Gekünstelt

[444] Gekünstelt. (Schöne Künste)

Man nennt dasjenige gekünstelt, darin die Kunst übertrieben, oder zur Unzeit angebracht ist; es sey daß das Uebertriebene in Ueberfluß von Zierrathen, in erzwungenen Schönheiten, oder in zu weit getriebenem Fleiß bestehe. In jedem Werke der Kunst, das einen Werth haben soll, muß uns ein Gegenstand dargestellt werden, der seiner Natur nach unsre Aufmerksamkeit reitzt. Wir müssen durch den Gegenstand gerührt oder ergötzt werden. Die Künste stellen uns diese Gegenstände entweder durch gewisse Zeichen dar, nämlich durch Worte und Töne; oder sie bilden einen Gegenstand nach der Aehnlichkeit des natürlichen. In allen Fällen kann man sagen, daß die Künste uns Zeichen darstellen, welche in uns die Vorstellungen der bezeichneten Sachen erweken sollen. Also sind in einem Kunstwerk nicht die Zeichen, sondern die bezeichnete Sache dasjenige, was unsre Vorstellungskraft beschäftigen soll. In Werken, die man Gekünstelt nennt, ist mehr in dem Zeichen, als zur Bezeichnung der Sache nöthig ist. Daher wird die Aufmerksamkeit bey solchen Werken von der Sache auf das Zeichen gelenkt, welches der Absicht und Natur der Kunst entgegen ist.

So ist eine Rede gekünstelt, wenn die Gedanken, der Ausdruk, und der Ton der Worte mehr Zierlichkeit, Witz und Wolklang haben, als man natürlicher Weise von einem Menschen, der seine Gedanken und Empfindungen in denselben Umständen ausdrüken würde, erwarten könnte. Denn das was darin zu viel ist, verräth den Künstler, welcher über die Natur hat heraus gehen wollen. Die wahre Kunst ist der richtige Ausdruk der schönen Natur; das Uebertriebene der Kunst oder Gekünstelte giebt der Natur einen Zusatz, der ihr wahres Wesen verstellt.

Weil man also beym Gekünstelten nicht so wol die Natur, als den ihr angehängten Schmuk gewahr wird, so thut es dem Zwek des Werks großen Schaden, und wird deswegen wiedrig. Es hemmt die [444] wesentlichen Vorstellungen, und ist wie Unkraut anzusehen, das die nützliche Saat erstikt, und darum nicht weniger schadet, wenn es schön und frisch wächst. Nam illa, sagt Quintilian1, quæ curam fatentur et ficta atque composita videri etiam volunt, nec gratiam consequuntur, et fidem amittun, propter id quod sensus obumbrant et velut læto gramine sata strangulant.

Man verfällt aber in das Gekünstelte, so wol wenn man den Endzwek der Künste blos im Ergötzen und Gefallen setzet, als wenn man die Gränzen des Aesthetischen überschreiten will, und niemal genug haben kann. Wer alles auf das Ergötzen hinführen will, der übersieht den eigentlichen Gebrauch der Dinge, und macht Gegenstände, die in ihrer einfachen Natur schätzbar sind und deswegen gefallen würden, zu Spielsachen und zu Gegenständen der bloßen Einbildungskraft, die alsdenn natürlich denkenden Menschen nicht mehr gefallen können. Die wahren Gränzen des Aesthetischen werden dadurch bestimmt, daß jede Sache dasjenige sinnlich vollkommen sey, was sie seyn soll; und sie werden überschritten, wenn man einer Sache Annehmlichkeiten anhängen will, die ihr Wesen nicht nur nicht vollkommener machen, sondern wol gar verderben. Zu einer vollkommenen Mannsperson gehört allerdings, außer der Männlichkeit und Stärke des Leibes und Gemüths, auch ein gewisses gutes Ansehen. Man übertreibt aber diese Vollkommenheit, wenn man ihm die Schönheit eines Frauenzimmers geben will; und man zerstöhrt sie ganz, wenn man ihm durch Beraubung der Mannheit ein schöneres Ansehen giebt. Dieses thut der Künstler, der seine Werke gekünstelt macht. Hierbey drükt sich Quintilian in folgender Stelle, die so wol auf andre Künste, als auf die Beredsamkeit paßt, fürtrefflich aus. Declamationes – – – olim jam ab illa vera imagine orandi recesserunt atque ad solam compositæ voluptatem, nervis carent, non alio medius fidius vitio dicentium, quam quo mancipiorum negociatores formæ puerorum, virilitate excisa, lenocinantur. Nam ut illi robur atque lacertos, barbamque ante omnia et alia quæ natura propria maribus dedit, parum existimant decora: quæque fortia, si liceret, forent, ut dura molliunt: ita nos habitum ipsum orationis virilem, et illam vim stricte robusteque dicendi, tenera quadam elocutionis arte operimus, et dum levia sint ac nitida, quantum valeant, nihil interesse arbitramur. Sed mihi naturam intuenti, nemo non vir, spadone formosior erit.2 Die wenigsten Redner erreichen die Vollkommenheit, das, was zur Ueberzeugung dienet, deutlich, kurz und angemessen vorzutragen: mehrentheils verdunkeln sie die wahre Vorstellung der Sache, da sie auf schöne Perioden, oder auf einen witzigen Ausdruk, oder auf eine Musterung und Abwiegung der Sylben und Buchstaben sehen3.

Das Gekünstelte in allen Theilen der Künste ist ein Fehler, in den die Alten, vornehmlich die Griechen, unendlich seltener gefallen sind, als die Neuern. Es ist unter den römischen Kaysern, so wol in den redenden als bildenden Künsten aufgekommen, nachdem eine bis zur Abscheulichkeit übertriebene Ueppigkeit in der Lebensart, diese Herren der ganzen Welt überall von dem natürlichen Gebrauch der Dinge abgeführt hatte. So wie man damals bey den Mahlzeiten kaum mehr daran dachte, dem Leib eine gute Nahrung zu geben, sondern den Geschmak auf die mannigfaltigste Art zu kützeln, so gieng es bey gar allen natürlichen Bedürfnissen. Den Gebrauch der schönen Künste verlohr man ganz, und machte sie ebenfalls zu Handlangerinen der Ueppigkeit. Die natürliche Schönheit, Vollkommenheit und Stärke jedes Gegenstandes der Kunst, wurde durch den gekünstelten Schmuk verdrängt, und viele nehmen ietzo viel lieber diese verfallene Kunst zum Muster, als die edle Einfalt der alten Griechen.

1In prœm. L. VIII.
2Quint, Inst.
3S. Sextus Emp. advers. Mathem. p. 74.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 444-445.
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