[780] Musik.
Wenn wir uns von dem Wesen und der wahren Natur dieser reizenden Kunst eine richtige Vorstellung [780] machen wollen, so müssen wir versuchen ihren Ursprung in der Natur auszuforschen. Dieses wird uns dadurch erleichtert, daß wir sie einigermaaßen noch täglich entstehen sehen, und auch die erste ganz rohe Bearbeitung des Gesanges durch den Geschmak, gegenwärtig bey allen noch halb wilden Völkern antreffen.
Die Natur hat eine ganz unmittelbare Verbindung zwischen dem Gehör und dem Herzen gestiftet; jede Leidenschaft kündiget sich durch eigene Töne an, und eben diese Töne erweken in dem Herzen dessen, der sie vernihmt, die leidenschaftliche Empfindung, aus welcher sie entstanden sind. Ein Angstgeschrey sezet uns in Schreken, und frohlokende Töne würken Fröhlichkeit. Die gröberen Sinnen, der Geruch, der Geschmak und das Gefühl, können nichts, als blinde Lust, oder Unlust erweken; die sich selbst, jene durch den Genuß, diese durch Abscheu, verzehren, ohne einige Würkung auf die Erhöhung der Seele zu haben; ihr Zwek geht blos auf den Körper. Aber das, was das Gehör und das Gesicht uns empfinden lassen, ziehlet auf die Würksamkeit des Geistes und des Herzens ab; und in diesen beyden Sinnen liegen Triebfedern der verständigen und sittlichen Handlungen. Von diesen beyden edlen Sinnen aber hat das Gehör weit die stärkere Kraft.1 Ein in seiner Art gerade so mißstimmender Ton, als eine wiedrige Farbe unharmonisch ist, ist ungleich unangenehmer und beunruhigender, als diese, und die liebliche Harmonie in den Farben des Regenbogens, hat sehr viel weniger Kraft auf das Gemüth, als eben so viel und so genau harmonirende Töne, z.B. der harmonische Dreyklang auf einer rein gestimmten Orgel. Das Gehör ist also weit der tauglichste Sinn, Leidenschaft zu erweken. Wer wird sagen können, daß ihm irgend eine Art von unharmonischen, oder wiedrigen Farben, schmerzhafte Empfindungen verursachet habe? Aber das Gehör kann durch unharmonische Töne so sehr wiedrig angegriffen werden, daß man darüber halb in Verzweiflung geräth.
Dieser Unterschied kommt ohne Zweifel daher, daß die Materie, wodurch die Nerven des Gehörs ihr Spiehl bekommen, nämlich die Luft, gar sehr viel gröber und körperlicher ist, als das ätherische Element des Lichts, das auf das Auge würkt. Daher können die Nerven des Gehörs, wegen der Gewalt der Stöße, die sie bekommen, ihre Würkung auf das ganze System aller Nerven verbreiten, welches bey dem Gesichte nicht angeht. Und so läßt sich begreifen, wie man durch Töne gewaltige Kraft auf den ganzen Körper, und folglich auch auf die Seele ausüben könne. Es brauchte weder Ueberlegung, noch lange Erfahrung um diese Kraft in dem Ton zu entdeken. Der unachtsameste Mensch erfährt sie.
Sezet man nun noch hinzu, daß in mancherley Fällen, der in Leidenschaft gesezte Mensch sich gern in derselben bestärkt, daß er sich bestrebet, sie mehr und mehr zu äußern, wie in der Freude, bisweilen im Zorne und auch in andern Affekten geschieht; so wird sehr begreiflich, wie auch die rohesten Menschen, wie so gar Kinder, die noch nichts überlegen, darauf fallen, durch eine ganze Reyhe leidenschaftlicher, abgewechselter Töne sich selbst, oder andre Menschen in der Leidenschaft zu bestärken, und sie immer mehr anzuflammen.
Dieses ist nun freylich noch kein Gesang, aber der erste natürliche Keim desselben; und wenn noch andere, eben so leicht zu machende Bemerkungen und einiger Geschmak hinzukommen; so wird man bald den förmlichen Gesang entstehen sehen.
Die Bemerkungen, von denen wir hier reden, betreffen die Kraft der abgemessenen Bewegung, des Rhythmus und die sehr enge Verbindung beyder mit den Tönen. Die abgemessene Bewegung, die in gleichen Zeiten gleich weit fortrüket, und ihre Schritte durch den Nachdruk, den jeder beym Auftreten bekommt, merklich macht, ist unterhaltend und erleichtert die Aufmerksamkeit, oder jede andere Bestrebung auf einen Gegenstand, der sonst bald ermüden würde. Dieses wissen oder empfinden Menschen von gar geringem Nachdenken; und daher kommt es, daß sie mühesame Bewegungen, die lange fortdauern sollen, wie das Gehen wenn man dabey zu ziehen oder zu tragen hat, im Takt, oder in gleichen Schritten thun. Daher die taktmäßige Bewegung derer, die Schiffe ziehen oder durch Ruder fortstoßen, wie Ovidius in einer anderswo angezogenen Stelle artig anmerkt.2 Aber noch mehr Aufmunterung giebt diese taktmäßige Bewegung, wenn sie rhythmisch ist, das ist, wenn in den zu jedem Schritt oder Takt gehörigen kleinen Rükungen verschiedene Abwechslungen in Stärke und Schwäche sind, und aus mehrern Schritten, größere Glieder, wodurch das Fortdaurende Mannigfaltigkeit erlangt, entstehen. Daher entsteht das Rhythmische in dem Hämmern [781] der Schmiede, und in dem Dreschen, das Mehrere zugleich verrichten. Dadurch wird die Arbeit erleichtert, weil das Gemüth, vermittelst der Lust, die es an Einförmigkeit mit Abwechslung verbunden, findet, zur Fortsezung derselben ermuntert wird.
Diese taktmäßige und rhythmische Bewegung aber kann unmittelbar mit einer Folge von Tönen verbunden werden, weil diese allezeit den Begriff der Bewegung mit sich führet; und so ist demnach der Ursprung des förmlichen mit Takt und Rhythmus begleiteten Gesanges, und seine natürliche Verbindung mit dem Tanze begreiflich. Und man wird sich nach einiger Ueberlegung, welche die hier angeführten Bemerkungen von selbsten an die Hand geben, gar nicht mehr wundern, daß auch die rohesten Völker die Musik erfunden, und einige Schritte zur Vervollkommnung derselben gethan haben.
Sie ist also eine Kunst, die in der Natur des Menschen gegründet ist, und hat ihre unwandelbare Grundsäze, die man nothwendig vor Augen haben muß, wenn man Tonstüke verfertigen, oder an der Vervollkommnung der Kunst selbst, arbeiten will. Und hier ist sogleich nöthig ein Vorurtheil aus dem Wege zu räumen, das manche sowol in der Musik, als in andern Künsten, gegen die Unveränderlichkeit ihrer Grundsäze haben. Der Chineser, sagt man, findet an der Europäischen Musik keinen Geschmak, und dem Europäer ist die chinesische Musik unausstehlich: also hat diese Kunst keine in der allgemeinen menschlichen Natur gegründete Regeln. Wir wollen sehen.
Hätte die Musik keinen andern Zwek, als auf einen Augenblik Freude, Furcht, oder Schreken zu erweken, so wär allerdings jedes von vielen Menschen zugleich angestimmte Freuden- oder Angstgeschrey dazu hinlänglich. Wenn eine große Anzahl Menschen auf einmal frohlokend jauchzen, oder ängstlich schreyen, so werden wir gewaltig dadurch ergriffen, so unregelmäßig, so dissonirend, so seltsam und unordentlich gemischt diese Stimmen immer seyn mögen. Da ist weder Grundsaz noch Regel nöthig.
Aber ein solches Geräusche kann nicht anhaltend seyn, und wenn es auch dauerte, so würde es gar bald unkräftig werden; weil die Aufmerksamkeit darauf bald aufhören würde. Wenn also die Würkung der Töne anhaltend seyn soll, so muß nothwendig das Metrische hinzukommen.3 Dieses fühlen alle Menschen von einiger Empfindsamkeit, der Burät und der Kaschinz in den Wüsten Siberiens4, der Indianer und der Iroquese, haben es eben so gut empfunden, als das feinere Ohr des Griechen. Wo aber Metrum und Rhythmus ist, da ist Ordnung und regelmäßige Abmessung. Hierin also folgen alle Völker den ersten Grundregeln. Weil aber das metrische unzähliger Veränderungen fähig ist, so hat jedes Volk darin seinen Geschmak, wie aus den Tanzmelodien der verschiedenen Völker erhellet, nur die allgemeinen Regeln der Ordnung und des Ebenmaaßes sind überall dieselben.
