Homer

[546] Homer.

Der älteste griechische Dichter, dessen Gesänge auf uns gekommen sind. Er wird deswegen von vielen Alten und Neuen für den Vater der Dichtkunst gehalten. Dieses ist aber nicht so zu verstehen, daß er der erste Dichter gewesen. Man kann aus der öftern Erwähnung, welche er selbst von Sängern thut, schließen, daß die Dichter schon vor seiner Zeit unter den Griechen sehr häufig gewesen sind; und auch weit ältere Völker, als die Griechen, haben ihre Dichter gehabt.

Das gelehrte Griechenland hatte eine uneingeschränkte Hochachtung für ihn, und nannte ihn vorzüglich den Dichter, als ob er der einzige gewesen, der diesen Namen in der vollkommensten Bedeutung verdiente. Der griechische Mahler Galaton hat, nach Aelians Bericht, ihn so abgemahlt, daß aus seinem Mund eine Quelle floß, aus welcher alle Dichter geschöpft haben, um anzuzeigen, daß er der wahre castalische Brunnen sey,


–– a quo ceu sonte perenni

Vatum pieriis ora rigantur aquis.1


Selbst Aristoteles und Plato scheinen ihn für den einzigen Originaldichter zu halten, nach welchem alle andere sich gebildet haben. Seine Gesange wurden von der Zeit an, da der Dichter selbst sie absang, bis auf den Untergang der Wissenschaften und Künste, für das Buch aller Bücher, für die Quelle der Künste, der Sittenlehre und der Politik gehalten. Die Jugend mußte sie studiren und Erwachsene brauchten sie als ein allgemeines Lehrbuch. Selbst zu der Zeit, da die Wissenschaften in Griechenland im höchsten Flor stuhnden, sah man eine eigene Classe von Menschen, die keinen andern Beruf hatten, als die Gesange dieses Dichters so wol öffentlich, als in den Häusern, nach der Kunst abzusingen.

Man muß den höchsten Begriff von diesem Dichter nothwendig bekommen, wenn man bedenkt, daß die größten Männer in verschiedenen Arten ihn für ihren vornehmsten Lehrmeister gehalten; daß Lycurgus ihn als einen Gesetzgeber, Aeschynes und Demosthenes als den größten Redner, Alexander der Große als den vornehmsten Lehrer des Kriegswesens, Pindar, Moschus und Virgilius als den vornehmsten Dichter verehrt haben.2 Ein Dichter, den die ersten Köpfe der ersten Nation in der Welt so sehr verehrt haben, verdient allen Menschen von Vernunft und Geschmak bekannt zu seyn.

Von seinen persönlichen Umständen weiß man wenig zuverläßiges. Nach der gemeinesten Meinung fällt seine Lebenszeit ohngefehr 1000 Jahre [546] vor den Anfang der christlichen Zeitrechnung, hundert und funfzig, bis zweyhundert Jahre späther, als der trojanische Krieg, den er besungen hat. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist er ein Jonier aus klein Asien, und vermuthlich nicht von ganz geringer Herkunft gewesen; denn seine Gesänge kündigen einen Mann an, der alle Wissenschaft, alle Kenntnis der Länder, der Künste und der Weltgeschäfte, gehabt, die zu seiner Zeit möglich gewesen. Es ist auch wahrscheinlich, daß er bey Verfertigung seiner Gesänge etwas größeres zur Absicht gehabt habe, als seinem dichterischen Genie nachzugeben. Wenn man bedenkt, daß Homer zu einer Zeit gelebt hat, da die Griechen nur kurz vorher angefangen verschiedene Colonien in ein Land zu schiken, in welchem sie vor nicht langer Zeit den hartnäkigsten und berühmtesten Krieg geführt haben; so entsteht die Vermuthung, daß etwas von dem Nationalintresse der asiatischen Griechen die Hauptabsicht dieser Gesänge gewesen sey.

