Einfalt

[294] Einfalt. (Schöne Künste)

Die Einfalt ist im allgemeinesten Verstand der Mangel der Theile, oder die Unzertrennlichkeit eines Dinges. In Gegenständen des Geschmaks drükt man durch dieses Wort den Mangel oder die Abwesenheit aller Zufälligen, durch Kunst hereingebrachten Umständen aus. Man schreibt einer Sache eine edle Einfalt zu, entweder wenn die Würkung die sie thun soll, durch wenige Umstände erhalten wird, oder auch, wenn sie nur durch das Wesentliche, so in ihr ist, gefällt, und alle zufällige Verschönerungen wegbleiben. So schreibet man einer körperlichen Form oder Figur eine edle Einfalt zu, wenn sie, wie die meisten antiken Vasen oder Krüge blos durch ihre Gestalt und sanfte Umrisse angenehm in die Augen fallen, ohne daß sie durch ausgeschweiffte Zierathen, durch kühn geschlungene Handgriffe oder daran gesetztes Schnizwerk einen mehrern Grad der Mannigfaltigkeit haben. In einem Gebäude bemerkt man die edle Einfalt, wenn die ganze Masse desselben eine einzige, untheilbare, wol in die Augen fallende Figur vorstellt, an welcher ausser den wesentlichen Theilen keine zufällige Zierathen angebracht sind. Von dieser Art ist das Pantheum oder die sogenannte Rotonda in Rom. In einer Rede herrscht eine edle Einfalt, wenn mit Weglassung aller zufälligen Verschönerungen nur die dem Zwek des Redners wesentlichen Vorstellungen kräftig und wol vorgetragen werden. In den Sitten und in dem Betragen eines Menschen herrscht edle Einfalt, wenn er in allen Umständen nach einem wahren und richtigen Gefühl ohne Umschweiffe den geradesten Weg so handelt, wie die Natur der Sache es mit sich bringt. In einem ganzen System herrscht Einfalt, wenn alles darin nach einem einzigen Grundsatz geschieht [294] oder vorhanden ist. Es giebt demnach in den Werken des Geschmaks eine doppelte Einfalt, nämlich die Einfalt des Wesens, und die Einfalt in dem Zufälligen. Man kann sich von diesen beyden Arten der Einfalt einen deutlichen Begriff machen, wenn man sich zwey Uhren vorstellt, welche gleich richtig die Zeit anzeigen, deren eine aber aus weit weniger wesentlichen Theilen oder Rädern bestünde, als die andre. Die die wenigsten Räder hat, ist einfacher im Wesen. Aber auch in den zufälligen Gestalten der Theile kann die eine einfacher seyn, als die andre, je nachdem die wesentliche Theile durch mehr oder weniger kleinere zufällige Theile verziert sind oder nicht. Dies wäre die Einfalt in zufälligen Dingen.

Der Einfalt des Wesens wird die Verwiklung desselben entgegengesetzt, da eine Sache aus mehrern wesentlichen Eigenschaften muß beurtheilt werden, wie die Handlungen eines Menschen seyn würden, der nach vielerley Maximen zugleich handelt.

Der Einfalt in dem Zufälligen ist das künstlich verzierte, das gesuchte, entgegengesetzt, wo man künstliche Veranstaltungen zu Einmischung zufälliger Umstände wahrnimmt. Doch kann man Fälle bemerken, wo dieses Zufällige so natürlich und ungezwungen mit dem Wesentlichen verbunden ist, daß die edle Einfalt weniger zu leiden scheint. So sind überhaupt die Fabeln des Phädrus von einer edeln Einfalt, weil er nichts, als das Wesentliche der Handlung vorstellt; da hingegen La Fontaine sehr viel zufälliges beymischt, welches aber an einigen Orten so natürlich geschieht, daß man beynahe die Kunst und die Veranstaltungen zu einer unnöthigen Auszierung darüber vergißt.