Daß aber ein Volk eine schnellere, ein anderes eine langsamere Bewegung liebet; daß die noch rohen Völker nicht so viel Abwechslung, auch nicht so sehr bestimmtes Ebenmaaß suchen, als die, welche sich schon länger an Empfindung des Schönen geübet haben; daß einige Menschen mehr dissonirendes in den Tönen vertragen, als andere, die mehr geübet sind das Einzele in der Vermengung vieler Töne zu empfinden; daß daher jedes Volk seine ihm eigene Anwendung der allgemeinen Grundsäze auf besondere Fälle macht, woraus die Verschiedenheit der besondern Regeln entsteht, ist sehr natürlich, und beweiset keinesweges, daß der Geschmak überhaupt willkührlich sey. Siehet man nicht auch unter uns, daß die, deren feineres und mehr geübtes Ohr auch Kleinigkeiten genau fühlen, mehr Regeln beobachten, als andere, die erst nachdem sie zu mehr Fertigkeit in Hören gelanget sind, diese vorher übersehene Regeln entdeken, und beobachten? Also beweiset die Verschiedenheit des Geschmaks hier so wenig, als in andern Künsten, daß er überall keinen festen Grund in der menschlichen Natur habe.
Wir haben gesehen, was die Musik in ihrem Wesen eigentlich ist – eine Folge von Tönen, die aus leidenschaftlicher Empfindung entstehen, und sie folglich schildern – die Kraft haben die Empfindung zu unterhalten, und zu stärken – und nun ist zu untersuchen, was Erfahrung, Geschmak und Ueberlegung, kurz, was das, was eigentlich zur Kunst gehöret, aus der Musik machen könne, und wozu ihre Werke können angewendet werden.
Ihr Zwek ist Erwekung der Empfindung; ihr Mittel eine Folge dazu dienlicher Töne; und ihre Anwendung geschieht auf eine den Absichten der Natur [782] bey den Leidenschaften gemäße Weise. Jeden dieser Punkte müssen wir näher betrachten.
Der Zwek ist keinem Zweifel unterworfen, da es gewiß ist, daß die Lust sich in Empfindung zu unterhalten, und sie zu verstärken, den ersten Keim der Musik hervorgebracht hat. Von allen Empfindungen aber scheinet die Fröhlichkeit den ersten Schritt zum Gesang gethan zu haben; den nächsten aber die Begierde sich selbst in schweerer Arbeit zu ermuntern. Weil dieses auf eine doppelte Weise geschehen kann; entweder blos durch Erleichterung, da vermittelst mannigfaltiger Einförmigkeit, die Aufmerksamkeit von dem Beschwerlichen auf das Angenehme gelenkt wird, oder durch würkliche Aufmunterung vermittelst beseelter Töne und lebhafter Bewegung; so ziehlt die Musik im ersten Fall auf eine Art der Bezauberung oder Ergreifung der Sinnen, im andern aber auf Anfeurung der Leibes- und Gemüthskräfte. Die zärtlichen, traurigen und die verdrießlichen Empfindungen scheinet die blos natürliche Musik gar nicht, oder sehr selten zum Zwek zu haben. Aber nachdem man einmal erfahren hatte, daß auch Leidenschaften dieser Art, sich durch die Kunst höchst nachdrüklich schildern, folglich auch in den Gemüthern erweken lassen, so ist sie auch dazu angewendet worden. Da auch ferner die mehrere, oder mindere Lebhaftigkeit, und die Art, wie sich die Leidenschaften bey einzeln Menschen äußern, den wichtigsten Einflus auf seinem sittlichen Charakter haben, so kann auch gar ofte das sittliche einzeler Menschen und ganzer Völker, in so fern es sich empfinden läßt, durch Musik ausgedrükt werden. Und in der That sind die Nationalgesänge und die damit verbundenen Tänze, eine getreue Schilderung der Sitten. Sie sind munter, oder ernsthaft, sanft oder ungestühm, fein oder nachläßig, wie die Sitten der Völker selbst.
Daß aber die Musik Gegenstände der Vorstellungskraft, die blos durch die überlegte Kenntnis ihrer Beschaffenheit, einigen Einflus, oder auch wol gar keine Beziehung auf die Empfindung haben, schildern soll, davon kann man keinen Grund entdeken. Zum Ausdruk der Gedanken und der Vorstellungen ist die Sprach erfunden; diese, nicht die Musik sucht zu unterrichten, und der Phantasie Bilder vorzuhalten. Es ist dem Zwek der Musik entgegen, daß dergleichen Bilder geschildert werden.5 Ueberhaupt also würket die Musik auf den Menschen nicht in so fern er denkt, oder Vorstellungskräfte hat, sondern in so fern er empfindet. Also ist jedes Tonstük, das nicht Empfindung erweket, kein Werk der ächten Musik. Und wenn die Töne noch so künstlich auf einander folgten, die Harmonie noch so mühesam überlegt, und nach den schweeresten Regeln richtig wäre, so ist das Stük, das uns nichts von den erwähnten Empfindungen ins Herze legt, nichts werth. Der Zuhörer, für den ein Tonstük gemacht ist, wenn er auch nichts von der Kunst versteht, nur muß er ein empfindsames Herz haben, kann allemal entscheiden, ob ein Stük gut oder schlecht ist: ist es seinem Herzen nicht verständlich, so sag er dreiste, es sey dem Zwek nicht gemäß, und tauge nichts; fühlet er aber sein Herz dadurch angegriffen, so kann er ohne Bedenken es für gut erklären; der Zwek ist dadurch erreicht worden. Alles aber wodurch der Zwek erreicht wird, ist gut. Ob es aber nicht noch besser hätte seyn können, ob der Tonsezer nicht manches, aus Mangel der Kunst oder des Geschmaks, verschwächt, oder verdorben habe, und dergleichen Fragen, überlasse man den Kunstverständigen zu beantworten. Denn nur diese kennen die Mittel zum Zwek zu gelangen, und können von ihrer mehrern, oder mindern Kraft urtheilen.
Es scheinet sehr nothwendig, sowol die Meister der Kunst, als die bloßen Liebhaber des Zweks zu erinnern, da jene sich so gar ofte bemühen, durch blos künstliche Sachen, durch Sprünge, Läufe und Harmonien, die nichts sagen, aber schweer zu machen sind, Beyfall zu suchen, diese, ihn so unüberlegt, am meisten dem geben, der so künstlich, als ein Seiltänzer gespiehlt, oder gesungen, und dem der im Saz so viel Schwierigkeiten überwunden hat, als der, der auf einem Pferde stehend in vollem Gallop davon jaget. Wie viel natürlicher ist es nicht, mit dem Agesilaus den Gesang einer würklichen Nachtigall, einem ihm nachahmenden Tonstük vorzuziehen?
Nach dem Zwek kommen die Mittel in Betrachtung, in deren Kenntnis und Gebrauch eigentlich die Kunst besteht. Hier ist also die Frage zu beantworten, wie die Töne zu einer verständlichen Sprache der Empfindung werden, und wie eine Folge von Tönen zusammenzusezen sey, daß der, der sie höret, in Empfindung gesezt, eine Zeitlang darin unterhalten und durch sanfton Zwang genöthiget [783] werde, derselben nachzuhangen. In der Auflösung dieser Frage besteht die ganze Theorie der Kunst, deren verschiedene Arbeiten hier nicht umständlich zu beschreiben sind, aber vollständig anzuzeigen wären, wenn unsre Kenntnis so weit reichte. Diese Mittel sind:
1. Der Gesang, oder die Folge einzeler Töne, in so fern sie nach der besondern Natur der Empfindung langsamer oder geschwinder fortfließen, geschleift oder gestoßen, tief aus der Brust, oder blos aus der Kehle kommen, in grössern oder kleinern Intervallen von einander getrennt, stärker oder schwächer, höher oder tiefer, mit mehr oder weniger Einförmigkeit des Ganges vorgetragen werden. Eine kurze Folge solcher Töne, wie z. E. diese:
wird ein melodischer Saz; ein Gedanken in der Musik genennt. Jederman empfindet, daß eine unendliche Menge solcher Säze ausgedacht werden können, deren jeder den Charakter einer gewissen Empfindung, oder einer besondern Schattirung derselben habe. Aus verschiedenen Säzen, deren jeder das Gepräge der Empfindung hat, besteht der Gesang. Es läßt sich leicht begreifen, wie ein solcher Saz ein sanftes Vergnügen, oder muntere Fröhlichkeit, oder hüpfende Freude; wie er rührende Zärtlichkeit, finstere Traurigkeit, heftigen Schmerz, tobenden Zorn u. d. gl. ausdrüken könne. Dadurch also kann die Sprache der Leidenschaften in unartikulirten Tönen nachgeahmt werden. In jeder Art können die Töne durch eine, oder mehrere Stimmen angegeben werden, wodurch die daher zu erwekende Empfindung auch mehr oder weniger stark angreift, das Gemüth beruhiget oder erschüttert.6 Schon darin liegt ungemeine Kraft auf die Gemüther zu würken. Also sind dergleichen melodische Gedanken, mit einem leidenschaftlichen Ton vorgetragen, das erste Mittel.
