Betriebsgemeinschaften

[310] Betriebsgemeinschaften (joint working, working agreements; exploitations en commun; esercizio in comune), Vereinigungen, durch die zwei oder mehrere Eisenbahnverwaltungen verabreden, ihre Bahnlinien oder Teile derselben, insbesondere einzelne Bahnhofsanlagen, auf gemeinsame Rechnung zu betreiben.

Zu den ältesten Betriebsgemeinschaften sind wohl die Gemeinschaftsbildungen auf großen Eisenbahnknotenpunkten in England und Nordamerika zu rechnen. Der Wettbewerb der Eisenbahngesellschaften untereinander hat es den Bahnverwaltungen nicht immer zweckmäßig erscheinen lassen, die Betriebsführung von Anschlußbahnhöfen und Anschlußstrecken einer der beteiligten Verwaltungen auf gemeinsame Kosten derselben zu überlassen; über die Verteilung der Kosten hätte man sich wohl geeinigt, aber dadurch würde man noch nicht die völlig unparteiische Betriebsführung erzielt haben. Um diese sicherzustellen, sind vielfach für den Bau und die Verwaltung solcher Verbindungslinien und Bahnhöfe (Junctions, Union Depots) von den beteiligten Eisenbahngesellschaften besondere Aktiengesellschaften gebildet. Die Aktien solcher Gesellschaften befinden sich in den Händen von Vertretern der Eisenbahngesellschaften, von denen die Rechte der Aktionäre und Aufsichtsräte wahrgenommen werden. Dagegen ist in der Regel das Beamtenpersonal solcher Verbindungslinien und Bahnhöfe keiner der anschließenden Eisenbahngesellschaften, sondern dem Direktor der gemeinsam gebildeten Gesellschaft unterstellt, damit es um so unparteiischer die Betriebs- und Geschäftsführung ausübt.

Im übrigen ist fast in allen Ländern der Betrieb von Gemeinschaftslinien und Gemeinschaftsbahnhöfen durch besondere Verträge so geregelt, daß entweder eine der beteiligten Verwaltungen auf Kosten der anderen den Betrieb führt oder daß das Eigentum der einen von der anderen Verwaltung gegen Vergütung mitbenutzt wird (s. Betriebsverträge).

Das wichtigste Gemeinschaftsgebilde im Eisenbahnwesen ist wohl die durch Staatsvertrag vom 23. Juni 1896 gegründete preußisch-hessische Eisenbahnbetriebs- und Finanzgemeinschaft. Durch diesen Vertrag werden die im Besitz des preußischen und des hessischen Staates befindlichen Eisenbahnen nach den Grundsätzen der preußischen Staatseisenbahnverwaltung in verkehrspolitischer und volkswirtschaftlicher Beziehung als ein einheitliches Netz verwaltet. Die Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben, mit Ausnahme der Steuern, die jeder Staat für sich zu tragen hat, sind gemeinsame, der Einnahmeüberschuß wird unter beide Staaten nach einem vereinbarten Maßstabe verteilt. Als Teilungsmaßstab ist auf Grund eines Erfahrungssatzes eine Teilungsziffer ermittelt worden. Die Anlagekosten neuer Eisenbahnen sowie die Aufwendungen für diejenigen Ergänzungen, deren Kosten nicht unter den Betriebsausgaben verrechnet werden, trägt jeder Staat für sein Gebiet. Die Kosten der Vermehrung des Fahrparks werden nach dem Anteil am Betriebsüberschuß auf beide Staaten verteilt. Die so von jedem Staat für sich allein aufgewendeten[310] Kosten werden ihm nach bestimmten Grundsätzen durch Erhöhung seiner Teilungsziffer gutgeschrieben. An der Verwaltung der Gemeinschaft ist Hessen durch einen hessischen vortragenden Rat in der Zentralbehörde der Gemeinschaftsverwaltung, dem preußischen Ministerium der öffentlichen Arbeiten, mitbeteiligt, wie auch bei den Eisenbahndirektionen in Mainz und Frankfurt a. M. hessische Beamte in vereinbarter Zahl bestellt sind. Die Eisenbahndirektion in Mainz führt die Bezeichnung »Königlich preußische und großherzoglich hessische Eisenbahndirektion«, und alle Dienststellen in Hessen werden als »Großherzoglich hessische« bezeichnet. Die hessischen Eisenbahnbeamten werden nach gleichen Sätzen wie die preußischen aus der Gemeinschaft besoldet; über Anstellungs- und Disziplinarverhältnisse der Beamten, die staatlichen Hoheitsrechte u.s.w. sind besondere Vereinbarungen getroffen. Durch die Vereinigung des hessischen Staatseisenbahnbesitzes mit dem großen preußischen Eisenbahnnetze ist die Verwaltung der Eisenbahnen beider Staaten wesentlich vereinfacht und verbilligt; beiden Ländern ist aus der Betriebs- und Finanzgemeinschaft großer Nutzen erwachsen. Insbesondere hat Hessen für seine in die Finanzgemeinschaft eingeworfenen Eisenbahnen sich einen Zinsgenuß von dem aufgewendeten Anlagekapital gesichert, der dem Zinsertrag der ihm benachbarten Staaten mit eigenem, durchweg größeren Eisenbahnbesitz nicht nur nicht nachsteht, sondern ihn nicht unerheblich übertrifft.

