Beyspiel

[165] Beyspiel. (Redende Künste)

Jede Vorstellung des Allgemeinen durch das Besondere, kann in weitläuftigem Sinn ein Beyspiel genennet werden; in so fern gehören die aesopische Fabel, die Parabel, die Allegorie, zum Beyspiel. In der engern Bedeutung aber ist es ein besonderer Fall, in der Absicht angeführt, daß das Allgemeine der Art oder der Gattung, wozu er gehört, mit Vortheil daraus erkennt werde.

Man bedienet sich des Beyspiels sowol in der gemeinen und täglichen Rede, als in dogmatischen Schriften sehr häufig, um allgemeine Sätze, Regeln, Erklärungen durch dasselbe zu erläutern: so wie die Rechenmeister, wenn sie eine Regel geben, sogleich einen besondern Fall anführen, an dem sie dieselbe Stük für Stük erklären. Die Redner und Dichter haben selten nöthig, Beyspiele in dieser Absicht anzuführen, weil sie selten solche allgemeine und abstrakte Dinge vorbringen, die ohne Beyspiele nicht deutlich genug gefaßt würden. Dennoch brauchen sie das Beyspiel sehr häufig, um dasjenige, [165] was an sich selbst schon verständlich genug ist, mit ästhetischer Kraft zu sagen und recht sinnlich zu machen.

Die Anmerkung, daß jeder des andern Zustand für besser hält, als den seinigen, ist an sich schon verständlich genug; dennoch drükt Horaz sie durch Beyspiele aus:


O! fortunati mercatores, gravis annis

Miles ait, multo jam fractus membra labore.

Contra Mercator navim jactantibus austris,

Militia est potior. –– ––

Agricolam laudat juris legumque peritus

–– ––

Ille –– ––

Solos felices viventes clamat in urbe.1


Die Würkung des ästhetischen Beyspiels ist verschieden. Es kann dienen, die allgemeine Wahrheit, zu deren Behuf es angeführt worden ist, auf eine ästhetische Art zu beweisen, in dem es uns Fälle zu Gemüthe führt, die wir erlebt haben, die uns also die Wahrheit fühlbar machen. Von dieser Art ist das angeführte. Denn wer einige Erfahrung hat, muß dergleichen Reden würklich gehört haben. Diese Art, Wahrheiten, die jeder aus besondern Fällen unmittelbar abnehmen kann, durch Anführung solcher Fälle, als Beyspiele, einzuprägen, ist durch die ganze Beredsamkeit und Dichtkunst von sehr grossem Nutzen. Im Grunde ist es eine Beweisart durch Induktion,2 und die beste Art zu überzeugen. Dergleichen Beyspiele kann man beweisende Beyspiele nennen; insgemein werden viele nach einander angeführt. Man kann sie hinter dem Satz, dessen Beweis sie sind, anführen, oder demselben vorhergehen lassen. Die Geschiklichkeit, solche Beyspiele gut zu wählen, und (nach Beschaffenheit der Umstände) kurz oder naiv oder nachdrüklich oder mahlerisch vorzutragen, ist eines der wichtigsten Talente der Moralisten.

Bisweilen dienen solche Beyspiele, wenn mehrere hinter einander kommen, blos dazu, daß der Leser Zeit habe, sich die allgemeine Wahrheit, an welcher er ohnedem nicht zweifeln würde, durch die Wiederholung derselben, desto sicherer einzuprägen, damit sie unvergeßlich bleibe. Daher werden bisweilen die gemeinesten und bekanntesten Wahrheiten von mehrern Beyspielen begleitet, nur daß der Leser sich dabey aufhalte. Was ist bekannter, als daß der, der einmal gestorben ist, für immer todt ist? Aber Horaz führt Beyspiele davon an:


Cum semel occideris & de te splendida Minos

Fecerit arbitria

Non te Torquate genus, non te facundia, non te

Restituet pietas:

Infernis neque enim tenebris Diana pudicum

Liberat Hippolytum;

Nec Lethæa valet Theseus abrumpere charo

Vincula Pirithoo.3


Man könnte diese Beyspiele verweilende Beyspiele nennen; weil sie durch die Verweilung bey einer bekannten Wahrheit sie tiefer einprägen. Man trift nirgend mehr Beyspiele dieser Art an, als beym Ovidius, dem gleich bey jedem allgemeinen Satz hundert besondre Fälle ins Gedächtniß kommen.