2. Die Tonart, in welcher ein Gedanken vorgetragen wird. Die Empfindungen des Herzens haben einen sehr starken Einfluß auf die Werkzeuge der Stimme; nicht nur wird dadurch die Kehle mehr oder weniger geöfnet, sondern sie bekommt auch eine mehr oder weniger wolklingende oder harmonirende Stimmung. Dieses empfindet jeder Mensch, der andre in Affekt gesezte Menschen reden höret. Wenn also unter den mannigfaltigen Tonleitern, deren jede ihren besondern Charakter hat,7 diejenige allemal ausgesucht wird, deren Stimmung mit dem Gepräge jener einzeln Gedanken übereinkommt, so wird dadurch der wahre Ausdruk der Empfindung noch mehr verstärkt. Also sind Tonarten und Modulationen, durch welche selbst einerley Gedanken verschiedene Schattirungen der Empfindung bekommen, das zweyte Mittel, wodurch der Sezer seinen Zwek erreicht.8
3. Das Metrische und Rhythmische der Bewegung in dem Gesange, wodurch Einförmigkeit und Mannigfaltigkeit erhalten wird. Der Gesang bekommt dadurch Schönheit, oder das unterhaltende Wesen, wodurch das Gehör gereizt wird, auf die Folge desselben fortdaurende Aufmerksamkeit zu haben.9 Aber auch zum Ausdruk der Empfindung hat der Rhythmus eine große Kraft, wie an seinem Orte gezeiget wird.10
4. Die Harmonie, nämlich die, welche dem Gesang zur Unterstüzung und Begleitung dienet. Schon hierin allein liegt ungemein viel Kraft zum Ausdruk. Es giebt beruhigende Harmonien, andere werden durch recht schneidende Dissonanzen, besonders, wenn sie auf den kräftigsten Takttheilen mit vollem Nachdruk angegeben, und eine Zeitlang in der Auflösung aufgehalten werden, höchst beunruhigend. Dadurch kann schon durch die bloße Harmonie Ruh oder Unruh, Schreken und Angst, oder Fröhlichkeit erwekt werden.
Werden alle diese Mittel in jedem besondern Falle zu dem einzigen Zwek auf eine geschikte Weise vereiniget, so bekommt das Tonstük eine Kraft, die bis in das innerste gefühlvoller Seelen eindringet, und jede Empfindung darin auf das Lebhafteste erweket. Wie groß die Kraft der durch die angezeigten Mittel, in ein wolgeordnetes und richtig charakterirtes Ganze verbundenen Töne sey, kann jeder, der einige Empfindung hat, schon aus der Würkung abnehmen, welche die verschiedenen Tanzmelodien, wenn sie recht gut in ihrem besondern Charakter gesezt sind, thun. Es ist nicht möglich sie anzuhören, ohne ganz von dem Geiste der darin liegt, beherrscht zu werden: man wird wieder Willen gezwungen, das, was man dabey fühlt, durch Gebehrden und Bewegung des Körpers auszudrüken. Man weiß aus der Erfahrung, daß kein Tanz ohne Musik dauren [784] kann; diese reizet also den Körper selbst zur Bewegung; sie hat würklich eine körperliche Kraft, wodurch die zur Bewegung dienenden Nerven angegriffen werden. Es ist glaublich, daß durch Musik der Umlauf des Geblüthes etwas angehalten, oder befördert werden könne. Bekannt sind die Geschichten von dem Einflus der Musik auf gewisse Krankheiten; und obgleich verschiedenes darin fabelhaft seyn mag, so wird dem, welcher die Kraft der Musik auf die Bewegungen des Körpers genau beobachtet hat, wahrscheinlich, daß auch Krankheiten dadurch würklich können gemildert, oder vermehret werden. Daß Menschen in schweeren Anfällen des Wahnwizes durch Musik etwas besänftiget, gesunde Menschen aber in so heftige Leidenschaft können gesezt werden, daß sie bis auf einen geringen Grad der Raserey kommen, kann gar nicht geläugnet werden. Hieraus aber ist offenbar, daß die Musik an Kraft alle anderen Künste weit übertreffe.
Aus diesem Grunde ist hier mehr, als sonst irgend bey einer andern Kunst nöthig, daß sie in ihrer Anwendung durch Weißheit geleitet werde. Deswegen ist in einigen griechischen Staaten, als sie noch in ihrer durch die Geseze richtig bestimmten gesunden Form waren, dieser Punkt ein Gegenstand der Geseze gewesen. Er verdienet, daß wir ihn hier in nähere Betrachtung ziehen.
Man braucht die Musik entweder in allgemeinen oder besonders bestimmten Absichten; bey öffentlichen, oder bey Privatangelegenheiten. Es gehöret zur Theorie der Kunst, daß diese Fälle genau erwogen werden, und daß der wahre Geist der Musik für jeden bestimmt werde. Damit wir das, was in den besondern Artikeln über die Gattungen und Arten der Tonstüke vergessen, oder sonst aus der Acht gelassen worden, einigermaaßen ersezen, und einem Kenner der künftig in Absicht auf die Musik allein, ein dem unsrigen ähnliches Werk zu schreiben unternehmen möchte, Gelegenheit geben, alles vollständig abzuhandeln, wird es gut seyn, wenn hier die Hauptpunkte dieser nicht unwichtigen Materie wol bestimmt werden.
Die allgemeineste Absicht, die man bey der Anwendung der Musik haben kann, ist die Bildung der Gemüther bey der Erziehung. Daß sie dazu würklich viel beytrage, haben verschiedene griechische Völker eingesehen,11 und es ist auch schon erinnert worden, daß die alten Celten, sie hiezu angewendet haben.12 In unsern Zeiten ist es zwar auch nicht ganz ungewöhnlich, die Erlernung der Musik, als einen Theil einer guten Erziehung anzusehen; aber man hält die Fertigkeit darin mehr für eine bloße Zierde junger Personen von feinerer Lebensart, als für ein Mittel die Gemüther zu bilden. Es scheinet deswegen nicht überflüßig, daß die Fähigkeit dieser Kunst, zu jener wichtigen Absicht zu dienen, wovon man gegenwärtig zu eingeschränkte Begriffe hat, hier ins Licht gesezt werde.
Allem Ansehen nach hat in den ältern Zeiten Griechenlands jeder Stamm dieses geistreichen und empfindsamen Volkes seine eigene, durch einen besondern Charakter ausgezeichnete Musik gehabt Dieses Eigene bestund vermuthlich nicht blos in der Art der Tonleiter, und der daraus entstehenden besondern Modulation; sondern es läßt sich vermuthen, daß auch Takt, Bewegung und Rhythmus bey jedem Volk oder Stamm, ihre besondere Art gehabt haben. Davon haben wir noch gegenwärtig einige Beyspiele an den Nationalmelodien einiger neuen Völker, die, so mannigfaltig sie auch sonst, jede in ihrer Art, sind, allemal einen Charakter behalten, der sie von den Gesängen andrer Völker unterscheidet. Ein Schottisches Lied, ist allemal von einem französischen und beyde von einem italiänischen, oder deutschen, so wie jedes von dem gemeinen Volke gesungen wird, merklich unterschieden.
