Stellung

Stellung. (Schöne Künste)

Es liegt in den verschiedenen Stellungen des Leibes eine so große Kraft, daß fast jede Vollkommenheit und jede Schwachheit, jede Leidenschaft, jede Gemüthsart und jeder Charakter durch die Stellung allein kann ausgedrükt werden. Zuneigung, Hochachtung, Mitleiden für andre Menschen, oder Verachtung, Furcht und Abneigung gegen sie, können durch die bloße Stellung des Leibes bewürkt werden. Auch die Unachtsamesten wissen es, daß es freche und bescheidene, hochmüthige und demüthige, fröhliche und niedergeschlagene Stellungen giebt; die sich aber besonders darin geübet haben, die menschliche Seele in dem Körper zu sehen, entdeken bisweilen in der Stellung des Leibes ihre ganze Beschaffenheit. Deswegen ist die bloße Leibesstellung ein wichtiger Gegenstand in den Werken der schönen Künste. Mahler und Bildhauer, Schauspiehler, Tänzer und Redner befinden sich gar oft in dem Fall, den größten Nachdruk ihrer Vorstellungen durch dieses Mittel zu erhalten. Darum ist es eben so wichtig für sie, den Menschen in seinen verschiedenen Stellungen zu beobachten, als auf die innern Bewegungen und Regungen des Herzens Achtung zu geben; und der kennt den Menschen gewiß nur halb, der blos [1110] sein innwendiges kennt. Gar oft überzeuget uns die bloße Stellung von der Aufrichtigkeit oder Falschheit der Versicherungen, die man uns giebt; und oft empfinden wir durch die Stellung mit weit mehr Zuverläßigkeit, oder mit stärkerm Nachdruk, was in dem Herzen der andern vorgeht, als ihre Worte uns sagen können.

Es würde sehr unnüze, oder wol gar ungereimt seyn, dem Künstler die verschiedenen Stellungen nach der darin liegenden mannigfaltigen ästhetischen Kraft mit Worten zu beschreiben, oder ihn belehren zu wollen, wie er in besondern Fällen den Eindruk, den er zu machen hat, durch Stellung bewürken soll. Man muß dieses nothwendig aus eigener Beobachtung wissen. Die Theorie der Künste kann in diesem Punkt nicht weiter gehen, als daß sie die große Wichtigkeit der Sache vorstelle und den Künstler von der Nothwendigkeit überzeuge, sich ein eigenes und angelegenes Studium daraus zu machen, die Menschen in den verschiedenen Stellungen des Leibes genau zu beobachten, und sich zu üben ihre Kraft zu empfinden. Hat er hinlängliche Kenntniß darin erlanget, so wird er auch die Nothwendigkeit einsehen, sich darin zu üben, daß er jede Stellung, die er nöthig hat, in seiner eigenen Person annehmen, oder durch richtige Zeichnungen darstellen könne. Vorschriften helfen hiezu gar nichts. Wenn man sie gelernt hätte, so würde man sie doch bey der Ausübung wieder vergessen müssen, wenn man nichts unnatürliches machen wollte. So urtheilet ein Meister der Kunst so gar über die fünf Haupt-oder Elementar-Stellungen des Tanzes1.

Bey dem mündlichen Vortrag des Redners, hat gar ofte die Stellung eben so viel Kraft zu überzeugen oder zu rühren, als die Worte selbst, und es geschiehet auch nicht selten, daß das, was Redner oder Schauspiehler sprechen, durch ihre Stellung vollkommen wiederlegt wird. Der Schauspiehler besonders hat in seiner ganzen Kunst nichts wichtigeres, als die Stellung. Wenn er dieser Meister ist, so wird ihm alles übrige leicht werden. Man kann beynahe dasselbe von dem Zeichner sagen. Es giebt Stellungen, die uns, wenn wir auch die Gesichtszüge nicht sehen, so bestimmt und so gewiß von dem Charakter, oder von einer vorübergehenden Gemüthslage der Personen unterrichten, daß wir kaum mehr nöthig haben, auf das Gesicht zu sehen. Dergleichen höchst lebhaft schildernde Stellungen trifft man vorzüglich in Raphaels Werken an, deren fleißiges Betrachten nicht nur dem Zeichner, sondern auch dem Schauspiehler und Redner höchstens zu empfehlen ist.

1Les positions sont bonnes à savoir & meilleures encore à oublier: il est de l'art du grand Danseur de s'en écarter agréablement. Au reste toutes celles où le corps est serme & bien dessiné sont excellentes. Noverre Lettres sur la danse p. 278.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1110-1111.
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