Ähnlich ist die B. bezüglich der Main-Neckar-Bahn geregelt. Die Main-Neckar-Eisenbahn, die die Stadt Frankfurt a. M. mit Heidelberg und Mannheim verbindet, ist von der vormaligen freien Stadt Frankfurt a. M. sowie von Baden und Hessen erbaut und befindet sich im gemeinsamen Besitz von Preußen, Hessen und Baden. Sie wurde bis zum Jahre 1902 von einer Gemeinschaftsdirektion für gemeinsame Rechnung der drei Staaten verwaltet. Rechtlich besteht diese Gemeinschaft der Staaten Preußen, Baden und Hessen an der Main-Neckar-Eisenbahn unverändert fort. Äußerlich tritt sie aber seit 1902 nicht mehr in die Erscheinung. Ende 1902 wurde die Gemeinschaftsdirektion aus Ersparnisrücksichten aufgelöst und die Mitverwaltung der Main-Neckar-Bahn durch Staatsvertrag der Eisenbahndirektion in Mainz unter Oberaufsicht der Zentralstelle der preußisch-hessischen Eisenbahngemeinschaft, d.i. des preußischen Ministers der öffentlichen Arbeiten, übertragen. In der genannten Direktion wird seitdem ein großherzoglich badisches Mitglied beschäftigt, wie auch auf den in Baden liegenden Strecken der Main-Neckar-Bahn badische Beamte für Rechnung der betriebsleitenden Verwaltung tätig sind. Die finanztechnische Regelung zwischen der preußisch-hessischen Gemeinschaft und Baden ist nach folgenden Grundsätzen getroffen: Die auf badisches Gebiet entfallenden Verkehrseinnahmen nebst einem Zuschlag für die sonstigen Einnahmen erhält Baden; die Betriebsausgaben auf diesem Gebiet trägt die preußisch-hessische Eisenbahngemeinschaft, der von Baden von seinen Einnahmen ein Anteil vergütet wird, der dem Betriebskoeffizienten der genannten Gemeinschaft entspricht; die Kosten größerer Ergänzungen auf seinem Gebiet trägt Baden allein. Auch diese Finanzgemeinschaft hat einen im Vergleich zu dem nicht umfangreichen Unternehmen erheblichen Nutzen gehabt. Die Betriebskosten sind wesentlich vermindert und die Betriebsdurchführung auf einer verkehrsreichen Linie ist durch die Ausschaltung einer Sonderverwaltung erheblich erleichtert.

In Österreich hat zwischen der jetzt verstaatlichten Kaiser-Ferdinands-Nordbahn und der österr.-ungar. Staatseisenbahngesellschaft eine B. für die Linien Wien-Brünn bestanden. An den Einnahmen aus dem Personen- und Güterverkehr hatte die Nordbahn mit 60%, die Staatseisenbahngesellschaft mit 40% teilgenommen.