Hieraus läßt sich nun schon etwas von dem Einfluß der Musik auf die Bildung der Gemüther schliessen. Wenn die Jugend jeder Nation ehedem beständig blos in ihren eigenen Nationalgesängen geübet worden, so konnte es nicht wol anders seyn, als daß die Gemüther allmählig die Eindrüke ihres besondern Charakters annehmen mußten. Denn eben aus solchen wiederholten Eindrüken von einerley Art, entstehen überhaupt die Nationalcharaktere. Darum verwies Plato die lydische Tonart aus seiner Republik, weil sie bey einem gewissen äußerlichen Schimmer, das Weichliche, wo durch dieser Stamm [785] sich von andern auszeichnete, an sich hatte. Gegenwärtig, da die Musik unter den verschiedenen Völkern von Europa, besonders unter den Händen der Virtuosen, die Einförmigkeit ihres Charakters nicht mehr hat, und da sowol die deutsche, als die französische Jugend, alle Arten der Tanzmelodien, auch Concerte, Sonaten und Arien von allen möglichen Charakteren durch einander spielt, und höret, und sich in allen Arten der Tänze übet; so ist auch die Einförmigkeit des Eindruks dadurch aufgehoben worden. Das Nationale hat sich in der Musik, so wie in der Poesie größtentheils verlohren. Darum dienet auch die Musik gegenwärtig, nicht mehr in dem Grad, als ehedem, zur Bildung jugendlicher Gemüther.
Dennoch könnte sie noch dazu gebraucht werden, wenn die, denen die Erziehung aufgetragen ist, dieses Geschäft nach einem gründlichen Plan betrieben. Denn da jede leidenschaftliche Empfindung durch die Musik in den Gemüthern kann erwekt werden, so dürfte man nun der Jugend, bey welcher eine gewisse Art der Empfindung herrschend seyn sollte, auch vorzüglich solche Stüke, die diesen Charakter haben, in gehöriger Mannigfaltigkeit zum Singen, Spiehlen und Tanzen vorlegen. Das bloße Anhören der Musik, auch selbst das Mitspiehlen, sind aber noch nicht hinreichend; es muß noch das Mitsingen, und in andern Fällen das Tanzen dazu kommen. Und so war es bey den Griechen, bey denen das Wort Musik einen weit ausgedähntern Begriff ausdrukte, als bey uns. Freylich würde hiezu erfodert, daß die, welche in der Musik unterrichten, weit sorgfältiger, als gemeiniglich geschieht, darauf sähen, daß die Jugend mit wahrem Nachdruk und wahrer Empfindung jedes Stük sänge, oder spiehlte, und daß dergleichen Uebungen durch die Menge derer, die sie gesellschaftlich trieben, nachdrüklicher würden. Die größte Fertigkeit im Spiehlen und Singen, und die zierlichsten Manieren, auf welche man fast allein steht, tragen gar wenig zu dem grossen Zwek, von dem hier die Rede ist, bey: wer nicht mit Empfindung singt, auf den würket auch der Gesang nichts. In diesem Stük wäre, wenn die Musik eben in dem Grad, wie ehedem geschehen ist, zur Bildung der Jugend dienen sollte, eine gänzliche Verbesserung des Unterrichts und der Uebungen in der Kunst, nothwendig, welche in unsern Zeiten nicht zu erwarten ist.
Auf diese allgemeine Anwendung der Musik folgen die besondern Anwendungen derselben, gewisse Empfindungen bey öffentlichen sehr wichtigen Gelegenheiten, in den Gemüthern zu einen bestimmten Zwek, lebhaft zu erweken, und eine Zeitlang zu unterhalten. Da wird sie als ein Mittel gebraucht, den Menschen, durch ihre unwiederstehliche Kraft zu Entschließungen oder Unternehmungen aufzumuntern, und seine Würksamkeit zu unterstüzen. Diesen Gebrauch kann man bey verschiedenen Gelegenheiten von der Musik machen.
Erstlich würde sie zu Kriegesgesängen, welche bey den Griechen gebräuchlich waren, mit großen Vortheil angewendet werden. Eine ganz ausnehmende Würkung den Muth anzuflammen, würde es thun, wenn vor einem angreifenden Heer ein Chor von vier bis fünfhundert Instrumenten, ein feuriges Tonstük spielte, und wenn dieses mit dem Gesang des Heeres selbst abwechselte, oder ihn begleitete. Unbegreiflich ist es, da schlechterdings kein kräftigeres Mittel ist, den Muth anzufeuren, als der Gesang, daß man es, da es einmal eingeführt gewesen, wieder abgeschaft hat. Einem verständigen Tonsezer würd es leicht werden, den besondern Charakter solcher Stüke zu treffen, und das, was sie in Ansehung der Regeln des Sazes besonders haben müßten, zu bestimmen. Der Saz solcher Stüke würde durch ungleich weniger Regeln eingeschränkt seyn, als der für Tonstüke, wo jede Kleinigkeit in einzelen Stimmen, schon gute oder schlechte Würkung thun kann. Ich habe zu meiner eigenen Verwundrung erfahren, daß die unregelmäßigste Musik, die möglich ist, da hundert unwissende Türken, jeder mit seinem Instrument nach Gutdünken geleyert, oder geraset hat, worin nichts ordentliches war, als daß eine Art Trommel dieses Geräusche nach einem Takt abmaaß, – daß diese Musik, besonders in einiger Entfernung, mich in lebhafte Empfindung gesezt hat.
Zweytens, zu wichtigen Nationalgesängen, und überhaupt zu politischen Feyerlichkeiten, zu denen sich ein beträchtlicher Theil der Einwohner einer Stadt versammelt. Dergleichen sind Huldigungen, Begräbnisse verstorbener wahrer Landesväter, Feste zum Andenken großer Staatsbegebenheiten, und andere Nationalfeyerlichkeiten, die zum Theil aus dem Gebrauch gekommen, aber wieder eingeführt zu werden, verdienten. Dabey könnte die [786] Musik, wenn nur die Einrichtungen solcher Feste von Kennern der Menschen angegeben würden, von ausnehmend großer Würkung seyn. Aber das Wichtigste wär, wenn dabey Gesänge vorkämen, die entweder das ganze Volk, oder doch nicht gemiethete Sänger, sondern aus gewissen Ständen dazu ernannte, und durch die Wahl geehrte Bürger anstimmten. Man stelle sich bey den römischen Säcularfesten, das ganze römische Volk, den Herren der halben Welt mit dem Senat und dem Adel an seiner Spize, in feyerlichem Aufzuge vor. Denn zwey Chöre der edelsten Jünglinge und Jungfrauen die abwechselnd singen; so wird man begreifen, daß nichts möglich ist, wodurch der wahre patriotische Geist in stärkere Flammen könne gesezt werden, als hier durch Musik, und damit verbundene Poesie geschehen kann. Da wär es der Mühe werth, daß die größten Tonsezer gegen einander um den Vorzug stritten; und dieses wären Gelegenheiten, sie in das Feuer der Begeisterung zu sezen, und die volle Kraft der Musik anzuwenden. Aber unser durch subtiles und alles zergliederndes Nachdenken sich von der Einfalt der Natur und der geraden Richtung der durch keine Vernunftschlüsse verfeinerten Empfindung, entfernende Geschmak, überläßt dergleichen Feste den noch halb wilden, aber eben darum mehr Nationalgeist besizenden Völkern. Es ist zum Theil dem Mangel solcher feyerlichen Anwendungen der Musik zuzuschreiben, daß man gegenwärtig die grossen Würkungen nicht mehr begreifen kann, welche die Musik der Griechen, nach dem so einstimmigen Zeugnis so vieler Schriftsteller, gethan hat.
