Eingang

[300] Eingang. (Beredsamkeit)

Der Eingang der Rede ist dasjenige, was der Redner gleich im Anfang der Rede zu Vorbereitung des Zuhörers und zu Erwekung der Aufmerksamkeit und eines geneigten Gehörs vorträgt. Es ist eine so natürliche Sache, der Rede einen Eingang vorzusetzen, daß auch diejenigen, welche niemal über die Beredsamkeit nachgedacht haben, einen Eingang machen, so ofte sie etwas vor Gerichte vortragen.

In der That hat es widersinnisches, wenn man ohne alle Vorbereitung gleich die Hauptsache vorträgt, und man läuft dabey Gefahr, daß der, mit welchem man zu reden hat, nicht so gleich Achtung gebe, und also den Vortrag der Hauptsache überhöre. Daher kommt es, daß jederman, aus einem dunkeln Gefühl der Nothwendigkeit einer Vorbereitung, so ofte die Unterredung auf einen neuen Gegenstand gelenkt wird, etwas zur Erwekung der Aufmerksamkeit sagt, als: Aber nun auf etwas anders zu kommen: Bey dieser Gelegenheit fällt mir ein; oder etwas dergleichen.

Es giebt aber dennoch Fälle, wo der Redner sich eines förmlichen Einganges überheben kann. Dieses hat allemal statt, wo er weiß, daß der Zuhörer schon hinlänglich vorbereitet ist, ihn anzuhören; wo er der Aufmerksamkeit schon vorher gewiß ist.

Nach der Absicht des Einganges muß der Redner also dadurch den Zuhörer für seine Person, und für seine Sache vortheilhaft einnehmen. Dieses kann auf unzählige Arten geschehen. Quintilian1 setzet dreyerley verschiedene Würkungen, die durch den Eingang können erhalten werden, daß der Zuhörer dem Redner gewogen, daß er aufmerksam, daß er für die Sache eingenommen werde. Die Alten haben die Erfindung eines guten Einganges für so wichtig gehalten, daß die Lehrer der Redner insgemein hierüber sehr weitläuftig sind. Man sehe, um nur ein Beyspiel anzuführen, wie genau Hermogenes in diesem Stük ist.2 Aber die Regeln [300] helfen hier wenig; es kommt alles auf eine gesunde Urtheilskraft des Redners an, und auf eine genaue Kenntnis der Sinnesart seiner Zuhörer in Ansehung der Sache, die er vorzutragen hat. Daß ein Redner Gehör finde, oder nicht; daß er seine Zuhörer überzeuge oder nicht, hänget gar oft von einer kaum merklichen Kleinigkeit ab. Es erfodert einen grossen Kenner des menschlichen Herzens, und in jedem besondern Fall der Personen und der Umstände, um diese Kleinigkeiten, die der Sache helfen oder sie verderben, zu entdeken.

Die Urtheile der Menschen sind gar selten Erfolge der Ueberlegung oder der richtigen Bemerkung der Dinge, von denen die Wahrheit des Urtheils abhängt: in den meisten Fällen entstehen sie aus einem dunkeln Gefühl, auf welches Nebensachen den stärksten Einfluß haben; so daß die meisten Urtheile würkliche Vorurtheile sind. Man hat sehr ofte Gelegenheit sich zu verwundern, wie das, was uns so gar einleuchtend vorkommt, andern unbegreiflich ist; wie das, was wir für so offenbar recht halten, andern ganz unrecht scheinet. Wer nicht zu kurz kommen will, muß sich nicht leicht auf Wahrheit oder Gerechtigkeit verlassen, weil eine Kleinigkeit, ein Gefühl diese verkennen macht.

Da es die Absicht des Einganges ist, solche im dunkeln Gefühl des Zuhörers liegende Hindernisse aus dem Wege zu räumen, oder etwas vortheilhaftes für die Sache des Redners in dasselbe zu legen, so ist offenbar, daß es beym Eingange mehr darauf ankommt das Gefühl, als den Verstand des Zuhörers anzugreifen. Es ist deswegen eine vergebliche Sache, dem Redner Regeln für den Eingang vorzuschreiben. Bisweilen kommt es vielmehr auf den Ton an, worin er anfängt, als auf die Sachen, die er sagt.

Einige Kunstrichter halten den Beschluß für den wichtigsten Theil der Rede,3 oft aber ist es der Eingang; weil die gründlichste oder rührendste Rede nur dann etwas hilft, wenn der Zuhörer Verstand und Gefühl für dieselbe offen behält, welches vornehmlich der Eingang bewürken muß. Es ist also kaum ein Theil der Rede, an dem man die Grösse des Redners besser erkennen kann, als der Eingang. Das große Genie des Cicero zeiget sich vornehmlich in seinen Eingängen, die fast immer sehr glüklich sind.

1L. IV. c. 1.
2Περι ἑυρεσεων L. I.
3S. Beschluß.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 300-301.
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