Glied

[487] Glied. (Schöne Künste)

Ein kleiner unabsonderlicher, aber für sich merkbarer, Theil eines Ganzen; oder ein solcher Theil, der zwar durch seine eigene Form sich von andern unterscheidet, aber ausser seinem Zusammenhange mit dem Ganzen, oder für sich, nichts bestimmtes ausmacht. Ein Ganzes kann Theile von verschiedener Art haben. Denn es können einige so beschaffen seyn, daß sie vom Ganzen abgerissen, für sich noch ein Ganzes ausmachen. So ist ein einzeles Haus ein Theil einer Stadt, ein Zimmer ein Theil eines Hauses, eine Periode ein Theil der Rede. Wenn aber der abgerissene Theil für sich nichts Vollendetes ausmacht, so ist er ein Glied des Ganzen. Von dieser Art ist ein Finger, eine Hand, die erst alsdann etwas bestimmtes sind, wenn sie in der Verbindung mit dem Ganzen stehen. So ist eine Sylbe ein Glied eines Worts; und der Theil der Rede, der keinen vollendeten Sinn hat, sondern nur einen Theil desselben enthält, ist ein Glied der Periode. In dem Gesang ist eine Periode, die sich mit einer Cadenz schließt, ein für sich bestehender Theil, die einzeln Tonfüße und kleinere Einschnitte, sind Glieder desselben. Im Tanz ist eine ganze Figur ein Haupttheil, einzele Schritte aber sind die Glieder desselben.

Vermittelst der Glieder unterscheiden sich die Theile eines Ganzen von einander, und erweken da durch die Empfindung des Mannigfaltigen in Einem, und der Verhältnisse der Theile. Gegenstände, welche die Sinnen und die Phantasie beschäftigen, können ohne diese Mannigfaltigkeit der Theile und Glieder nicht gefallen, weil sie ausser dem nichts an sich haben, das unsre Aufmerksamkeit reitzen könnte. Das durchaus Einförmige, das wie eine gerade Linie keine würklichen, sondern blos eingebildete Theile hat, kann nicht gefallen. Ein dunkles Gefühl der Nothwendigkeit der Glieder in dergleichen Gegenständen, hat sie ohne Vorsatz und Ueberlegung in alle menschliche Werke gebracht, die Gegenstände des Geschmaks seyn können. In der Sprache, in den Gesängen und Tänzen der unwissendesten Völker, sind Glieder von mancherley Art entstanden; denn jeder Mensch fühlt, daß ein Gegenstand, der durchaus einerley ist, die Aufmerksamkeit nicht fest halten, folglich nicht lange gefallen könne.

Hieraus läßt sich begreifen, wie aus geschikter Zusammenfügung größerer und kleinerer Glieder von verschiedener Art, in der Sprache, in dem Gesang, in Bewegung, in körperlichen Formen, ein wol geordnetes Ganzes entstehe, in welchem, wie in dem menschlichen Körper, Harmonie, Ordnung, Mannigfaltigkeit und angenehme Verhältnisse statt haben. Man muß es als eine Folge dieser Anmerkung ansehen, daß die Alten die Form des menschlichen Körpers, als das vollkommenste Muster der Gebäude, angegeben haben; denn sonst begreift man nicht, was für Gemeinschaft diese beyden Dinge mit einander haben.

Da aus der vollkommenen Zusammenordnung der Glieder des Körpers ein so schönes Ganzes entsteht, so kann man die Vollkommenheit dieser Form zum allgemeinen Muster aller Schönheit angeben. Die Harmonie der Sprach und des Gesanges entsteht aus ihren Gliedern eben so, wie die Harmonie der Figur aus den ihrigen. Aber der Ursprung der Schönheit, aus der Harmonie der Glieder, läßt sich unendlich leichter empfinden, als beschreiben. Der, welcher in allen Arten das Schöne der Phantasie erreichen will, muß die vollkommene Zusammensetzung der menschlichen Gestalt aus ihren Gliedern, die höchste uns bekannte Schönheit, so oft und so gründlich gefühlt haben, daß seine Einbildungskraft durch den allgemeinen darin herrschenden Geschmak geleitet wird. Wenn einer der alten griechischen Meister, welche die höchste Schönheit der Formen überall erreicht haben, oder wenn Raphael unter den Neuern, seine Empfindungen hierüber der Welt mitgetheilt hätten, so wären wir vielleicht im Stande, die beste Zusammenfügung der Glieder zu beschreiben. Itzt können wir nur wenige Worte über diese geheimnisvolle Materie stammeln.

Die Glieder eines vollkommenen Ganzen müssen von mannigfaltiger Größe und von eben so mannigfaltiger Gestalt seyn; sie müssen von einander unterschieden und doch so unzertrennlich an einander verbunden seyn, daß man nirgend kann stille stehen; [487] man muß durch einen unwiderstehlichen, aber sanften Zwang genöthiget werden, von einem zum andern zu gehen, und im Ganzen muß kein Theil als einzeln erscheinen. Man muß Theile bemerken, und wenn man sie einzeln fassen will, müssen sie sich in der Maße des Ganzen verliehren. Alles muß so in einander geschlungen seyn, daß die Vorstellungskraft nirgendwo würklich ruhen, oder stille stehen kann, als bey der Betrachtung des Ganzen. Aber in den Verbindungen selbst muß eben die Mannigfaltigkeit herrschen, als in den Gliedern. Sie müssen immer enge, kaum fühlbar, und doch von merklicher Würkung, aber von verschiedenen Graden seyn.

Nach dergleichen Gesetzen giebt der Redner seinen Perioden einen harmonischen Klang, wodurch das Ohr so gereizt wird, wie das Aug durch die schöne Form. Der Tonsetzer schlinget so seine Töne in einen, auch ohne Rüksicht auf den Ausdruk, schönen Gesang. Der Tänzer setzet aus seinen Elementen die schöne Bewegung zusammen, und nach eben denselben bringt der zeichnende und bildende Künstler nicht nur seine Formen hervor, sondern auch die Schönheit der Zusammensetzung, und die Harmonie der Farben entstehen aus derselben Quelle.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 487-488.
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