Drittens kann die Musik bey dem öffentlichen Gottesdienst sehr vortheilhaft angewendet werden, und ist auch von alten Zeiten her dazu angewandt worden. Aber – wir können es nicht verheelen – in den protestantischen Kirchen, geschiehet es meistentheils auf eine armseelige Weise. Schon einige der wichtigsten geistlichen Feyerlichkeiten, haben den Charakter öffentlicher, das ganze Volk in einer unzertrennlichen Masse intereßirender Feste, verlohren; jeder sieht dabey nur auf sich selbst, als wenn sie nur für ihn allein wären, und dieses Kleinfügige herrscht auch nur gar zu ofte in der Kirchenmusik, und in der dazu dienenden geistlichen Poesie. Dadurch wird sie ofte zur Schande unsers Geschmaks, zu einer beynahe theatralischen Lustbarkeit, und ofte, wo es noch recht wol geht, zu einer Andachtsübung, wie die sind, die jeder für sich vornehmen kann. Wir haben aber über die Kirchenmusik, und einige besondere Arten derselben, in eigenen Artikeln gesprochen.13
Dieses sind die verschiedenen Gelegenheiten, da die Musik zu öffentlichem Behuf kann angewendet werden. Daß wir die theatralische Musik nicht dahin rechnen, kommt daher, daß die Schauspiele selbst, wie schon anderswo erinnert worden, den Charakter öffentlicher Veranstalltungen verlohren haben. Man besucht sie zum Zeitvertreib, oder allenfalls um sich blos für sich selbst jeder nach seinem besondern Geschmak zu ergözen, und ohne seine Empfindungen aus der Masse des vereinigten Eindruks zu verstärken, ohne Eindrüke zu erwarten, die auf das Allgemeine des gesellschaftlichen Interesse abziehlen. Was übrigens von diesem Zweyge der Musik hier könnte gesagt werden, findet sich in einem besondern Artikel.14
Von dem Privatgebrauch der Musik, kommt zuerst die in Betrachtung, die für gesellschaftliche Tänze gemacht wird. Das was über diese Tänze selbst anderswo gesagt wird15, dienet auch den Werth und den Charakter der dazu gehörigen Tonstüke zu bestimmen. Es bestehet eine so natürliche Verbindung zwischen Gesang und Tanz, daß man beyde unzertrennlich vereiniget bey allen noch rohen Völkern antrift, wo die Kunst noch in der Kindheit liegt. Daher läßt sich vermuthen, daß dieses die älteste Anwendung der Musik sey. Sie dienet freylich nicht, wie öffentliche Musik, die großen auf das Allgemeine, oder auf erhabene Gegenstände abziehlenden Kräfte der Seele in Bewegung zu sezen. Aber da die mit übereinstimmender körperlichen Bewegung begleitete Musik lebhaften Eindruk macht, der Tanz aber sehr schiklich ist, mancherley leidenschaftliche und sittliche Empfindungen zu erweken, so wird diese Gattung der Musik nicht unwichtig, und könnte besonders auch zur Bildung der Gemüther angewendet werden. Es ist auch weder etwas geringes noch etwas so leichtes, als sich mancher einbildet, eine vollkommene Tanzmelodie zu machen. Vollkommen aber wird sie nicht blos dadurch, daß Bewegung, Takt und Rhythmus dem Charakter der Tanzes angemessen sind, sondern auch durch schildernde musikalische Gedanken oder Säze, die die Art und den Grad der Empfindung, die jedem Tanz eigen sind, wol ausdrüken. Darum gehört [787] so viel Genie und Geschmak hiezu, als zu irgend einer andern Gattung.
Hiernächst ist die Anwendung der Kunst auf gesellschaftliche und auf einsam abzusingende Lieder zu betrachten. Da solche Lieder, wie ausführlich gezeiget worden ist,16 von sehr großer Wichtigkeit sind, so ist es auch die dazu dienliche Musik. Die Gesänge, wodurch Orpheus wilden, oder doch sehr rohen Menschen Lust zu einem wolgesitteten Leben gemacht hat, waren nur Lieder, und allem Ansehen nach solche, wo mehr natürliche Annehmlichkeit, als Kunst, herrschte. Ich meinerseits wollte lieber ein schönes Lied, als zehen der künstlichsten Sonaten, oder zwanzig rauschende Concerte gemacht haben. Diese Gattung wird zu sehr vernachläßiget, und es fehlet wenig, daß Tonsezer, die durch Ouvertüren, Concerte, Symphonien, Sonaten und dergleichen, sich einen Namen gemacht haben, nicht um Vergebung bitten, wenn sie sich bis zum Lied, ihrer Meinung nach, erniedriget haben. So sehr verkehrte Begriffe hat mancher von der Anwendung seiner Kunst.
In die lezte Stelle sezen wir die Anwendung der Musik auf Concerte, die blos zum Zeitvertreib und etwa zur Uebung im Spiehlen angestellt werden. Dazu gehören die Concerte, Symphonien, die Sonaten, die Solo, die insgemein ein lebhaftes und nicht unangenehmes Geräusch, oder ein artiges und unterhaltendes, aber das Herz nicht beschäftigendes Geschwäz vorstellen. Dieses ist aber gerade das Fach, worin ziemlich durchgehends am meisten gearbeitet wird. Es sey ferne, daß wir die Concerte, worin Spiehler sich in dem richtigen und guten Vortrag üben, verwerfen. Aber die Concerte, wo so viel Liebhaber sich zusammen drängen, um sich da unter dem Geräusche der Instrumente der langen Weile, oder dem freyen Herumirren ihrer Phantasie zu überlassen; wo man die Fertigkeit der Spiehler ofte sehr zur Unzeit bewundert – wo man Spiehler und bisweilen auch Sänger durch übel angebrachte Bravos von dem wahren Geschmak abführt, und in Tändeleyen verleitet? – doch es ist besser hievon zu schweigen. Denn der Geschmak an solchen Dingen ist vielleicht unwiederruflich, entschieden. Dieses wird freylich manchem Virtuosen beleidigend vorkommen. Da er würklich ein großes Vergnügen an solchen Sachen findet, wird er kaum begreifen, daß nicht jederman dasselbe empfindet. Wir wollen ihm seine Empfindung nicht streitig machen; aber die wahre Quelle desselben wollen wir ihm mit den Worten eines Mannes von großer Urtheilskraft entdeken. »Das Vergnügen, sagt er, welches der Virtuose empfindet, indem er Concerte nach dem bunten heutigen Geschmak, höret, ist nicht jenes natürliche Vergnügen das durch die Melodie oder Harmonie der Töne erweket wird, sondern ein Vergnügen von der Art dessen, das wir empfinden, indem wir die unbegreiflichen Künste der Luftspringer und Seiltänzer sehen, die sehr schweere Sachen machen.«17
Doch wollen wir die Sache nicht so weit treiben, wie Plato, der alle Musik, die nicht mit Gesang und Poesie begleitet ist, verwirft.18 Auch ohne Worte kann sie Würkung thun, ob sie gleich erst alsdenn sich in der größten Würkung zeiget, wenn sie ihre Kraft auf Werke der Dichtkunst anwendet.
Daß die Musik überhaupt alle andern Künste an Lebhaftigkeit der Kraft übertreffe ist bereits angemerkt, auch der Grund davon angezeiget worden. Aber auch blos durch die Erfahrung wird dieses genug bestätiget. Man wird von keiner andern Kunst sehen, daß sie sich der Gemüther so schnell und so unwiederstehlich bemächtige, wie durch die Musik geschieht. Um der allgewaltigen Würkung der ehemaligen Pöane der Griechen, oder eines bloßen unordentlichen Freudengeschreyes, nicht zu erwähnen, braucht man nur einmal eine in Poesie, Gesang Harmonie und Vortrag vollkommene Arie, oder ein solches Duett in einer Oper gehöret zu haben. Indem Salimbeni ein solches Adagio sang, standen einige tausend Zuhörer in einer staunenden Entzükung, als wenn sie versteinert wären. Wir wollen hierüber die Beobachtungen eines der ersten Köpfe unsers Jahrhunderts anführen.
