Ab- und Zustreifen

[77] Ab- und Zustreifen von Gütern, Abholen, Abfuhr, Abrollen, Bestättern, Zustellen (carrying; factage, camionnage; presa e consegna a domicilio), das Anfahren der Güter von der Wohnung des Absenders zum Bahnhofe, bzw. die Zuführung der angekommenen Güter vom Bahnhofe zur Wohnung des Empfängers mit Straßenfuhrwerk der Eisenbahn oder einer von ihr damit betrauten Rollfuhrunternehmung (Spediteur). Nach dem Internationalen Übereinkommen über den Eisenbahnfrachtverkehr (Art. 5 und 19) richtet sich die Auflieferung der Güter nach den für die Versandbahn und das Verfahren bei der Ablieferung der Güter sowie die etwaige Verpflichtung der Eisenbahn, das Gut einem nicht an der Bestimmungsstation wohnhaften Empfänger zuzuführen, nach den für die abliefernde Bahn geltenden gesetzlichen und reglementarischen; Bestimmungen.

Das Anfahren der Güter zur Bahn, die Zuführung der angekommenen Güter zur Wohnung des Empfängers innerhalb des Stationsortes und endlich die Weiterbeförderung von Gütern nach einem Bestimmungsort, wo sich keine für die Abfertigung des Gutes eingerichtete Güterabfertigungsstelle (Station) oder Güternebenstelle (nicht an der Eisenbahn gelegene Abfertigungsstelle der Bahnverwaltung) befindet, unterliegt sonach den in den einzelnen Staaten geltenden inneren Vorschriften.

In Deutschland, Österreich und Ungarn kann nach den Bestimmungen der Eisenbahnverkehrsordnung (§ 63, Abs. 8 u. 9) und des Eisenbahnbetriebsreglements (§ 68) die Eisenbahn die Stückgüter (nicht Wagenladungen) innerhalb des Stationsortes oder von benachbarten Orten selbst zum Bahnhofe anfahren oder vom Bahnhofe innerhalb des Stationsortes oder nach benachbarten Orten zur Wohnung des Empfängers gegen eine durch Aushang bekanntzumachende Gebühr selbst zuführen oder Rollfuhrunternehmer dafür bestellen. Die hierbei verwendeten Personen gelten als Leute der Eisenbahn und haftet die Eisenbahn für sie. Den Absendern und Empfängern steht frei, von dieser Einrichtung Gebrauch zu machen oder das Anfahren und Abholen der Güter selbst zu besorgen oder andere Unternehmer damit zu betrauen. Die Eisenbahn kann jedoch dieses Recht der Empfänger (nicht das der Absender) im allgemeinen Verkehrsinteresse mit Genehmigung der Aufsichtsbehörde vorübergehend oder, wenn besondere Verhältnisse es erfordern, dauernd beschränken oder aufheben. Die Überführung nach Räumen der Zoll- oder Steuerverwaltung, die außerhalb der Bahnhöfe liegen, kann die Eisenbahn auch dann selbst besorgen, wenn der Empfänger sich die Selbstabholung vorbehalten hat. Die Fristen für die Zuführung sind durch Aushang an den Abfertigungsstellen bekanntzugeben. Wegen der Weiterbeförderung nach einem Bestimmungsort, wo sich keine Güterabfertigungs- oder Nebenstelle befindet, hat die Eisenbahn die Pflichten eines Spediteurs. Hat aber die Eisenbahn Einrichtungen (z.B. einen ständigen Rollfuhrdienst) zur Weiterbeförderung nach solchen Orten getroffen, so haftet sie bis zum Bestimmungsort als Frachtführer. In Österreich, Ungarn und Deutschland sind Rollfuhrunternehmungen nur in größeren Stationen eingerichtet.

In Belgien erfolgt die Zuführung der angekommenen Güter durch die Rollfuhrunternehmer der Eisenbahn in jedem Falle, wenn nicht im Frachtbriefe vom Absender oder im Tarife der Empfangsbahn etwas anderes bestimmt ist. Auch das Anfahren der Güter zum Bahnhofe wird in großem Umfange geübt.

In Dänemark findet die Zuführung des angekommenen Stückguts auf Stationen, wo[77] bahnamtliche Rollfuhrunternehmer bestellt sind, ohne besondere Bezahlung statt, sofern die Fracht nach Klasse I (Eilgutfracht) oder nach höheren Sätzen berechnet ist, sonst gegen Bezahlung eines Rollgeldes. Will ein Empfänger die Güter auf einer solchen Station selbst abholen, so hat er dies schriftlich anzumelden.

In England ist das bahnseitige. A. in größeren Städten außerordentlich verbreitet.


