Ist in längern Tonstüken, in welchen der Gesang durch verschiedene Töne hindurch geführt wird, derjenige Ton, der vorzüglich darin herrscht, und in welchem das Stük anfängt und sich auch endiget. Es ist anderswo1 gezeiget worden, daß jeder Ton seinen Charakter habe, und daß ein geübter Setzer nach dem Affekt oder nach dem Charakter, den das Stük haben soll, den Ton wählen müsse, der sich dazu am vorzüglichsten schiket.
Von diesem Hauptton muß das Gehör gleich anfangs eingenommen werden, und erst, wenn dieses geschehen ist, wird der Gesang durch eine gute Modulation allmählig in andre Töne herüber geführt, die man Nebentöne nennen kann, zuletzt aber wieder in den Hauptton zurükgebracht, in welchem das ganze Stük geschlossen wird.
Es ist eine nothwendige Regel der guten Modulation, daß der Hauptton nicht ganz aus dem Gehör komme, oder, wenn es geschieht, daß das Gefühl desselben von Zeit zu Zeit wieder erneuert werde. Denn da ein Tonstük durchaus denselben Charakter behalten muß, zu dessen Bezeichnung der Hauptton das seinige beyträgt, so könnte diese Einheit des Charakters nicht erhalten werden, wenn dieser Ton aus dem Gehör ganz ausgelöscht würde. Man mag also in der Modulation ausschweifen, so weit man will, so muß man immer von Zeit zu Zeit den Hauptton wieder berühren, damit bey der Mannigfaltigkeit, die durch die Modulation entsteht, die Einheit beybehalten werde. Wollte man ein Stük so setzen, daß man sich in jedem neuen Ton, dahin man ausgewichen [523] ist, eben so lang aufhielte, als anfänglich in dem Hauptton geschehen ist, so würde eigentlich das ganze Stük gar keinen Hauptton haben. Daher sind die vornehmsten Regeln der Modulation entstanden, insonderheit diejenigen, die bestimmen, wie lange man sich in jedem Ton, dahin man ausgewichen ist, nach dem Grade seiner Verwandschaft mit dem Hauptton, aufhalten könne, und diejenigen, welche das Ausweichen aus Nebentönen betreffen, welche Regeln an einem andern Orte angezeiget worden sind.2
Es geschieht zwar bisweilen in ganz langen Stüken, daß man einen Ton, in welchen man von dem Hauptton ausgewichen ist, auch wieder als den Hauptton ansieht; und durch dieses Mittel kann man schnell auf sehr entfernte Töne kommen, wie an einem andern Orte deutlich gezeiget wird.3 Dieses geschieht aber nur auf eine kurze Zeit und gleichsam im Vorbeygehen. Wenn man also von der Modulation die Regel antrifft, daß in gewissen Fällen ein Nebenton an die Stelle des Haupttones soll gesetzt werden, so ist dieses nicht so zu verstehen, als wenn man nun von diesem Ton aus die Modulation eben so wieder ausführen soll, wie es von dem Hauptton aus geschehen ist; sondern diese Regel dienet blos dazu, daß man den Weg finde, schnell auf Harmonien zu kommen, die dem Hauptton völlig fremd sind. Dabey aber hat man immer die Vorsicht nöthig, daß man eben so schnell von solchen fremden Harmonien wieder gegen den Hauptton zurüke kehre.
1 | S. ⇒ Ton. |
2 | Art. Ausweichung S. 120. |
3 | S. Art. ⇒ Modulation. |