»Da ich sie singen hörte, sagt er, bemächtigte sich allmählig eine nicht zu beschreibende Wolluft, meiner ganzen Seele – Bey jedem Worte stellete sich ein Bild in meinem Geiste, oder eine Empfindung in meinem Herzen dar –. Bey den glänzenden Stellen, voll eines starken Ausdruks, wodurch die Unordnung heftiger Leidenschaften gemahlt, und zugleich würklich erregt wird, verlohr sich bey mir die Vorstellung von Musik, Gesang und Nachahmung gänzlich: Ich glaubte die Stimme des [788] Schmerzens, des Zorns, der Verzweiflung selbst zu hören; ich dachte jammernde Mütter, betrogene Verliebte, rasende Tyrannen zu hören, und hatte Mühe bey der großen Erschütterung, die ich fühlte, auf meiner Stelle zu bleiben. – Nein ein solcher Eindruk ist niemals halbe man fühlet ihn entweder gar nicht, oder man wird außer sich gerissen; man bleibet entweder ohne alle Empfindung, oder man empfindet unmäßig; entweder höret man ein blos unverständliches Geräusch, oder man empfindet einen Sturm von Leidenschaft, der uns fortreißt, - und dem die Seele zu wiederstehen unvermögend ist.«19
Diejenigen, die an den Erzehlungen, von den wunderbaren Würkungen der Musik, die wir bey den alten Schriftstellern antreffen, zweifeln, haben entweder nie eine vollkommene Musik gehört, oder es fehlet ihnen an Empfindung. Man weiß, daß die Lebhaftigkeit der Empfindungen von dem Spiehl der Nerven, und dem schnellen Laufe des Geblüthes herkommet: daß die Musik würklich auf beyde würke, kann gar nicht geläugnet werden. Da sie mit einer Bewegung der Luft verbunden ist, welche die höchst reizbaren Nerven des Gehörs angreift, so würket sie auch auf den Körper, und wie sollte sie dieses nicht thun, da sie selbst die unbelebte Materie, nicht blos dünne Fenster, sondern so gar feste Mauren erschüttert?20 Warum sollte man also daran zweifeln, daß sie auf empfindliche Nerven eine Würkung mache, die keine andere Kunst zu thun vermag, oder daß sie vermittelst der Nerven eine zerrüttete fiebrische Bewegung des Geblüthes, in Ordnung bringen könne, und, wie wir in den Schriften der Parisischen Academie der Wissenschaften finden, einen Tonkünstler, von dem Fieber selbst befreyt habe? Wer Erzählungen von ausserordentlichen Würkungen der Musik zu lesen verlanget, findet davon eine Sammlung in des Bartolini Werke von den Flöten der Alten. Es ist gewiß nicht alles Fabel, was die griechische Tradition von Orpheus sagt, der die Griechen durch Musik aus ihrer Wildheit soll gerissen haben. Was für ein ander Mittel könnte man brauchen, ein wildes Volk zu einiger Aufmerksamkeit, und zur Empfindung zu bringen. Alles, was zur Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse gehört, hat ein solches Volk gemeiniglich; Vernunft aber und Ueberlegung dem zuzuhören, der ihm von Sitten, von Religion, von gesellschaftlichen Einrichtungen sprechen wollte, hat es nicht. Also kann man es durch Versprechung grössern Ueberflußes, nicht reizen. Poesie und Beredsamkeit vermögen nichts auf dasselbe; auch nicht die Mahlerey, an der es höchstens schöne Farben betrachten würde, die nichts sagen: aber Musik dringet ein, weil sie die Nerven angreift, und sie spricht, weil sie bestimmte Empfindungen erweken kann. Darum sind jene Erzählungen völlig in der Wahrheit der Natur, wenn sie auch historisch falsch seyn sollten.
Bey diesem augenscheinlichen Verzug der Musik über andere Künste, muß doch nicht unerinnert gelassen werden, daß ihre Würkung mehr vorübergehend scheinet, als die Würkung andrer Künste. Das was man gesehen, oder vermittelst der Rede vernommen hat, es sey, daß man es gelesen, oder gehört habe, läßt sich eher wieder ins Gedächtnis zurükrufen, als bloße Töne. Darum können die Eindrüke der Mahlerey und Poesie wiederholt werden, wenn man die Werke selbst nicht hat. Also müssen die Werke der Musik, die daurende Eindrüke machen sollen, ofte wiederholt werden. Hingegen, wo es um plözliche Würkung zu thun ist, die nicht fortdaurend seyn därf, da erreicht die Musik den Zwek besser, als alle Mittel die man sonst anwenden könnte.
Aus allen diesen Anmerkungen folget, daß diese göttliche Kunst von der Politik zu Ausführung der wichtigsten Geschäfte, könnte zu Hülfe gerufen werden. Was für ein unbegreiflicher Frevel, daß sie blos, als ein Zeitvertreib müßiger Menschen angesehen wird! Braucht man mehr als dieses, um zu beweisen, daß ein Zeitalter reich an Wissenschaft und mechanischen Künsten, oder an Werken des Wizes, und sehr arm an gesunder Vernunft seyn könne?
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Musik die älteste aller schönen Künste sey: sie ist mehr, als irgend eine andere, ein unmittelbares Werk der Natur. Darum treffen wir sie auch bey allen Völkern, und bey solchen, die sonst von keiner andern Kunst etwas wissen, an. Es wär also ein einfältiges Unternehmen, in der Geschicht oder in dem Nebel der Fabeln ihre Erfindung aufzusuchen. Jedes Volk kann sich rühmen[789] sie erfunden zu haben. Aber angenehm würde es seyn, die völlige Geschichte von ihrem allmähligen Wachsthum zu haben. Es ist aber nicht daran zu denken, daß diese Geschichte auch nur einigermaaßen könnte gegeben werden. Denn die Nachrichten der Griechen, die einzige Quelle, woraus man schöpfen könnte, wenn sie weniger trüb wäre, sind gar sehr unzuverläßig.
Ohne Zweifel hatte man schon seit langer Zeit sehr schöne Gesänge gehabt, ehe es irgend einem Mann von speculativem Genie eingefallen war, die Tonleiter, woraus die Töne derselben genommen worden, durch Regeln, oder Verhältnisse zu bestimmen, und feste zu sezen. Es ist vergeblich zu untersuchen, wie die Griechen auf ihre verschiedene Tonleitern gekommen sind, und woher die dreyerley Gattungen derselben, die enharmonische, chromatische und diatonische entstanden seyen. Die Empfindung allein bildete die ersten Gesänge in den Kehlen empfindsamer Menschen. Diese waren nach dem mehr, oder weniger lebhaften Charakter des Sängers, nach der Stärke der Empfindung, und dem Grad der Feinheit, oder Beugsamkeit der Werkzeuge der Stimme, in einem rauheren, oder sanftern Ton, in grössern, oder kleinern Intervallen. Andere dadurch gerühret, versuchten auch zu singen, und ahmeten dem ersten nach, oder fielen wegen der Uebereinstimmung der Charaktere, auf dieselben Tonarten, an welche sich allmählig das Ohr derer, die ihnen zuhörten, gewöhnte. Daher kam es, daß von den verschiedenen griechischen Stämmen, jeder seine eigene Modulation hatte, und daß Tonleitern von verschiedenen Gattungen eingeführt wurden. Erst lange hernach wurden sie festgesezt, und durch Berechnung ihrer Verhältnisse genau bestimmt. Der würde sehr irren, der die sogenannten Genera und Modus der Griechen, für Werke des Nachdenkens und einer methodischen Erfindung hielte. Wollte man noch mehr natürliche Tonleiter und Arten zu moduliren haben, als uns izt bekannt sind, so dürfte man sich nur die Gesänge der zahlreichen asiatischen Völker bekannt machen, die noch keine geschriebene Musik haben. Es ist höchst wahrscheinlich, daß sie nach keiner uns bekannten Tonleiter gehen; obgleich bisweilen Reisende uns solche Gesänge nach unsern diatonischen Geschlecht aufgeschrieben haben. Dann schon in Spanien, in dem mittäglichen Frankreich, in Italien, und an den Gränzen der Wallachey, höret man, wie ich von kunstverständigen Männern von feinem Gehör versichert worden, Gesänge die nach keiner unsrer Tonleitern können geschrieben werden.
Die Erfindung der Abmessung der Töne durch Zahlen, schreiben die Griechen insgemein dem Pythagoras zu; die Umstände, die man davon erzählt, sind bekannt: andere erzählen mit noch wahrscheinlichern Umständen etwas ähnliches von dem Künstler Glaucus. Ein gewisser Hippasis soll vier gleichgroße in der Dike ungleiche eherne Teller gedrechselt haben, deren harmonischen Wolklang Glaucus zuerst soll bemerkt, und in ihren Ursachen untersucht haben.21
Ueber die eigentliche Beschaffenheit der griechischen Musik sind von den Neuern erstaunlich viel Untersuchungen angestellt worden, aus denen allen eben kein helles Licht hervorgekommen ist. Man findet in den griechischen Schriftstellern, die besonders über die Musik geschrieben haben, nicht nur an verschiedenen Stellen undurchdringliche Finsternis, sondern auch ganz offenbare Wiedersprüche. Wir wollen uns also bey dieser Materie nicht vergeblich aufhalten: wer begierig ist, sie näher zu untersuchen, den verweisen wir auf die alten Schriftsteller über die Theorie der Musik, die Meibom in einer Sammlung herausgegeben hat, auf den Claudius Ptolomäus und auf die Abhandlungen verschiedener Gelehrten, welche in der Sammlung der Schriften der französischen Academie der schönen Wissenschaften verschiedentlich zerstreut angetroffen werden. Vor nicht gar langer Zeit hatte der Pater Gerbert damahls Bibliothecarius des Benediktiner Closters zu St. Bläsi, eine Reise in der Absicht Entdekungen über die Geschichte der Musik zu machen, unternommen. Er schrieb im Jahr 1763 aus Wien an jemand hievon folgendes: Scias me-utile admodum iter suscipere pro historia Musicæ præsertim græcæ, repertis nonnullis auctoribus ineditis ac speciminibus notarum musicarum per duodecim sœcula continua serie, genere quodam Palæographiæ. Ob wir daher etwas Zuverläßigeres, als man bis izt gehabt, zu erwarten haben, steht dahin.