Wie dem aber sey, so ist bey itziger Beurtheilung derselben allemal genau darauf zu sehen, daß sie uns ganz fremde sind, und uns unmittelbar nicht weiter angehen, als in so fern sie uns das Genie eines der größten Dichter zeigen, auch die Gemüthsart und die Sitten vieler Völker, und der berühmtesten Helden des Alterthums, auf das natürlichste schildern. Wir müssen davon auf die Art urtheilen, nach welcher ein Heerführer unsrer Zeiten von den Kriegsverrichtungen Alexanders urtheilt, wobey er nicht die itzigen Waffen, nicht die gegenwärtige Politik, sondern die damalige Lage der Sachen in Betrachtung ziehet. So wie es einem erfahrnen Kriegsmann nicht schweer fallen würde zu bestimmen, wie Alexander nach der itzigen Verfassung würde gehandelt haben, so kann auch ein guter Kunstrichter sehen, wie eine Epopöe seyn würde, die itzt in dem Geist des Homers verfaßt wäre.

Man wundert sich nicht ohne Grund, wie es neuern Kunstrichtern hat einfallen können, es dem Homer zur Last zu legen, daß er seine Götter und Menschen anders handeln und reden läßt, als unsre Begriffe es zu erfodern scheinen, und daß ihm Sachen wichtig geschienen, die wir für unwichtig halten. Dies ist eben so viel, als dem Alexander vorwerfen, daß er lieber Mauerbrecher, als Canonen, lieber Pfeile, als Flinten gebraucht habe. Homer schildert den Menschen, wie er zu seiner Zeit gewesen, mit dem Charakter, mit dem Aberglauben, mit der Einfalt der Sitten, mit den Gebräuchen, und mit der Sprache, die er damals gehabt hat. Er ist der Natur völlig treu geblieben, und hat gar nicht nach einem Ideal gearbeitet. Denn man sieht wol, daß es ihm höchst leichte gewesen wäre, die Personen besser oder schlimmer zu machen, wenn er gewollt hätte. Er hatte nicht nöthig an das Ideal zu denken, da die Natur selbst zu seiner Absicht hinreichend war.

Wer diesen Dichter in seinem wahren Lichte sieht, wird ohne Zweifel dem Urtheil des Strabo beystimmen, der ihn nicht blos wegen des poetischen Genies, sondern auch wegen seiner Einsicht in Sachen des Lebens, und der Politik allen andern Dichtern vorzieht.3 Wir wollen seinen poetischen Charakter mit den Worten des Gravina abbilden, »Homer ist ein so viel mächtigerer und weiserer Zauberer, da er seine Sprache, nicht sowol zur Reizung des Gehörs, als zum Ausdruk der Einbildungskraft und zur Bezeichnung der Sachen angewendet, und seinen ganzen Fleis darauf gerichtet hat, jede Sache natürlich auszudruken. Bald scheinet er die Sachen nur flüchtig zu berühren, bald sie aus dem Gesichte zu verlieren; aber dann kommt er wieder durch einen andern Weg ihr zu Hülfe. Am rechten Orte und zur rechten Zeit mischt er in die Reden, welche er anführt, gemeine Ausdrüke und Redensarten: als ein andrer Proteus nihmt er alle Gestalten und Naturen an. Bald fliegt er, bald schleicht er am Boden; bald donnert er, bald lispelt er sanft; allezeit wird die Einbildungskraft dergestalt von seinen Versen gerührt, daß er sich unsrer Kräfte bemächtiget, und durch seine Worte, der Kraft der Natur nacheyfert.4 Nicht ohne Bewundrung sieht man die unendliche Mannigfaltigkeit der Dinge, die er beschreibet; von den lieblichsten und gemeinsten Gegenständen in der Natur und den Sitten, bis auf die fürchterlichsten und erhabensten: fürnehmlich wenn man dabey bedenkt, wie er jedes nach der eigentlichsten Art [547] schildert. Eben dieses fühlt man bey den Reden und Handlungen, die er seinen Personen beylegt. Kein unnützes, kein überflüßiges Wort, keines, das nicht geradezu den Zwek trift, keine, auch nicht die geringste Handlung, die nicht den bestimmtesten Charakter anzeiget. Was jeder spricht oder thut, geschieht so, wie es sich für ihn schiket. Sein Ausdruk und sein Vers sind so, daß die Natur selbst sie auf den Lippen des Dichters zur besten Bezeichnung der Sachen scheint gebildet zu haben.