Daß der gute Geschmak ein großes Gefallen an der edlen Einfalt habe, ist aus der Erfahrung bekannt, wiewol man die Gründe dieses Wolgefallens wenig entwickelt hat. Die edle Einfalt hält sich an dem Wesentlichen einer jeden Sache. Deßwegen ist alles, was sich in dem Gegenstand befindet, nothwendig da, es ist da nichts, das man davon thun könnte, alle Theile passen ohne Zwang an einander, nichts ist überflüßig; nichts das die Vorstellungskraft von dem Wesen des Gegenstandes ableitet, die Absichten werden durch den kürzesten, geradesten und natürlichsten Weg erreicht. Ein solcher Gegenstand ist demnach höchst vollkommen, weil alles darin auf das strengste zusammenstimmt. Man fühlt den Grund eines jeden Umstandes, der, weil er in dem Wesen der Sache gegründet ist, nicht anders oder besser seyn könnte. Die Vorstellungskraft wird nirgend aufgehalten, sie findet nichts auszusetzen. Alles, was zum Gegenstand gehört, macht ein völlig vollkommenes Ganzes aus. Man wird so wenig Kunst gewahr, daß man glaubt, die Natur selbst habe nach der vollkommensten Anwendung ihrer Gesetze den Gegenstand hervorgebracht. Kurz die edle Einfalt ist der höchste Grad der Vollkommenheit.

Es liegt aber in der Natur des guten Geschmaks, daß wir gerne den geradesten Weg gehen, daß wir das unnütze und überflüßige, wo wir es einsehen, gern entfernen möchten, daß wir gerne fühlen oder einsehen, warum jedes Ding da ist; und daß es uns angenehm ist die Verbindung zwischen dem Wesen und den Eigenschaften der Dinge zu sehen. Alles dieses finden wir bey den Gegenständen, darin die edle Einfalt herrscht. Sie muß insonderheit denjenigen Vergnügen erweken, deren natürliche und richtige Art zu denken mit Gegenständen der ausschweiffenden Kunst öfters ist beleidiget worden. Denn da solche Werke ihrer Vorstellungskraft einen beständigen Zwang angethan, so fühlen sie sich bey Betrachtung der Werke von edler Einfalt erleichtert. Das Andenken der Mühe, so ihnen das gezwungene und verworrene so ofte macht, erhöhet die Lust an der edlen Einfalt der Natur. Niemand wird so sehr die Wollust einer edlen Einfalt in der Lebensart und dem Umgang fühlen, als der, welcher den Zwang einer künstlich abgepaßten mit willkührlichen Anständigkeitsgesetzen beschwerten Lebensart recht gefühlt hat.

Wer in diesem besondern Fall die edle Einfalt der Natur mit dem gesuchten und gekünstelten Wesen vergleichen will; wer die Regeln einer abgepaßten Lebensart, darin Höflichkeiten, willkührlich eingeführte Ceremonien und weithergesuchte Gesetze herrschen, die weder in der Natur unsrer Bedürfnisse, noch in der natürlichen Zuneigung und Wolgewogenheit der Menschen gegen einander gegründet sind, und die man nur durch das Gedächtniß erlernen kann; wer dieses, sage ich, mit einer ganz einfachen Lebensart vergleichet, da jeder Mensch den Eindrüken der Natur folget, seine natürlichen Bedürfnisse und Gesinnungen auf eine edle Weise an den Tag legt, seine Gewogenheit, Zuneigung, seine Hülfe oder Abhänglichkeit [295] gegen andre geradezu, aber auf eine edle Art erkläret; der wird sowol die Natur der edlen Einfalt überhaupt, als ihren unendlichen Werth über das gekünstelte und überladene lebhaft empfinden.

Wer bey einem richtigen und geübten Verstand der Natur treu geblieben ist, der wird so wol in seinem Betragen, als in seinen Reden und Werken, diese edle Einfalt zeigen. Dies ist der allgemeine Charakter der ältesten griechischen und römischen Schriftsteller und Künstler, wodurch sie sich vornehmlich von den neuern unterscheiden. Ein gewisser Beweis, daß die edle Einfalt eine Würkung der unverdorbenen Natur sey. Erst zu der Zeit, da in Athen und Rom durch den Verlust der natürlichen Freyheit, unnatürliche Mittel den Großen und den Regenten zu gefallen nothwendig wurden, kam eine gezwungene Art zu denken auf, die sich nach und nach aus der Lebensart in die Werke der Kunst einmischte.