Nach einer Tradition, die durch eine lange Reyhe von Jahrhunderten bis auf uns gekommen ist, haben wir in den noch izt gebräuchlichen Kirchentonarten, die meisten Modos Musicos der Griechen. Wenn man das, was die Alten von dem Charakter dieser Tonarten sagen, mit dem vergleicht, was noch izt ein geübtes Ohr dabey empfindet, so ist es nicht [790] ohne Wahrscheinlichkeit, daß die Sache würklich so sey. Ob aber einige in Schriften aufbehaltene Gesänge der Alten, die man glaubt entziffert zu haben, izt noch so können gesungen werden, wie sie ehemals würklich gesungen worden, daran finde ich Gründe genug zu zweifeln. Daß aber einige noch izt in catholischen Kirchen übliche Gesänge ein hohes Alter von tausend Jahren und darüber haben, ist nicht unwahrscheinlich.
Bey allen diesen Ungewißheiten hat man kein Recht zu zweifeln, daß die alten Griechen, die die andern schönen Künste auf einen so hohen Grad der Vollkommenheit gebracht haben, nicht auch diese in ihrer vollen Stärke und Schönheit sollten besessen haben; besonders, da sie so große Liebhaber des Gesanges waren. Freylich mögen die griechischen Gesänge eben so sehr von den heutigen unterschieden gewesen seyn, als Homers Epopöen oder Pindars Oden von den heutigen Heldengedichten und Oden verschieden sind. Ob aber unsre Art jener vorzuziehen sey, ist eine andre Frage.
Gewiß ist dieses, daß die Gesänge der Alten weit einfacher gewesen sind, als unsere Opernarien, und aller Wahrscheinlichkeit nach, haben die Alten die vielstimmige Musik, da eine Hauptstimme blos der Harmonie halber von andern Stimmen begleitet wird, nicht gekannt, noch weniger die Gesänge, die aus vielen würklich singenden Stimmen bestehen, wie unsre vierstimmigen Choräle sind.
Daß wir durch Einführung der begleitenden Harmonie viel gewonnen haben, scheinet Russeau ohne guten Grund zu leugnen. Wenn nur das Rauschen der Harmonie den Gesang nicht verdunkelt, so dienet sie ungemein den Charakter und Ausdruk eines Stüks zu verstärken. Aber unsere Coloraturen, Passagen, Cadenzen und viele Lieblingsgänge unsrer künstlichen Sänger und Spiehler, würde der Grieche aus der guten Zeit sicherlich verachtet haben, wenn er sie auch gehört hätte.
Freylich klagen auch schon einige späthere Schriftsteller unter den Alten, über den Verfall ihrer Musik, den Ueppigkeit und bloße Wollust des Gehörs sollen verursachet haben. Was von der Beredsamkeit angemerkt worden, daß sie allmählig gesunken sey, nachdem man nicht mehr aus würklicher Nothwendigkeit zu überreden, sondern, aus Nachahmung und in der Absicht für einen schönen Geist gehalten zu werden, mehr schöne, als nachdrükliche Reden gemacht hat, kann auch auf die Musik angewendet werden. Die Begierde blos zu gefallen, führet nothwendig auf tausend Abwege, weil bald jeder Mensch seine eigene Liebhaberey hat: aber der Vorsaz zu rühren, diese oder jene bestimmte Leidenschaft zu erweken, führet sicher. Denn in jedem besondern Fall ist nur ein Weg, der mitten in das Herze führt. Wenn der Tonsezer sich vornihmt ein verliebtes Verlangen, oder eine lebhafte Freude, oder schmerzhafte Traurigkeit auszudrüken, so weiß er, worauf er zu arbeiten hat.
Es wird also der Musik, die in den schönsten Zeiten Griechenlands in ihrer Art so vollkommen mag gewesen seyn, als irgend eine andere der schönen Künste, auch bey der Ausartung des griechischen Geschmaks nicht besser gegangen seyn, als diesen: und es ist höchst wahrscheinlich, daß sie allmählig von ihrem ersten Zwek abgeführt, und blos zur Belustigung müßiger Menschen gebraucht, dadurch aber mit willkührlichen und unnüzen Zierrathen überladen worden. Man hat deutliche Spuhren, daß sie in diesem Zustande gewesen sey, als man anfieng sie zum Gebrauch des öffentlichen Gottesdienstes in den christlichen Kirchen einzuführen. Dadurch ist sie zwahr von allen ausschweifenden Zierrathen und von der theatralischen Ueppigkeit wieder gereiniget, vermuthlich aber auch einiger wahrer Schönheiten beraubet worden. Dann in jenen Zeiten, da der gute Geschmak überhaupt beynahe gänzlich erloschen war, konnte es nicht anders seyn, als daß auch die Musik von der allgemeinen Barbarey angestekt werden mußte. Sie wird, wie die Wissenschaften, blos in den Händen unwissender und des Nachdenkens ungewohnter Mönche geblieben seyn, wo sie nothwendig ihre beste Kraft verliehren mußte.
Doch ist in diesen finstern Zeiten, durch Erfindung einiger blos zum äußerlichen und zur Bezeichnung der Töne dienenden Hülfsmittel, der Grund zu einer nachherigen großen Verbesserung gelegt worden. In dem eilften Jahrhundert, erfand ein Benediktiner Mönch, Guido von Arezzo, wie man durchgehends davor hält, das Liniensystem, um die Töne, die vorher blos durch Buchstaben, die man über die Sylben sezte, angedeutet wurden, durch die verschiedene Lage auf demselben, nach ihrer Höhe und Tiefe zu bezeichnen. Aus dieser höchstglüklichen Erfindung entstuhnd nachher, durch allmählige Zusäze und Verbesserungen, die izt übliche Art die [791] Töne in Noten zu schreiben, wodurch nicht nur jeder Ton nach seiner Höhe und Tiefe, sondern auch nach seiner Dauer und andern Abwechslungen auf eine sehr bequäme Weise, kann bezeichnet werden, welches den Vortrag eines Tonstüks erstaunlich erleichtert, und eben darum auch die Musik selbst in ihren wesentlichen Theilen befördert hat. Im XIV Jahrhundert soll die Art ein Tonstük durch Noten zu bezeichnen, durch einen französischen Doktor der freyen Künste, Jehan de Meurs oder de Muris noch mehr vervollkommnet worden seyn. Wenigstens schreibet man ihm die Erfindung der verschiedenen Formen der Noten, wodurch die Dauer der Töne, angezeiget wird, zu; woran aber Rousseau, wie es scheinet nicht ohne guten Grund, zweifelt. Es scheinet aber, daß die Erfindung der Noten, und dessen was sonst zum Schreiben der Tonstüke gehöret, erst in dem nächst verflossenen Jahrhundert ihre Vollkommenheit erreicht habe.
Von andern allmähligen Verbesserungen der Kunst, in Absicht auf das Wesentliche derselben, wird man nicht eher richtig urtheilen können, bis ein Mann, der dazu hinlängliche Kenntnis hat, eine Sammlung auserlesener Gesänge aus verschiedenen Zeiten, nach der izigen Art in Noten geschrieben, herausgeben wird, damit sie mit Fertigkeit können gesungen, und folglich richtig beurtheilet werden. Die oben angeführte Nachricht des P. Gerberts läßt uns hierüber nicht ganz ohne Hofnung. Am sichersten aber wäre diese Arbeit von dem berühmten Pater Martini in Bologna zu erwarten. Was wir von der Beschaffenheit der Musik in den mittlern Zeiten noch wissen, betrift fast allein den Kirchengesang. Von Tanz- und andern Melodien älterer Zeiten, weiß man sehr wenig, und doch würde man uns auch solche vorlegen müssen, wenn wir von der Beschaffenheit der ältern Musik überhaupt ein Urtheil zu fällen hätten.
