Ullstein, Familie

[957] Ullstein. Im Zeitungsviertel Berlins steht ein gewaltiger Gebäudekomplex, von dem ein Haus, Kochstraße 23/24, mit seinem schmucken Uhrtürmchen und der stolzen Sandsteinfassade jedem Berliner als das Haus der Morgenpost bekannt ist. Der Block Charlottenstraße 9-12 und Kochstraße 22-25 ist der Sitz des Ullstein'schen Verlages, dessen weitverzweigte Unternehmungen ihre Blüte zwei Generationen verdanken, dem Begründer des Hauses, Leopold Ullstein, und seinen fünf Söhnen, Rechtsanwalt Hans Ullstein, Louis Ullstein, Dr. Franz Ullstein, Rudolf und Hermann Ullstein.

In knapp 30 Jahren ist das Riesenwerk geschaffen worden. Der Gründer der Firma, Leopold Ullstein, der, von Haus aus Papierfachmann, dem Verlagswesen schon mehrere Jahrzehnte nahe gestanden hatte, übernahm im August 1877 das »Neue Berliner Tageblatt« nebst einer Druckerei und wandelte es bald darauf in die »Deutsche Union« um; an deren Stelle trat am 1. Januar 1878 die »Berliner Zeitung«, der es bald gelang, in Berlin das Organ aller an einer freiheitlichen Entwickelung des Reiches Interessierten zu werden und vornehmlich in kommunalpolitischen Fragen Einfluß zu erlangen. Die »Berliner Zeitung« war ein echt demokratisches Organ, ein Blatt von äußerster Volkstümlichkeit, das stets jene fortschrittlichen Grundsätze vertrat, von dem sich der Verlag in allen seinen Unternehmungen leiten ließ. Die große Anhängerschaft, die es sich erwarb, machte erweiterte Räumlichkeiten nötig und so wurde denn gebaut. In den Jahren 1885/86 erstand das oben erwähnte Gebäude Kochstraße 23/24 und bald wurde noch eine neue Zeitung daneben gegründet, die »Berliner Abendpost«, die sich die Vorzüge des damals geltenden billigen Postzeitungstarifes zunutze machte. Mit ihr stellte sich der Verlag die Aufgabe, den Beamten und kleinen Kapitalisten außerhalb Berlins eine reichhaltige und billige Tageszeitung zu liefern. Obwohl die Berliner Abendpost im Laufe der Jahre mancherlei Nachahmung gefunden und obwohl sie infolge der Erhöhung des Postzeitungstarifs ihren ursprünglichen, beispiellos[957] billigen Bezugspreis von M. 1. – pro Quartal in die Höhe setzen mußte, dringt sie noch immer in jeden Winkel der kleinsten Postorte Deutschlands und ist überall die gern gesehene Botin, die geschickt und knapp über die Weltereignisse berichtet.

Aufwärts ging es. 1889 traten Rechtsanwalt Hans Ullstein und Louis Ullstein in die Firma ein und das Jahr 1891 sah die Begründung einer modernen Akzidenzdruckerei, die 1892 in das Haus Charlottenstraße 9/10 übersiedelte. 1894 kam die »Berliner Illustrierte Zeitung« in den Besitz der Firma und 1898 wurde die »Berliner Morgenpost« gegründet, deren beispielloser Erfolg noch des näheren geschildert werden soll.

Es war dem Senior-Chef noch vergönnt gewesen, das Einschlagen der dem neuen Blatt zugrunde liegenden Idee zu beobachten. Als Leopold Ullstein im Dezember 1899 die Augen schloß, konnte er das Bewußtsein mit hinübernehmen, daß er sein Lebenswerk in guten Händen zurückließ. In der Tat wurde der Verlag planmäßig und zielbewußt ausgebaut. Die alten Unternehmungen wurden weiter entwickelt und neue ihm angegliedert.

»Die Berliner Morgenpost« ist ziffernmäßig die gelesenste aller deutschen Tageszeitungen. 5 Monate nach ihrer Gründung hatte sie die ersten hunderttausend Abonnenten, nach einem Jahr wurde das zweite Hunderttausend erreicht und im 6. Jahre ihres Bestehens wurde das dritte Hunderttausend überschritten und damit ein Rekord im Deutschen Zeitungswesen geschaffen. Die »Berliner Morgenpost« ist aus dem Berliner Geist herausgeboren und wird ohne bestimmte Parteirichtung in volkstümlichem, fortschrittlichem Sinne redigiert. Sie wird ihren Abonnenten im Wochenabonnement – es war dies bei Gründung des Blattes eine für Berlin neuartige Einrichtung – durch eigene Boten ins Haus geliefert. Das macht einen gewaltigen Apparat nötig, zu dem allein 1500 Botenfrauen gehören. Diese Spedition erstreckt sich nicht nur über Groß-Berlin, sondern auch über Vororte, die dazu noch nicht gerechnet werden, nimmt also ein greatest-Berlin voraus.

Legte man das Papier einer Sonntagsnummer der Morgenpost bogenweise aneinander, so ergäbe das eine Strecke, zu deren Bewältigung der schnellste deutsche D-Zug 36 Stunden Fahrt braucht.