In London bestehen seitens aller größeren Bahngesellschaften eigene Annahmestellen, die durch ihre (einspännigen) Rollwagen das A. besorgen. Die Güter werden von den Absendern geholt und zur Annahmestelle geführt. Das Einsammeln findet an Wochentagen, mit Ausnahme Samstags, wo nur bis 4 Uhr eingesammelt wird, bis 6 Uhr abends statt. Die letzte Sammelfahrt macht der Rollwagen direkt zum Bahnhof. Die Aufgabescheine übernimmt der Kutscher und bringt sie zur Annahmestelle, wo die weitere Übernahme und Versendung der Güter erfolgt.

In Manchester werden die Güter durch Rollwagen, die Bahneigentum sind, von den Absendern geholt; der mit dem Wagen fahrende Kutscher und ein ihm beigegebener Junge (nipper) übernehmen vom Absender auch die Aufgabescheine etc., übergeben diese am Bahnhof dem Güterbodenvorarbeiter (cheker) und sind bei der Abwäge der Güter gegenwärtig. Die Güter werden hierauf in die bis an die Güterschuppenbühne herangefahrenen direkten Wagen sofort verladen.

In Birmingham werden gleichfalls die Güter zumeist durch bahneigene Rollwagen abgeholt. Jeder Wagen wird von einem Kutscher und einem Buchführer (book-carrier) begleitet, der allein für die Annahme und Behandlung der Güter verantwortlich ist und die Güter in Rollkarten (carriage notes) einträgt. Dieser Buchführer läßt am Bahnhof die Rollkarten mit fortlaufenden Nummern bezeichnen, übergibt sie dem Annahmearbeiter (receiving cheker) und ladet die Güter ab, die dann auf Grund der Rollkarten vom Annahmearbeiter zur weiteren Behandlung übernommen werden.

Ähnliche Verfahren (mit oder ohne besondere Annahmestellen in den Städten) sind auch in Liverpool und Yorkshire in Anwendung.


Die auf den Güterbahnhöfen der größeren Städte Englands angekommenen Güter, die zur bahnamtlichen Abfuhr bestimmt sind, werden gleich in die Rollwagen abgeladen oder aber nach Bestellbezirken zusammengelegt. Das Einladen in die Rollwagen erfolgt auf Grund der Begleitscheine, Ablieferungsscheine oder Ablieferungslisten. Die Eisenbahngesellschaften haben die größeren Städte gewöhnlich in eine Anzahl von Bestellbezirken (delivery districts) eingeteilt und werden die Güter vom Bahnhof aus zugestellt, wobei der Kutscher des Rollwagens die Begleitpapiere übernimmt (Näheres s. Frahm, Das englische Eisenbahnwesen, Berlin 1911).

In Frankreich muß die Versanderklärung, von der jede Sendung mit Ausnahme von Gepäck begleitet sein muß, u.a. auch die Angabe enthalten, ob das Gut in die Behausung zu liefern oder auf der Station abzunehmen ist; fehlt diese Angabe, so wird das Gut in Stationen, wo ein Rollfuhrdienst eingerichtet ist, dem Empfänger in die Behausung zugeführt. Die Eisenbahnen sind auch berechtigt, alle bahnlagernd gestellten Güter, die nicht innerhalb einer Frist von 48 Stunden nach Ablauf der für ihre Abnahme festgesetzten Frist abgenommen werden, bahnamtlich zurollen zu lassen. Die Zufuhr erfolgt nach der Wohnung des Empfängers oder, wenn diese unbekannt ist, nach einem öffentlichen Lagerhaus.

