Heroisch

[535] Heroisch. (Schöne Künste)

Fast alle Völker stehen in der Einbildung, daß diejenigen Menschen, die sie, als die Stifter ihres Staates ansehen, oder überhaupt die, deren Leben in das hohe Alterthum fällt, von höhern Leibes- und Gemüthskräften gewesen, als ihre späthere Nachkömmlinge. Darum hat jedes Volk seine Heldenzeit, wie die Griechen die ihrige gehabt haben. Wenn Homer von dem Diomedes sagt, er habe gegen den Aeneas einen Stein geschleudert, den zwey Menschen, wie sie zu des Dichters Zeit waren, nicht zu tragen vermöchten,1 so spricht er aus einem Wahn, der allen Völkern gemein ist. Diese stärkere Menschen sind die Helden, und die Thaten, wozu sie ihre höhere Kräfte nöthig hatten, werden heroische Thaten genennt.

Da es dem Menschen so natürlich ist zu glauben, daß es größere Menschen gegeben habe, als sie zu seiner Zeit sind, und da er ein natürliches Wolgefallen an heroischen Thaten und an heroischer Gemüthsart hat, so müssen sich die Künstler dieses vortheilhaften Wahnes bedienen, die Gemüther durch Abschilderung derselben zu erhöhen. Dieses geschieht am natürlichsten, wenn der Stoff zu dem Werk aus dem Alterthum genommen wird. Je höher man darin herauf steigen kann, je größer kann man die Menschen vorstellen, ohne unwahrscheinlich zu werden.

Die meisten Werke der griechischen Mahler und Bildhauer, die meisten Trauerspiele der Griechen, waren aus den heroischen Zeiten genommen. Und es kann nicht anders, als vortheilhaft seyn, wenn man die Menschen in dem Wahn bestärkt, daß es ehedem größere Menschen gegeben habe. Aber der Künstler, der einen heroischen Stoff wählet, legt sich eine große Last auf. Wenn er nicht im Stand ist seine Vorstellungen und sein ganzes Gemüth über die gewöhnliche Größe zu erheben, so thut ihm sein heroischer Stoff Schaden. Nur der därf sich in dieses Feld wagen, der mit Gewißheit empfindet, daß er sich weit über die Denkungsart seiner Zeit erheben könne. Davon kann er sich nicht überzeugen, wenn er nicht die Welt, darin er lebt, völlig kennt; wenn er nicht bey den Handlungen und Gesinnungen, die die Menschen äußern, immer empfindet, daß sie unter dem sind, was er selbst in gleichen Umständen würde gethan oder empfunden haben. Er muß ein scharfsinniger Späher der Menschen seyn; muß die wichtigsten Männer seiner Nation kennen und übersehen; er muß Gelegenheit gehabt haben die Grundsätze, wonach sie handeln, genau zu erkennen; er muß sich in ihre Seelen hineinsetzen können, um zu fühlen, was sie fühlen. Wenn er sich alsdenn getraut, sich über sie zu erheben, so mag er seine Kräfte an einem heroischen Stoff versuchen. Aber wehe dem, der ohne dieses innige sichere Gefühl seiner eigenen Größe sich einbildet, man könne die menschliche Größe durch Zusammenhäufen oder Erweitern über ihr Maaß erheben, wie man etwa körperliche Dinge größer macht. Nicht die unbegränzte Einbildungskraft, sondern die ungewöhnliche Stärke des Verstandes und des Herzens, sind die Mittel sich zum heroischen Stoff zu erheben.

Das Heroische besteht aber nicht blos in kriegerischen Thaten, oder in Ausführung kühner Unternehmungen; es giebt auch stille heroische Tugenden. Alles, wozu eine außerordentliche Stärke des Geistes, eine ungewöhnliche Kraft des Gemüths erfodert wird, ist heroisch. Der Abschied, den Noah [535] von dem Sipha nihmt, da er ihm mit heiterm Gemüthe sagt:


Geh, ich halte dich nicht, und weine nicht eitele Thränen,

Daß du im Porte schon stehst, indem ich den Sturm noch besegle.

Unbethränkt sieht das Auge dir nach, wie wohl das Gemüthe

Blutend den Trost überdenkt, der meinem Leben geraubt wird.2


ist nicht weniger heroisch, als der Heldenmuth einem sichern Tod ruhig entgegen zu gehen.

Sollte jemand fragen, wie das Heroische von dem Großen überhaupt unterschieden sey; so wäre vielleicht dieses die richtigste Antwort, daß das Große, da wo es angetroffen wird, ungewöhnlich ist, und daß das Heroische eine nicht ungewöhnliche, sondern natürliche Aeußerung größerer Menschen sey. Man hat nämlich von dem Helden den Begriff, daß er nach seinem ganzen Charakter und nach seinen Umständen, um etliche Stufen höher stehe, als andre Menschen; darum ist das Große nichts Ungewöhnliches bey ihm; es ist seinem Maaß der Kräfte angemessen. Wenn aber ein Mensch wie andre Menschen, seine Kräfte durch außerordentliches Bestreben anstrenget, um etwas großes zu thun, so würde dieses nur Groß und nicht Heroisch seyn.

1II. γ. 303.
2Noach. VII Gef.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 535-536.
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