Neue Formen von B. sind seit Jahren in Großbritannien in Übung. Die großen Eisenbahnunternehmungen, die sich dort durch Verschmelzung zahlreicher kleinerer mit größeren und leistungsfähigeren Unternehmungen gebildet haben, empfinden das Bedürfnis nach weiterem Zusammenschluß, um den Wettbewerb, der auf benachbarten Linien unter ihnen besteht, zu beseitigen und den ungünstigen Einfluß abzuschwächen, der durch Unterbietung bei den Fahrpreisen und Frachten und durch Schaffung über das Verkehrsbedürfnis hinausgehender Fahrgelegenheit auf die Erträgnisse der einzelnen Eisenbahnen ausgeübt wird. Tief eingreifende Gemeinschaftsbildungen, die zu diesem Zweck unter der Great Northern, Great Central und Great Eastern Eisenbahn vorbereitet waren, haben die gesetzlich vorgeschriebene Genehmigung des englischen Parlaments nicht gefunden, weil die Bildung so großer Bahnsysteme als dem Wohle der Allgemeinheit nicht zuträglich erachtet wurde. Man befürchtete eine allzu große Machtstellung solcher Bahnsysteme. Dagegen hat die Eisenbahnaufsichtsbehörde zu engeren B., die beispielsweise zwischen den London und North Western, Midland und Lancashire und Yorkshire Eisenbahngesellschaften[311] getroffen worden sind, die Genehmigung erteilt. Sie erstrecken sich auf die gemeinsame Verständigung über die planmäßigen Züge auf gewissen Wettbewerbslinien, auf den Übergang von Lokomotiven und Beamten über die Grenzen der Bahngebiete u. dgl. Von der Bildung von Werkstättengemeinschaften hat jedoch abgesehen werden müssen, weil die englischen Konzessionsbedingungen den Eisenbahngesellschaften verbieten, ihre Werkstätten anderen Zwecken als dem Bau und der Unterhaltung ihrer eigenen Fahrzeuge sowie der Herstellung von Baustoffen und Bauteilen für ihren eigenen Bedarf nutzbar zu machen.

Ein vom englischen Parlament im Jahre 1909 zur Untersuchung der Frage des Wettbewerbs eingesetzter Ausschuß schlug in seinem 1911 erstatteten Bericht vor, daß entweder alle Gemeinschaftsverträge vor ihrem Inkrafttreten einer öffentlichen Behörde zur Genehmigung vorgelegt werden, oder daß das Parlament in die Lage gesetzt werde, nachträglich einzuschreiten, wenn sich herausstellt, daß der gemeinsame Betrieb mehrerer bisher als Wettbewerbsunternehmungen betriebener Bahnen Nachteile für die Benutzer der Eisenbahnen mit sich bringt.

In den Vereinigten Staaten von Amerika ist die Bildung von Eisenbahnbetriebsgemeinschaften, die lediglich den Zweck haben, den Wettbewerb zu unterbinden, den Eisenbahngesellschaften in den Konzessionen in der Regel verboten.

Literatur: Deutsche Rundschau. 1896, XXIII, S. 362 f. Fünfzig Jahre preußischer Eisenbahnpolitik. – Ferroviarius, Der preußisch-hessische Eisenbahnvertrag. Stuttgart 1901. – Huber, Auf dem Wege zur Eisenbahngemeinschaft. Stuttgart 1902. – Offenberg, Die preußisch-hessische Eisenbahngemeinschaft. Frankfurt 1911. – Biermer, Die preußisch-hessische Eisenbahngemeinschaft. Gießen 1911. – Ferner verschiedene Aufsätze in der Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen 1912, Nr. 6 u. 7, sowie im Archiv für Eisenbahnwesen und in den Railway News.

Hoff.

Quelle:
Röll, Freiherr von: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Band 2. Berlin, Wien 1912, S. 310-312.
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