[Kommentare]

[438] 1. In dem Sûtra des Gautama (4, 12, 58) »Und weil etwas mag als Lust angesehen werden, obwohl es zweifelhaft ist, ob es Unlust sei (so ist der Grundsatz auch die Lust als Unlust zu betrachten, angemessen)« ist das Wohl ausgesagt als ein Gegenstand, welcher für ein Wehe zu halten ist. Deshalb kann bei oberflächlicher Betrachtung der Gedanke entstehen, das Wehe sei eben Wohl und nicht eine von dem letztern verschiedene Eigenschaft. Dies ist aber ein Irrthum, und das gegenwärtige Sûtra hat die Absicht, ihn zu widerlegen. »Wohl und Wehe sind verschiedene Zustände«, nicht Eins. »Das Begehrte«, Kränze, Sandelholz, Frauen u.s.w.; – »das Verabscheute«, Schlangen, Dornen, Feinde, üble Gerüche u.s.w.; – weil eine derartige Ursache von diesem (Begehrten) verschieden ist, von ihm gesondert ist, und weil (beides) einander entgegengesetzt ist1, d.h. weil beides nicht gleichzeitig in derselben Seele entstehen kann; denn es ist im höchsten Grade unwahrscheinlich, dass verschiedenartige oder entgegengesetzte Ursachen ungetrennt wären. Aber jenes Sûtra des Gautama, wonach das Wohl als ein Wehe betrachtet werden soll, hat die Leidenschaftslosigkeit zur Absicht. In der That vermag auch das Wort des Guru nicht, Wohl oder Wehe, welche durch die allgemeine Übereinstimmung aller Menschen erwiesen sind, wegzuläugnen. V.

2. Wären Wohl oder Wehe ein Wissen, so würden sie entweder den Charakter des Zweifels oder der Gewissheit an sich tragen. Nicht das Erste, weil sie (Wohl und Wehe), nicht zwei Alternativen (II, 2, 17) haben, weil sie nicht eine Alternative haben. Demnach, das Allgemeine (hier das Wissen) ist verboten, weil das Besondere (die Arten des Allgemeinen) verboten ist. Von dem Wissen giebt es nämlich zwei besondere Arten, Zweifel und Gewissheit. Beides nun ist vom Wohle und Wehe ausgeschlossen. Deshalb ist auch das Wissen davon ausgeschlossen. Das »Und« enthält die Ausschliessung der Auffassung; denn die Auffassung von Wohl und [436] Wehe ist von der Art wie: mir ist wohl, mir ist wehe, nicht aber: ich weiss, ich zweifle, ich bin gewiss. U.

3. Der Upaskâra und die Vivriti erklären dies Sûtra auf verschiedene Weise. Der Upaskâra sagt: Ein anderer Unterschied wird angeführt. Der Ursprung derselben, nämlich des Zweifels und der Gewissheit findet Statt durch Wahrnehmung und Schluss. Wohl oder Wehe ist nicht durch einen Gegenstand der Wahrnehmung entstanden, noch auch durch Schluss. Das Wohl ist nämlich vierfach, sofern es vom Gegenstande herrührt, oder sich auf ein Verlangen bezieht, oder auf die Selbstschätzung, oder auf Uebung. Die drei letzten Arten nun sind nicht durch Verbindung mit einem Sinne entstanden. Soll nun das Erste ein Wissen sein, welches aus der Verbindung eines Sinnes mit einem Gegenstande hervorgeht? Wir verneinen dies; denn eine Wirkung, welche nur ein Theil eines Gegenstandes ist, kann nicht von dem erzeugt sein, was von gleicher Art ist; sonst würden, weil Raum und Zeit Allgemeinheiten sind (d.h. allen Wirkungen vorhergehen) alle Wirkungen von einer Art sein. Ferner, wenn das Wohl durch die Verbindung des Sinns mit dem Gegenstande entspränge, so wäre es entweder unbestimmt (oder auch, ohne Alternative) oder bestimmt. Nicht das Erste, weil es (als ein Unbestimmtes) über die Sinne hinausginge; nicht das Zweite, weil keines von beiden das Verhältniss des Bestimmbaren und Bestimmenden an sich trägt. Noch mehr, weil das Wohl und Wehe nothwendig gewusst werden müssten, im Falle, dass das Wissen nothwendig gewusst werden muss, so würde ein regressus in infinitum Statt finden. Der Verfasser der Vritti aber sagt: Der Ursprung derselben, nämlich des Wohls und Wehs, ist durch Wahrnehmung und Schluss, d.h. durch die Erklärung des Wissens der Wahrnehmung und des Schlusses erklärt; das Wissen der Wahrnehmung entsteht durch die Sinne, das argumentative durch Argumente; Glück u.s.w. ist aber nicht ein solches.

