Anstößig

[73] Anstößig. (Schöne Künste)

Man braucht dieses Wort gemeiniglich um dasjenige anzudeuten, was den sittlichen Grundbegriffen entgegen ist; es schiket sich aber eben so gut, einen in der Theorie der schönen Künste wichtigen Begriff auszudrüken, für den man noch kein Wort angenommen hat. Es zeigen sich nämlich in den Werken der Kunst bisweilen solche Fehler, die den nothwendigsten Grundbegriffen entgegen sind, die man deßwegen mit dem Namen des Anstößigen belegen kann; solche Fehler also, über welche niemal ein Zweifel entstehen kann, weil sie geradezu dem entgegen sind, was jederman erwartet.

So ist es in einem Gebäude anstößig, wenn eine Säule, die nothwendig senkrecht stehen muß, überhängt; oder wenn ein Boden, der nothwendig wagenrecht liegen sollte, sich senkt. So auch in andern Sachen ist das Anstößige allezeit dem Wesen der Sachen gerade entgegen. Es geschieht öfterer, als man es vermuthen sollte, daß Künstler das Wesen der Sachen aus dem Gesichte verliehren, und alsdenn mit Zuversichtlichkeit ganz anstößige Sachen zulassen. Am öftersten trifft man dieses in der Baukunst an, wo auch gute Baumeister die wahre Natur, oder die ursprüngliche Beschaffenheit einiger Sachen, aus der Acht lassen. Daher kommt es, daß man so oft das, was seiner Natur nach ganz ist, gebrochen, was nothwendig gerade seyn sollte, krumm, was stark seyn sollte, schwach macht. Gebrochene Giebel, verkröpfte Gebälke, Säulen oder Pfeiler, die nichts tragen, oder von nichts getragen werden. Am meisten kommt das Anstößige in den Verzierungen vor. Man verwandelt Stürze über Camine, die nothwendig ein Gebälke vorstellen müssen, in zwey gegen einander laufende Schnürkel, die in der Mitte durch eine Muschel, oder auch wol durch Eiszapfen mit einander verbunden sind, und man läßt Lasten auf Laubwerk ruhen. [73] Aber die Baumeister sind nicht die einzigen, die in das Anstößige fallen. Man trifft es auch in andern Künsten an. Die Mahler drängen oft eine Menge Personen in einen Raum zusammen, wo sie schlechterdings nicht Platz haben können; sie bringen Licht dahin, wo es unmöglich hinfallen kann; sie zeichnen Figuren in unmöglichen Stellungen. Dahin gehören auch alle Fehler gegen die Perspektive, weil sie alle dem nothwendigen entgegen sind.

In den Schauspielen trifft man das Anstößige oft an. Plautus versetzt seine Zuhörer bisweilen aus Athen nach Rom, oder läßt sie vielmehr zu gleicher Zeit an beyden Orten seyn; auch ist oft eine handelnde Person zugleich der, den er vorstellt, und auch das, was er würklich ist, ein bloßer Comödiant. So ist es anstößig, wenn Sachen, die schlechterdings Geheimnisse seyn sollen, laut ausgerufen werden; wenn in Selbstgesprächen die Personen das Wort an die Zuschauer richten, wodurch sie zugleich allein und doch auch in Gesellschaft sind.

Das Anstößige gehört unter die wichtigsten Fehler, besonders deswegen, weil es die Täuschung, die so oft der vornehmste Grund der guten Würkung eines Werks ist, gänzlich zernichtet. Es beleidiget die Vorstellungskraft so sehr, daß man gezwungen wird, das Auge von dem beleidigenden Gegenstand wegzuwenden. So wie bisweilen ein einziger kleiner Spaß eine sehr ernsthafte Scene lächerlich machen kann; so kann auch das Anstößige, in einem einzigen Theile, die Würkung eines sonst guten Werks völlig auf heben.

Geschikte Künstler fallen blos aus Unachtsamkeit in diesen Fehler, den sie also durch eine strenge Aufmerksamkeit auf die Natur jedes einzelen Theiles ihrer Werke leicht vermeiden. Wer nur auf die Würkung des Ganzen sieht, und sich die Mühe nicht giebt, jeden einzeln Theil in besondere Aufmerksamkeit zu nehmen, kann leicht darein fallen.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 73-74.
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