Ihr zur Seite ist die »B. Z. am Mittag«, die alte Berl. Zeitung im neuen Gewande getreten, das einzige Mittagsblatt Berlins, das durch den Straßenhandel vertrieben, den Fremden ganz besonders in die Augen fällt und so herauskommt, daß es gerade noch die Anfangskurse der um 12 Uhr beginnenden Berliner Börse bringen kann. Es ist das Organ des modernen Großstädters,[958] das ihm die erst am Morgen oder im Laufe des Vormittags bekannt gewordenen Ereignisse auf politischen und gesellschaftlichem Gebiete meldet. Groß vor allem ist die Gemeinde, welche die reichhaltige Sportbeilage der B. Z. am Mittag um sich versammelt. Hier gibt es keine Parteiunterschiede, denn das Interesse für den Sport nivelliert und demokratisiert.

Eine Klasse für sich bildet die »Berliner Illustrierte Zeitung«, die nicht bloß, was ihre Abonnentenziffer von fast 400000 besagt, an der Spitze aller aktuell illustrierten Wochenschriften steht. Sie ist die verkörperte Aktualität. Ihren Photographen und Zeichnern entgeht nichts, was des Abbildens wert ist und so bildet jede Nummer eine Wochenchronik aller Ereignisse und Personen, die von sich reden machen. Anfang der 90er Jahre bereitete sich jene Wandlung der Illustrationstechnik vor, welche durch die Fortschritte der Autotypie und Momentphotographie bedingt war. In jener Zeit entstand die Berliner Illustrierte Zeitung und wie an Stelle des Zeichenstiftes die Camera, an Stelle des subjektiven Künstlerauges der objektive photographische Apparat trat, das ist bei ihr am besten zu studieren. Und doch hat die Berliner Illustrierte Zeitung auf den Crayon des Zeichners niemals ganz verzichtet, sondern überläßt ihm jene Aufgaben, die ihm vorbehalten bleiben müssen.

Zwei Frauenzeitungen »Dies Blatt gehört der Hausfrau« und »Die praktische Berlinerin« wenden sich in erster Linie als Modeblätter an die Damenwelt, sind aber auch durch praktische Winke aller Art und durch die eigenartigen Ullstein'schen Schnittmuster zu treuen Helferinnen im wirtschaftlichen Leben geworden. Daneben pflegen sie den Roman und sorgen für interessante Unterhaltung. Von »Dies Blatt gehört der Hausfrau« erscheint eine Ausgabe für Oesterreich-Ungarn in Wien, woselbst für diesen Zweck eine Zweigniederlassung der Firma Ullstein & Co. besteht.

Ein ganz neues originelles Unternehmen bildet die »Musik für Alle«, die in monatlichen Heften eine sorgfältige Auswahl der besten Musik aller Zeiten, natürlich auch moderner Musik, bringt und auch über einen vorzüglich redigierten Textteil verfügt.

Durch die letztgenannten Zeitschriften hat die Firma Ullstein & Co. mit dem deutschen Buchhandel enge Fühlung genommen, aber auch auf dem Gebiete des Buchverlages ist sie neuerdings mit hochinteressanten und vielbegehrten Publikationen hervorgetreten. Das größte Unternehmen dieser Art ist »Ullsteins Weltgeschichte«, das sechsbändige illustrierte Prachtwerk, zu dem 26 deutsche Universitäts-Professoren ihre Beiträge geliefert haben.[959]

Dem fortschrittlichen, im besten Sinne modernen Geiste, der den Verlag beseelt, entsprechend, hat sich die Firma immer auf das lebhafteste aller technischen Neuerungen angenommen, alles geprüft und das Beste behalten. In der Druckerei, die nur noch den eigenen Zwecken des Verlagshauses nutzbar gemacht wird, dienen zur Herstellung der Tageszeitungen mehr als 20 Setzmaschinen, über ein Dutzend Zwillings-Rotationsmaschinen und, schon wieder zu deren Ersatz bestimmt, eine rasch wachsende Zahl der in das Riesenhafte getürmten Vierrollenmaschinen, die in der Minute 200 Exemplare einer 8 Bogen starken Nummer auszuwerfen vermögen. Zur Herstellung der Zeitschriften laufen eigens konstruierte Rotationsmaschinen, die z.B. die Riesenauflage der Berliner Illustrierten Zeitung in kürzester Zeit fix und fertig liefern, gedruckt, gefalzt, aufgeschnitten und geheftet. Zur Erzielung einwandfreier Illustrationen sind Lizenzen auf die besten Zurichteverfahren erworben. Die Beleuchtung der Arbeitssäle mit indirektem Bogenlicht erleichtert die Nachtarbeit. Bagger-Werke zum selbsttätigen Beförderung der Papierrollen aus dem Papierlager zur Maschine wirken zeitersparend bei der Drucklegung der Tageszeitungen. Auch die Trocken-Apparate, die die Herstellung der Matern übernehmen und die automatischen Gießmaschinen, die jede Nacht mehrere hundert Druckplatten liefern, sind von der Firma Ullstein & Co. zuerst auf dem Kontinent aufgestellt worden. Auf mehreren Ferndruckern fließen unausgesetzt die Depeschen aus allen Teilen der Welt direkt vom Haupt-Telegraphenamt der Redaktion zu. Ein großer Fuhrpark, dem auch Automobile und Motorräder und gegen hundert Radfahrer dienen, sorgt für eine schnelle Auslieferung der Zeitungen.

Das dreißigste Jahr ihres Bestehens schloß die Firma Ullstein & Co. mit einem Personal von etwa 3000 Personen.

Quellen: Festschrift U. und Co., Berlin 1903.

Quelle:
Rudolf Schmidt: Deutsche Buchhändler. Deutsche Buchdrucker. Band 5. Berlin/Eberswalde 1908, S. 957-960.
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Faksimiles:
957 | 958 | 959 | 960

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