In den neuern Zeiten hat das willkührliche und gezwungene die Natur so sehr verdrängt, daß die Gesichtszüge, die Leibesstellungen, die Gebehrden, die Reden, das ganze Betragen eines Menschen, nach willkührlichen oder doch weithergesuchten Regeln der Kunst müssen abgepaßt werden. Aus dieser Ursach ist auch die edle Einfalt in den Werken der Kunst so selten, als das Erhabene. Und weil die mit Mühe erlernte Kunst beynahe schon zur andern Natur geworden ist, so ist so gar bey vielen Menschen das natürliche Wolgefallen an der edlen Einfalt erloschen. Man vermißt die Einfalt in den Gebäuden, in den Werken der bildenden Künste, in den Gemählden, in der Beredsamkeit, Dichtkunst und Musik. Das weitläuftige, überflüßige und willkührliche hat so wol in den Sitten, als in den Werken der Kunst so sehr überhand genommen, daß man gar oft Mühe hat, das wenige natürliche darin zu erkennen. Wie viel, sowol ganze Gebäude, als einzele Zimmer, sieht man nicht, wo unnütze oder gar widernatürliche Zierrathen die Augen so sehr auf sich ziehen, daß man vergißt auf das Wesentliche zu sehen. So sucht mancher Dichter, durch kleine Zierrathen der Harmonie und witzige Bilder sein Lied mit so viel Glanz zu überstreuen, daß man darüber den Hauptinhalt desselben vergißt, so wie man über einer üppig reichen Kleidung vergißt, daß ein Mensch darunter stekt. Man kann ofte für allem Glanz der Farben und allem Witz und falscher Lebhaftigkeit in den Gesichtszügen und Stellungen der Personen, die Geschichte selbst nicht sehen, die das Gemählde vorstellen soll.

In der edlen Einfalt besteht die wahre Vollkommenheit eines jeden Werks der Kunst. Jedes soll etwas vorstellen, das ist, in der Einbildungskraft oder dem Herzen der Menschen einen gewissen bestimmten Eindruk machen. Alles was diesen Eindruk nicht befördert, ist der Absicht der Kunst entgegen; was aber ihn gar hindert, ist ein Zeichen des Unsinnes in dem Künstler. Es ist ihm deswegen keine Sache ernstlicher anzupreisen, als die Bestrebung nach der edlen Einfalt. Könnten wir in unsern Künsten die Einfalt der Natur wieder erhalten, so würde sie sich gewiß von da auch wieder über die Sitten ausbreiten. Ohne Zweifel haben die von der edlen Einfalt abgewichenen Künstler zu dem verdorbenen Geschmak in dem Leben des Menschen das ihrige beygetragen. Die Tanzmeister haben viel steiffe und unnatürliche Leibesstellungen aufgebracht. Verschiedene sehr abgeschmakte Zierungen, und das gezwungene Spiel der Hände, der Augen und des Mundes, haben einige Personen des schönen Geschlechts von den Schauspielerinen gelernt. Die abgeschmakte Art der Auszierungen der Zimmer, der Hausgeräthe, hat man den Zeichnern und Baumeistern zu danken; und die ekelhafte Rafinirung im Ausdruk der Empfindungen und so viel gezwungenes und verstiegenes in dem Ausdruk der Rede, haben einige Dichter aufgebracht. Dieses mannigfaltige Verderben in der Lebensart und den Sitten können Künstler von reinem Geschmak wieder hemmen, und auch das verlohrne Gute wiederherstellen. Die Mahler und Bildhauer können die Begriffe von der ursprünglichen Schönheit der menschlichen Gestalt wieder aufweken. Die Tänzer und Schauspieler können das wahrhaftig Schöne und Edle in den Minen, Manieren, Gebehrden und Bewegungen einpflanzen. Die Dichter können die Sitten, die Handlungen, die Charaktere, die Tugenden, alles Liebenswürdige der einfachen Natur denen kennen lehren, die sie in der menschlichen Gesellschaft nicht mehr antreffen.