Es scheinet, daß man bis ins XVI Jahrhundert die diatonischen Tonleiter der Alten, in Absicht auf das Harmonische darin, ohne andere Veränderung, als den weitern Umfang in der Höhe und Tiefe, beybehalten habe: und in Absicht auf die Modulation ist man lediglich bey den Tonarten der Alten bis auf dieselbe Zeit stehen geblieben. Erst in erwähntem Jahrhundert scheinet der Gebrauch der neuern halben Töne allmählig eingeführt worden zu seyn, wodurch jeder Ton in seinen Intervallen, den andern ohngefehr gleich gemacht worden. Ehe diese halbe Töne eingeführet worden, konnte man nicht anders, als nach den sogenannten Kirchentönen22 moduliren. Spiehlte man in der jonischen Tonart, oder nach iziger Art zu sprechen aus C, so war es nothwendig C dur, weil das C keine weiche Tonleiter hatte, so wenig als aus A, oder der äolischen Tonart, nach einer harten Tonleiter konnte gespiehlt werden. Doch ist bis izt die eigentliche Epoche der Einführung der heutigen vier und zwanzig Tonarten, so neu sie auch ist, nicht bestimmt. Vermuthlich sind nicht alle neuere halbe Töne auf einmal, sondern nur allmählig in den Orgeln angebracht worden. Dadurch sind die chromatischen und enharmonischen Gänge in die Musik eingeführt, und daher ist auch die Mannigfaltigkeit der Modulationen vermehrt worden. In gedachtem XVI Jahrhundert, haben Zerlino und Salinas das meiste zum Wachsthum der Musik beygetragen. Es scheinet auch daß der vielstimmige Saz, und die begleitende Harmonie damals in der Musik eingeführt worden.
In dem leztverwiechenen Jahrhundert hat die Musik durch Einführung der Opern und der Concerte, einen neuen Schwung bekommen. Man hat angefangen die Künste der Harmonie weiter zu treiben, und mehr melismatische Verziehrungen in den Gesang zu bringen. Dadurch ist allmählig die sogenannte galante, oder freyere und leichtere Schreibart und weit mehr Mannigfaltigkeit der Takte und der Bewegungen in der Musik aufgekommen. Es ist nicht zu leugnen, daß nicht dadurch die melodische Sprache der Leidenschaften ungemein viel gewonnen habe. Auf der andern Seite kann man aber auch nicht in Abrede seyn, daß von den Verziehrungen und den mehrern Freyheiten in Behandlung der Harmonie nach und nach ein so großer Mißbrauch ist gemacht worden, daß die Musik gegenwärtig in Gefahr steht, gänzlich auszuarten. In dem vorigen Jahrhundert und in den ersten Jahren des gegenwärtigen ist die Reinigkeit des Sazes in Absicht auf die Harmonie und die Regelmäßigkeit der melodischen Fortschreitungen auf das Höchste getrieben worden, und es kann nicht geläugnet werden, daß nicht beydes zu dem ernsthaften Kirchengesang höchst nothwendig sey. Beyde werden gegenwärtig von vielen gering geschäzt, oder gar für unnüze Pedanterey gehalten, wodurch besonders die Kirchenmusik und alle andern Gattungen, [792] wo jeder Schritt des Gesanges ausdrükend und bedeutend seyn soll, ungemein viel leiden. Freylich hat man auch an Feuer, Lebhaftigkeit, und an den mancherley Schattirungen der Empfindung durch die Mannigfaltigkeit der neuern melodischen Erfindung, und selbst durch kluge Uebertretung der strengen harmonischen Regeln, gewonnen. Aber nur große Meister wissen diese Vortheile zu nuzen.
Daß die Musik in den neuern Zeiten, dem schönen und sehr geschmeidigen Genie, und der feinen Empfindsamkeit der Italiäner das meiste zu danken habe, ist keinem Zweifel unterworfen. Aber auch aus Italien ist das meiste, wodurch der wahre Geschmak verdorben worden, vornehmlich die Ueppigkeit der nichts sagenden und blos das Ohr küzelnden Melodien, in die Kunst gekommen. Schwerlich werden die meisten Ausländer, die in vielen Stüken gegen das deutsche Genie unüberwindliche Vorurtheile haben, unsrer Nation das Recht wiederfahren lassen, das ihr in Absicht auf die Musik gebührt. Sie werden nie mit wahrer Freymüthigkeit gestehen, daß unsre Bache, Händel, Graun, Haße in die Classe der Männer gehören, die der heutigen Musik die größte Ehre machen. Händel hat, nicht seine bewundrungswürdige Kunst, sondern blos die Ausbreitung seines Ruhmes, dem Zufall zu danken, daß er durch seinen Aufenthalt in England den Nationalstolz dieser sonderbaren Nation, intereßirt hat: hätte er alles gethan, was er würklich gethan hat, so würde seiner kaum erwähnet werden, wenn blos seine Werke, ohne seine Person nach jenem Lande gekommen wären. Graun, der an Lieblichkeit des Gesanges alle übertrift, und an Richtigkeit und Reichthum der Harmonie, auch genauer Beobachtung aller Regeln, kaum irgend einem andern nachsteht, ist außer Deutschland fast gar nicht bekannt.
Ueber die Theorie der Kunst ist bis izt, wenn man das, was die Richtigkeit und Reinigkeit der Harmonie, und die Regeln der Modulation betrift, ausnihmt, wenig beträchtliches geschrieben worden. Selbst das, was die Harmonie betrift ist nicht aus zuverläßigen Grundsäzen hergeleitet worden. Das wichtigste Werk über die Theorie wird ohne Zweifel das seyn, was der Berlinische Tonsezer Hr. Kirnberger unternommen hat, wenn erst der zweyte Theil desselben wird an das Licht getreten seyn.23 Schon im ersten Theile ist die Kenntnis der Harmonie aus dem unbegreiflichen Chaos, worin sie, nicht in den Tonstüken großer Meister, sondern in den theoretischen Schriften darüber, gelegen hat, in ein helles Licht gesezt worden. In diesem ganzen Werke bin ich überall den harmonischen Regeln dieses Mannes, so weit ich sie einzusehen im Stande war, gefolget. Und hier wird auch der bequämste Ort seyn, überhaupt das Bekenntnis abzulegen, daß das, was ich über diese Kunst hier und da bemerkt habe, aus dem Unterricht geflossen ist, den mir dieser in seiner Kunst höchst erfahrne und scharfsinnige Mann, mit ausnehmendem Eyfer ertheilt hat.
1 | Man sehe was hievon im Art Künste S. 623 ange merkt worden. |
2 | S. ⇒ Marsch. |
3 | S. ⇒ Metrisch. |
4 | S. Gmelins Reise III Theil. |
5 | S. ⇒ Mahlerey in der Musik. |
6 | S. ⇒ Stärke. |
7 | S. ⇒ Tonarten. |
8 | S. ⇒ Tonart. ⇒ Modulation. |
9 | S. ⇒ Einförmigkeit, ⇒ Mannigfaltigkeit; ⇒ Ebenmaaß ⇒ Metrisch. |
10 | S. ⇒ Rhythmus. |
11 | Assentior Platoni, nihil tam sacile in animos teneros atque molles influere quam varios canendi sonos, quorum dici vix potest, quanta sit vis in utramque partem. Namque et incitat languentes et languesacit excitatos, et tum remittit animos, tum contrahit. Cicero de Legib. L. II. |
12 | S. Lied. S. 715. |
13 | S. ⇒ Choral. ⇒ Kirchenmusik, ⇒ Motette, ⇒ Oratorium. |
14 | S. ⇒ Oper. |
15 | S. ⇒ Tanz. |
16 | S. ⇒ Lied. |
17 | S. Letter to Lord K. in Fränklins Experiments and observ. on Electricity. S. 467. |
18 | De Leg. L. II. |
19 | Rousseau dans la Julie. T. I. p. 48. |
20 | Man sehe hierüber die besondern Beobachtungen, die Rousseau in seinem Dictionaire de Musique im Art. ⇒ Musik gesammelt hat. |
21 | Zenob. paroem. Cent. II. 91. |
22 | S. ⇒ Tonarten der Alten. |
23 | Der erste Theil ist vor etwa 2 Jahren unter dem Titel: d. Kunst des reinen Sazes in der Musik herausgekommen. |
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