Bisweilen dient das Beyspiel, der Wahrheit, die es enthält, einen Schmuk zu geben, wodurch sie reizender wird. So braucht Horaz, anstatt der vorher angeführten lehrenden Beyspiele, für dieselbe Wahrheit ein andermal naive mahlerische Beyspiele:


Optat ephippia bos piger; optat arare caballus.


Von dieser Art sind auch diese Beyspiele des La Fontaine von der Wahrheit, daß jeder Mensch sucht sich über seinen Stand zu erheben:


Tout bourgeois veut batir comme les grands Seigneurs,

Tout petit prince a des Ambassadeurs,

Tout Marquis veut avoir des pages.


Diese Art des Beyspiels, das der Vorstellung eine besonders kräftige Gestalt oder Farbe giebt, um sie dem Gemüthe desto lebhafter einzuprägen, hat wieder gar vielerley Formen, die sich nicht alle entwikeln lassen. So hat folgende Art des Beyspiels eine ungemeine Kraft. Horaz will die allgemeine Lehre anbringen, daß Ueppigkeit und grosser Aufwand sich nicht einmal durch grossen Reichthum entschuldigen lassen. Anstatt blos allgemein zu sagen: das Geld könnte besser angewendet werden, sagt er dieses in Beyspielen, die er noch dazu in dringenden Fragen vorträgt:


Cur eget indignus quisquam, te divite? quare

Templa ruunt antiqua Deum? Cur, improbe, caræ

Non aliquid patriæ tanto emetiris acervo?4


Die Beyspiele können nach der besondern Absicht, die man dabey hat, allgemeiner seyn, oder aus ganz[166] einzeln Fällen genommen werden; sie können erdichtet oder wahr seyn. Darüber lassen sich keine Regeln geben; Redner und Dichter müssen fühlen, was sich zu ihrer Absicht am besten schiket. Eine besondre Kraft haben die Fälle, da man erst allgemeine Beyspiele anführt, und dieselbe denn noch mit einem einzelen, dem Zuhörer gegenwärtig vor Augen liegenden Fall bestätiget. So kann ein Redner, der von Unglüksfällen gesprochen hat, und denn sich selbst noch als ein besonders Beyspiel anführt, gewiß seyn, Mitleiden zu erweken. Man erwäge, wie rührend folgendes ist: Cum sæpe antea, Iudices, ex aliorum miseriis & ex meis curis laboribusque quotidianis, fortunatos eos homines judicarim, qui remoti à studiis ambitionis otium ac tranquillitatem vitæ secuti sunt, tum vero in his L. Murænæ tantis tamque inprovisis periculis, ita sum animo affectus, ut non queam satis, neque communem omnium nostrum conditionem, neque hujus eventum fortunamque miserari: qui primum, dum ex honoribus continuis familiæ majorumque suorum, unum ascendere gradum dignitatis coactus est, venit in periculum, ne & ea quæ relicta, & hæc quæ ab ipso parata sunt amittat. Deinde propter studium novæ laudis, etiam in veteris discrimen adducitur.5

Je näher vor unsern Augen die Fälle liegen, die als Beyspiele angeführt werden, desto grösser ist ihre Kraft, fürnehmlich aber ist dieses von rührenden und pathetischen Beyspielen zu verstehen. So wie uns ein Unglüksfall, der in einem entfernten Lande sich zugetragen hat, weniger rührt, als der in unserm Vaterlande geschehen, und der am allermeisten, der sich in unsrer Nachbarschaft und vor unsern Augen ereignet; so ist es auch mit den Beyspielen.

1Serm. I. 1.
2S. Beweisarten.
3Od. Lib. IV. 7.
4Sermon. II. 2. 103.
5Cic. Or. pro. Muræna c. 17.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 165-167.
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