Es muß aber einem heutigen Virtuosen sehr viel schweerer werden, der edlen Einfalt der Natur zu folgen, als es den Alten geworden ist. Diese durften sich nicht erst aus dem verdorbenen Geschmak [296] ihrer Zeit loswikeln. Man war damals in den Geschäften des Lebens und im Zeitvertreib einfacher, als die heutige Welt ist. In unsern Tagen erfodert es einen guten Verstand und ein scharfes Nachdenken, um das zu erreichen, was den Alten so leicht und so geläufig war. Die folgenden Anmerkungen können dienen, den Künstler auf die Spuhr der edlen Einfalt zu bringen.

Diese liebenswürdige Eigenschaft der Kunst kann sich in einem Werk auf verschiedene Weise zeigen. Sie erstrekt sich von dem allgemeinen oder ersten Entwurf des Kunstwerks, bis auf die kleinesten Ausbildungen desselben. Die besten Werke der Kunst sind fast durchgehends die einfachesten in der Anlag' und im Plan. Man kann den ganzen Plan der Ilias in wenig Worten vollkommen ausdrüken. Sophokles und vornehmlich Aeschylus haben ihre besten Trauerspiele nach so sehr einfachen Planen eingerichtet, daß man sie mit unverwandten Augen gar vollständig fassen kann. Zwischen drey, vier, höchstens fünf Personen, die sich nicht sehr weit von der Stelle bewegen, geht eine sehr wichtige Handlung vor, darin sich ihre Charaktere vollkommen entwikeln. Eben so sind die vollkommensten Gemählde der größten Meister von den wenigsten Figuren, und meistens von einer einzigen ganz einfachen Grupe. Die feinesten Gebäude der Alten machen nur eine, und sehr einfache Masse, einen Würfel, oder einen oben abgeründeten Cylinder aus, den man auf einmal mit der größten Leichtigkeit in das Auge faßt. Sie suchten das Grosse nicht in einer überflüßigen Menge der Theile, sondern in der innerlichen Grösse, in der Vollkommenheit, in der vollkommensten Figur des Ganzen. Freylich haben auch große Meister sehr reich zusammengesetzte Werke gemacht: aber nur denn, wenn der Inhalt die Menge der Theile ganz nothwendig machte; denn die an Gegenständen so sehr reiche Ilias ist im Plan höchst einfach; alles fließt aus einem einzigen Hauptbegriff. Wenn Poußin die Sammlung des Manna in der Wüste vorstellen mußte, so konnte er sich mit wenigen Figuren nicht behelfen.

Damit aber der Künstler die möglichste Einfalt in seinem Plan erreiche, nachdem er den Inhalt gewählt hat, so bedenke er wol, daß sein Werk im Ganzen betrachtet, allemal eine einzige bestimmte Hauptvorstellung erweken müsse. Ueber diese Hauptvorstellung muß er sich auf das bestimmteste selbst Rechenschaft geben können. Hat er dieses gethan, so denke er der Natur dieser Vorstellung so lange nach, bis er ihr ganzes Wesen entdeket hat, damit er über alles, was nothwendig dazu gehört, was ohne Entkräftung oder Verstellung derselben nicht wegbleiben kann, völliges Licht habe. Alsdenn entferne er alles, was nicht nothwendig zum Wesen der Sache gehört, er suche dieses nothwendige auf die beste Weise in seinen Plan zu bringen; so wird ihm die edle Einfalt nicht fehlen. Der Mangel derselben im Plan kommt meistentheils daher, daß der Künstler entweder seine Materie sich nicht bestimmt genug vorgestellt, und daher unnütze, zufällige oder gar streitende Dinge mit eingemischt hat, oder daß er nur überhaupt durch Anhäufung mancherley Gegenstände die Einbildungskraft andrer in eine unbestimmte Bewegung setzen will. Nicht nur alles, was das Hauptintresse des Inhalts gar nicht unterstützt, sondern auch das, was nicht unumgänglich dazu gehört, muß, wenn man die edle Einfalt erreichen will, als schädlich verworfen werden.

Auch in der Anordnung kann diese grosse Eigenschaft mehr oder weniger erreicht werden. Die Sachen können sich mit mehr oder weniger Leichtigkeit und Nothwendigkeit zusammen passen. Wenn nicht jeder Theil den Ort einnihmt, der dem Wesen der Vorstellung der gemäßeste ist, so leidet die edle Einfalt darunter.