Den Namen eines Vaters der Dichter verdienet er fürnehmlich dadurch, daß kaum eine Art des poetischen Schwunges, oder der Herablassung zu der natürlichen Vorstellung der Sachen; keine Wendung der Gedanken; kein Theil der poetischen Kunst ist, davon er nicht Muster gegeben. Der epische Dichter, der dramatische, der lyrische, und der Redner, können ihr Genie an dem seinigen schärfen. Dieses große poetische Genie wird überall von Verstand und Weisheit geleitet, um auf das Zuversichtlichste auf seinem Wege fortzuschreiten. Er zeiget dem Verstand nichts unerhebliches, nichts unüberlegtes; der Einbildungskraft nichts kleines, nichts gekünsteltes, nichts subtiles; dem Gemüthe nichts unnatürliches, nichts übertriebenes, nichts unbestimmtes. Darum nennt ihn Horaz mit Recht den Mann,


–– Qui nil molitur inepte.


So hat das Alterthum fast ohne Ausnahm von dem Vater der Dichter geurtheilt. In den neuern Zeiten hat man unzählige Dinge an ihm auszusetzen gefunden. Man hat ihn beschuldiget, daß er ungesittet, unphilosophisch und unmoralisch sey. Man scheinet aber bey diesen Vorwürfen vorauszusetzen, daß Homer die Absicht gehabt habe, nach den abstrakten und gereinigten Begriffen der Philosophie und Moral seine Zeitgenossen zu lehren und zu bilden. Man erwartet einen Philosophen, der die Naturkunde, die Sternkunde, die Theologie, nach den Begriffen der heutigen Zeiten erkennt, der die moralische Vollkommenheit des Menschen nach dem höchsten Ideal gebildet habe. Ist es seine Absicht gewesen, einen idealischen Menschen zu schildern, so hat er sie schlecht erfüllt. Hat er sich aber vorgesetzt die Griechen, als die größten Helden zu schildern, den verschiedenen Stämmen derselben den Stolz einer edlen Herkunft einzuflössen, ihren Nationalcharakter durch Erzählung der wichtigsten Thaten ihrer Vorfahren, fester zu bilden; hat er dieses nach den Begebenheiten, deren Andenken noch nicht veraltert war, und nach den damaligen Sitten gethan, so ist sehr zu zweifeln, daß jemand zeigen werde, wie er es besser hätte thun können.

Man erkennt an diesem Dichter noch deutliche Spuhren von dem Charakter eines Barden.5 Er hat nichts von dem vorsichtigen Wesen eines gelernten Künstlers. Er singt nicht, weil er ein Liebhaber der Dichtkunst ist, sondern weil er einen öffentlichen Beruf dazu hat, Thaten, die noch in frischem Andenken waren, in dem Gedächtnis der Nation zu erhalten. Daß schon ältere Werke der Dichtkunst vor ihm vorhanden gewesen, nach denen er sein Model genommen, kann man nirgend merken; so sehr fließt bey ihm der volle Strohm aus seiner eigenen Quelle, ohne Spuhr einer künstlichen Veranstaltung.

1Ovid. Amor. III. 9.
2Est enim sane mirabile Homerum Legum ac reipubl. interpretem Lycurgo, oratorem Aeschini et Demostheni, bellatorem Alexandro, poetam Virgilio, Pindaro, Moscho probatum esse. Clodius super Quint. Iudicio de homero.
3'Ὁς ὀ μονον ἐν τῃ κατα την ποιησιν ἀρετῃ παντας ὑπερβεβληταμ – – ἀλλα χεδοντι καμ τῃ κατα τον βιον ἐμπειρίᾳ τον πολιτικον. Strabo. L. I.
4Gravina. L. I. c. IV. Man sehe auch die meister, hafte Schilderung dieses Dichters in Shaftesburys Advice to an Author. P.I. Sect. 3. auf der 196 u. 197. Seite.
5S. Dichtkunst auf der 254 S.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 546-548.
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