In Italien ist es der Eisenbahnverwaltung überlassen, den Dienst für das Abholen und die Zufuhr der Güter von und nach der Wohnung des Absenders bzw. Empfängers einzurichten. Die Stationen, wo ein solcher Dienst besteht, die Gebühren und die Fristen für die Übergabe sowie die sonstigen Bedingungen werden durch Anschlag verlautbart. Der Absender, der sich dieses Dienstes nicht bedienen will, muß dies im Beförderungsantrag (Speditionsnote, Frachtbrief) in der hierfür bestimmten Stelle unter Eintragung der Worte »in stazione« (bahnlagernd) angeben. Mangels dieser Erklärung hat die Eisenbahn das Recht, die Zufuhr am Bestimmungsort zu besorgen. In den Niederlanden ist die Eisenbahn berechtigt, auf Verlangen des Absenders Eil- und Frachtgüter abzuholen und, sofern dies auf dem Frachtbriefe vorgeschrieben ist, dem Empfänger zuzuführen. Stückgüter, sowohl Eil- als Frachtgut, können durch die Eisenbahn von Amts wegen zugeführt werden, wenn nicht der Absender durch eine Vorschrift auf dem Frachtbriefe, wie z.B. »bahnlagernd«, den Wunsch zu erkennen gegeben hat, daß die Güter durch den Empfänger abgeholt werden. Die Gebühr für das Abholen und Zuführen wird in den Tarifen festgesetzt; doch sind besondere Vereinbarungen mit Absendern oder Empfängern wegen Abholung oder Zuführung ihrer Güter nach einem niedrigeren als dem allgemein geltenden Tarife gestattet, wenn es sich um große Gütermengen oder um ein Abonnement handelt und unter gleichen Umständen dieselbe Vergünstigung jedem anderen gewährt wird. Die Zuführung der Frachtgüter geschieht innerhalb 24 Stunden nach Ankunft auf der Bestimmungsstation. Eilgüter, die am Vormittag ankommen, werden am selben Tage, Eilgüter, die am Nachmittag ankommen, am Vormittag des folgenden Tages zugeführt. Unter außergewöhnlichen Umständen oder bei großem Güterandrang gelten diese Fristen nicht. Vorbehaltlich besonderer Vereinbarung zwischen Absender und Eisenbahn und unbeschadet der Bestimmungen über die Sonntagsruhe werden Eil- und Frachtgüter, die vor 3 Uhr nachmittags angemeldet worden sind, spätestens[78] im Laufe des folgenden Tages von der Wohnung des Absenders abgeholt. Dabei wird Eilgütern der Vorzug gegeben, sofern dies auf den Zeitpunkt des Versands von Einfluß sein kann. Die Abholung und Zuführung durch die Eisenbahn braucht sich nicht weiter als bis zum Umfange des Stationsortes oder im Umkreise von 3 km nach Seitenorten, wobei die Station als Mittelpunkt angenommen wird, erstrecken und müssen die Wohnungen und Geschäftslokale auf fahrbaren Wegen mit Wagen und Pferd zu erreichen sein. Die Verantwortlichkeit der Eisenbahn beginnt, wenn sie die Güter abholt, erst dann, nachdem die Güter nach der Station verbracht und durch Abstempelung des Frachtbriefes als in Empfang genommen zu betrachten sind. Die Prüfung des äußeren Zustandes und die Feststellung des Gewichtes findet auf der Station statt. Entsprechen die Güter nicht allen Vorschriften, so wird der Absender verständigt und bleiben die Güter auf seine Rechnung und Gefahr liegen, bis die Vorschriften erfüllt sind, oder es werden ihm die Güter zurückgegeben.

In Rumänien kann die Eisenbahn, wo sie es für angemessen erachtet, Rollfuhrunternehmer zum Zuführen der Güter zur Behausung des Empfängers oder zum Abführen von der Behausung bestellen. Die Rollfuhrunternehmer gelten als Leute der Eisenbahn. Empfänger, die ihre Güter selbst oder durch andere Rollfuhrunternehmer abholen lassen wollen, haben dies der Station schriftlich anzuzeigen.

In Rußland ist der Finanzminister ermächtigt, die Erlaubnis zur Bildung von Arbeitergenossenschaften zu geben, deren Tätigkeit sich auf das Anfahren der Güter zu den Eisenbahnstationen, die Zufuhr der Güter und das Ein- und Ausladen sowie auch die Aufbewahrung von Gütern erstreckt. Die Benutzung dieser Genossenschaften ist dem Ermessen der Absender und Empfänger anheimgestellt

In der Schweiz hat, wo nicht seitens der Eisenbahn ein Camionnagedienst (Rollfuhrdienst) eingerichtet ist, die Zufuhr und Abfuhr der Güter zum bzw. vom Bahnhofe der Absender bzw. Empfänger zu besorgen. Wo ein Camionnagedienst eingerichtet ist, kommen für dessen Benutzung die durch die Bahnverwaltungen aufgestellten und veröffentlichten Tarife zur Anwendung. Die Frachtgelder begreifen nur die Beförderung der Güter von einer Station zur anderen, nicht aber das Abholen der Güter von der Wohnung des Absenders oder die Bestellung in die Wohnung des Empfängers in sich. Hierfür sind die durch die Tarife oder durch Aushang an den Abfertigungsstellen bekanntzumachenden Gebühren zu entrichten (vgl. Zeitschrift für den internationalen Eisenbahntransport, Zentralamt in Bern, Gesetze und Vollzugsverordnungen in den einzelnen Staaten).

v. Rinaldini.

Quelle:
Röll, Freiherr von: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Band 1. Berlin, Wien 1912, S. 77-79.
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