In den Charakteren, Handlungen und Reden der Personen, die in das Werk kommen, wird die edle Einfalt auf eine ähnliche Art erreicht. Der Mensch ist in seinem Charakter und in seinen Handlungen einfach, der durchaus nach wenigen Hauptbegriffen handelt, deren Einfluß man in seinem ganzen Thun und Lassen entdekt.

In der Rede kann die Einfalt so wol in den Gedanken, als in dem Ausdruk statt haben. Man erreicht sie in den Gedanken, wenn man glüklich genung ist den einzigen herrschenden Begriff1 zu entdeken, aus dem alles, was man zu sagen hat, entsteht, oder auf den alles kann zurükgeführt werden. Der Redner, der in der Vertheidigung eines Beklagten, dem vielerley Dinge Schuld gegeben werden, in dessen Charakter, oder in irgend einer zur Klage gehörigen Sache, etwas entdeket, wodurch alle Punkte der Klage zugleich können widerlegt werden, wird seiner Vertheidigung ohne Mühe die höchste Einfalt geben können. Die Vertheidigung [297] der Andromache, die an einem andern Ort2 angeführt worden ist, kann hier als ein Beyspiel gebraucht werden; in dem einzigen Begriff von der Person und den Umständen der Andromache liegt alles, was zu ihrer Vertheidigung kann gesagt werden. Nichts ist für den Redner in allen Gattungen der Reden wichtiger, als den Hauptbegriff zu entdeken, auf den alles ankommt; denn wo man diesen gefunden hat, da entsteht die Einfalt von selbst.

Die Einfalt des Ausdruks besteht darin, daß man jeden einzeln Gedanken geradezu, und nur in so viel Worten ausdruke, als nöthig sind ihn richtig zu fassen: dieses aber können nur Menschen von der gesundesten und richtigsten Beurtheilungskraft. Diese Einfalt muß vorzüglich da herrschen, wo das Wesentliche der Gedanken völlig hinlänglich ist, das Gemüth ganz einzunehmen. Es ist damit so, wie mit jeder Ausbildung eines einzelen Theiles beschaffen; alles kommt dabey auf die einzige grosse Regel an; So viel, als nothwendig; wenn nur der Künstler das Nothwendige einsieht. Nicht nur alle Zierathen, alle witzigen Einfälle, alles glänzende in den Farben, alles wolklingende in den Worten, das blos die Menge der Theile vermehrt, ohne die Hauptvorstellung zu verstärken, muß wegbleiben, sondern auch alles das, dessen Abwesenheit keinen würklichen Mangel gebiehrt. Wenn ein gewisser Wolklang der Worte, ein gewisses Leben der Farben, ein gewisser Nachdruk der Gedanken, eine gewisse einfache Verzierung eines Haupttheiles hinlänglich ist, die Vorstellung zu erweken, die der Absicht gemäß ist, so hüte man sich ihr mehr Glanz zu geben; denn das mehrere würde nur blenden, man würde den Glanz fühlen, und die Beschaffenheit der glänzenden Sache nicht mehr sehen, so wie der, welcher in die hellscheinende Sonne sehen will, ihre scheinbare Grösse und runde Figur nicht wahrnehmen kann.

In manchen Fällen ist die edle Einfalt der Gewohnheit so sehr entgegen, daß der Künstler auch da, wo er sie erreichen könnte, sich scheuet es zu thun, aus Furcht den herrschenden Geschmak zu beleidigen. Man ist in der Baukunst gewisser, der Einfalt entgegen streitender, Verzierungen an einigen Orten so gewohnt, daß auch die Baumeister, die es besser wissen, sich von der Gewohnheit hinreissen lassen. Dies sollte aber keinen abhalten der Natur zu folgen. Es sind immer noch Kenner vorhanden, die sein Werk zu schätzen wissen, wenn der grosse Haufen es verachtet. Das Wesentliche der Sachen ist unveränderlich; das Zufällige aber ist der unaufhörlichen Abwechslung der Moden unterworfen. Der Künstler also, der allen Menschen und durch alle Zeiten gefallen will, muß sich am Wesentlichen halten, folglich der edlen Einfalt befleißen.

1Notio directrix.
2S. Beweis S. 159
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 294-298.
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