergehenden.

16

Lagrange geht nach seiner Weise in der Théorie des fonctions, 3me Partie, »Application de la Théorie à la Mécanique«, Ch. I, den einfachen, ganz richtigen Weg; er setzt die mathematische Behandlung der Funktionen voraus und findet nun in der Anwendung auf die Mechanik, für s = ft, in der Natur ft auch bt2; s = ct3 präsentiere sich in der Natur nicht. Hier ist mit Recht keine Rede davon, einen Beweis von s = bt2 aufstellen zu wollen, sondern dies Verhältnis wird als in der Natur sich findend aufgenommen. Bei der Entwicklung der Funktion, indem t zu t+th werde, wird der Umstand, daß von der sich für den in th durchlaufenen Raum ergebenden Reihe nur die zwei ersten Glieder gebraucht werden können und die anderen wegzulassen seien, auf seine gewöhnliche Weise für das analytische Interesse erledigt. Aber jene zwei ersten Glieder werden für das Interesse des Gegenstandes nur gebraucht, weil nur sie eine. reelle Bestimmung haben (ibid. 4, 5.: »on voit que les fonctions primes et secondes se présentent naturellement dans la mécanique ou elles ont une valeur et une signification déterminées«). Von hier fällt Lagrange wohl auf die Newtonschen Ausdrücke von der abstrakten, d.i. schlecht-gleichförmigen Geschwindigkeit, die der Kraft der Trägheit anheimfällt, und auf die beschleunigende Kraft, womit auch die Erdichtungen der Reflexion von einem unendlich kleinen Zeitraum (dem th), dessen Anfang und Ende hereinkommen. Aber dies hat keinen Einfluß auf jenen richtigen Gang, der diese Bestimmungen nicht für einen Beweis des Gesetzes gebrauchen will, sondern dieses, wie hier gehörig, aus der Erfahrung aufnimmt und dann die mathematische Behandlung darauf anwendet.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 9, Frankfurt a. M. 1979, S. 75-82.
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