Dagegen die Vivriti. Ein unbestimmtes Wissen ist weder Zweifel noch Gewissheit; so möchte auch Wohl oder Wehe ein solches unbestimmtes Wissen sein. Die Antwort darauf ist: »Der Ursprung derselben«, der Beweis von Wohl und Wehe, »findet Statt durch Wahrnehmung und Schluss«. Wohl und Wehe werden nämlich in der eigenen Seele durch die Wahrnehmung bewiesen; durch die Heiterkeit der Augen oder durch die Traurigkeit des Gesichts wird auf das Wohl oder Wehe in der fremden Seele geschlossen. Deshalb, trügen Wohl oder Wehe den Charakter des unbestimmten Wissens, so wäre (jene) Wahrnehmung unmöglich, ebenso der Schluss von dem Argumente der Heiterkeit oder Traurigkeit des Gesichts; deshalb sind Wohl und Wehe nicht im Wissen enthalten.

[437] 4. Das »Auch« schliesst die andere Bestimmung des Künftigen ein. Demnach, in einem solchen argumentativen Wissen wie: auf dem Berge war Feuer, auf dem Berge wird Feuer sein, wird die Bestimmung des Gewesenen u.s.w. wahrgenommen; nicht aber wird Wohl oder Wehe, wenn es entsteht, unter einer solchen Bestimmung aufgefasst. U.

5. »Auch wenn sie da ist«, wenn die Ursache des Wissens da ist, »weil die Wirkung«, Wohl oder Wehe, »nicht wahrgenommen wird«, nicht aufgefasst wird, sind Wohl und Wehe nicht im Wissen enthalten. Wenn ein Gegenstand der Wahrnehmung oder des Schlusses vorhanden ist, so entsteht Wahrnehmung oder Schluss. Hier entsteht die Auffassung, ich sehe den Topf, ich schliesse auf Feuer, nicht aber, mir ist wohl, mir ist wehe; deshalb können Wohl und Wehe keine besondere Art des Wissens sein. V.

6. Mit Bezug auf das Wohl giebt es besondere Ursachen, welche einen und denselben Gegenstand hervorbringen, nämlich Verdienst, Freude am Wohle, Verlangen nach der Ursache des Wohls, das Streben dieselbe hervorzubringen, das Wissen von Kränzen, Sandelholz u.s.w.; mit Bezug auf das Weh aber: Nicht-Verdienst, das Wissen des Verabscheuten, eines Dornes u.s.w. Und der Sinn ist, dass (Wohl oder Wehe) wahrgenommen werden, in den Ursachen, welche einem und demselben Gegenstande inhäriren. Das unbestimmte Wissen aber lässt nicht eine besondere Ursache zu, welche einem und demselben Gegenstande inhärirte; das bestimmte Wissen dagegen fordert ein bestimmendes Wissen; dies ist nun nicht eine verschiedene Ursache, eine ihm entgegengesetzte Ursache. U.

7. Wenn die Verschiedenheit der Wirkungen von dem Gegensatze zwischen den Ursachen entsteht, so müsse zwischen den Theilen des Körpers, dem Fusse, der Hand, des Kopfes u.s.w. Nicht-Verschiedenheit Statt finden, weil die Ursachen derselben, der Saame, das Blut u.s.w. überall gleichartig ist. Um obigen Einwand zu beseitigen wird gesagt: »In Einem« Körper, »an einem Theile«, hier muss man ergänzen, giebt es solche besondere Anwendungen [438] wie »Kopf, Rücken, Leib, Glieder«. Demnach, wenn die Anwendungen entgegengesetzt sind, so muss auch ein Gegensatz zwischen dem worauf sich die Anwendungen beziehen. »Die Besonderheit von diesem«, der Gegensatz zwischen dem, worauf sich die Anwendungen beziehn, wie Kopf u.s.w. (entsteht) durch die Besonderheiten derselben, durch die besonderen Ursachen derselben (nämlich von Kopf u.s.w.). Auf diese Weise (entsteht) der Gegensatz zwischen den Theilen, wie des Kopfes u.s.w., gleichwie der zwischen einem Topfe, einem Gewebe u.s.w. von dem Gegensatze zwischen den inhärenten Ursachen derselben. Der Gegensatz zwischen den inhärenten Ursachen folgt wiederum aus dem Gegensatze der inhärenten Ursachen dieser letzteren; auf dieselbe Weise muss man, allmälig fortschreitend, dies bis zum dreiatomigen Ganzen behaupten; der Gegensatz in zweiatomigen Ganzen aber ist hervorgebracht durch die Ursachen von dieser und dieser entgegengesetzten Wirkung. Eben so der Gegensatz einiger (Wirkungen) durch den Gegensatz der nicht-inhärenten Ursache, der Verbindung, zu erklären. Das Uebrige ist an einem andern Orte nachzusehen. V.

Fußnoten

1 Der Upaskâra dagegen bezieht das Ausschliessen nicht auf das Begehrte und Verabscheute, sondern auf Wohl und Wehe. Auch meint er, dass das »Und« noch einen anderen Unterschied, nämlich in den Wirkungen von Wohl und Wehe anzeige; nämlich die Wirkung des Wohls ist Gunst, Heiterkeit, Heiterkeit der Augen u.s.w., während das Weh Traurigkeit, Düsterheit des Gesichts u.s.w. hervorbringt.

Quelle:
Die Lehrsprüche der Vaiçeshika-Philosophie von Kaṇâda. In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, Band 22, Leipzig 1868, S. 383–442, S. 436-439.
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