Leben

[679] Leben. (Mahlerey)

Es ist in der Mahlerey der äußerste Grad der Vollkommenheit, wenn lebendige Gegenstände so gemahlt sind, das man das Leben, die athmende Brust, die Wärme des Blutes und besonders das würklich sehende und empfindende Aug darin wahrzunehmen glaubet. Alsdenn schreibet man dem Gemähld ein Leben zu. Für die Mahlerey ist es von der höchsten Wichtigkeit, daß man auf das besondere Achtung gebe, woraus eigentlich dieses vermeinte Gefühl des Lebens entsteht. Wenn man einen Menschen in der größten Vollkommenheit in Wachs abbilden, und ihn mit den natürlichsten Farben bemahlen würde, so wäre doch schwerlich zu erwarten, daß man in der Nähe durch das Bild hinlänglich würde getäuscht werden, um es für eine lebendige Person zu halten. Es scheinet, daß der Ausdruk des Lebens von mancherley kaum nennbaren Umständen abhange.

Etwas davon muß durch die Zeichnung bewürkt werden, das übrige durch das Colorit. Der höchste Grad dessen, was man eine fließende Zeichnung nennt, kann viel dazu beytragen; weil in der Natur selbst alles, was zur Form gehöret, höchst fließend ist. Dieses kann auch bey dem besten Genie nur durch eine unermüdete und anhaltende Uebung im Zeichnen nach der Natur erhalten werden. Man empfiehlt dem Historienmahler mit Recht das Studium und Zeichnen des Antiken; sollt' er aber dabey die Natur selbst aus der Acht lassen, so wird er zwar edle, auch wol große Formen, und einen anständigen Ausdruk in seine Gewalt bekommen; aber das Leben wird er seinen Figuren nicht geben können. Man wird, wie in Poußins Gemählden nicht selten geschieht, in den Personen das Leblose des Marmors zu fühlen glauben.

Da auch die Natur, selbst da, wo sie nicht schön gezeichnet hat, doch nichts unausgeführt läßt, und selbst in den geringsten Theilen der Form etwas besonderes bestimmtes, oder individuelles hat, so muß auch der Zeichner, um sich dem Leben so viel, als möglich ist, zu nähern, nichts unausgeführet noch unbestimmt lassen. In den kleinesten Theilen, in Augen, Ohren, Haaren, Fingern, muß in den Umrissen nicht nur alles vollständig, sondern auch für jede Figur besonders bestimmt seyn. Wer nur allgemeine Gliedmaaßen zu zeichnen weiß, Augen und Finger, die nicht einem Menschen besonders zugehören, sondern das Ideal der menschlichen Augen und Finger sind; kann das Leben nicht erreichen. »Man muß, wie Mengs von Raphael sagt, sich begnügen, von dem Antiken (oder von dem Ideal) die Hauptformen zu gebrauchen, viel öfters aber in dem Leben das wählen und nachahmen, was jenem am nächsten kommt. Man muß, wie jener, erkennen, daß gewisse Gesichtsstriche auch gewisse Bedeutungen haben, und insgemein ein gewisses Temperament anzeigen; auch daß zu einem solchen Gesichte eine gewisse Art Glieder, Hände und Füße gehören.«1

Darum thun auch die Mahler nicht wol, die sich beständig nur an einem oder an zwey Modelen im Zeichnen üben. Man sollte damit öfters abwechseln, und jedes Model so lange nachzeichnen, bis man auch die geringsten Kleinigkeiten desselben nicht nur ins Aug, sondern auch in die Hand gefaßt hat, und hernach ein anderes nehmen. Und hieraus sollten junge Mahler lernen, was für anhaltender und brennender Fleis dazu erfordert wird, dasjenige im Zeichnen zu lernen, was zur Darstellung des Lebens nothwendig ist. Das beste Zeichnungsbuch, und wär es auch von Raphael selbst, das schönste Model, und einige der ausgesuchtesten Antiken, sind nicht hinlänglich, ihn im Zeichnen festzusetzen. Wenn [679] er dieses alles besizt, denn muß er erst sein Aug auf die Natur wenden. Er braucht nicht immer die Reißfeder in die Hand zu haben; aber sein Aug muß unaufhörlich beobachten, erforschen, abmessen, und jede Kleinigkeit gegen das Ganze halten. Zu dieser Uebung des Auges findet er die Gelegenheit den ganzen Tag hindurch. Noch schwerer scheinet es, durch das Colorit das würkliche Leben zu erreichen. Auch dieses hat sein Ideal,2 das der Mahler nach der würklichen Natur abändern muß. Darum kommen die Portraitmahler dem Leben allemal näher, als die Historienmahler. Aus dieser Ursache findet man unendlich mehr Leben, auch in Vandyks Historien, als in Rubens seinen. Aber man würde vergeblich versuchen, die Zauberstriche des Pensels zu beschreiben, wodurch die Haut ihre Weichheit, das Fleisch seine duftende Wärme, das Aug seine Feuchtigkeit, und selbst seine Gedanken und Empfindungen bekommt. Vermuthlich würden Titian und Vandyk selbst nur wenig von einer Kunst die sie vorzüglich besessen, gestammelt haben. Es kommt hier, außer der allgemeinen Behandlung, einer glüklichen Anlage und einer guten Wahl der Farben, auf unbeschreibliche Kleinigkeiten an. Die kleinesten kaum merklichen Lichter, Bliker und Wiederscheine, thun fast das meiste zu dem Leben. In den Werken der größten Coloristen, scheinen diese noch leichter, als in der Natur selbst zu entdeken. Die Natur ist die Originalsprache, das gemachte Bild eine Uebersetzung. Man muß hier, wie in würklichen Sprachen, die, in welche man übersetzt vollkommener besizen, als die Grundsprache. Mancher Mahler entdeket in dem Colorit der Natur kräftige Kleinigkeiten, empfindet ihre Würkung, kann sie aber mit seinen Farben nicht erreichen. Da ist es gut, wenn er in den Werken der größten Meister entdeken kann, wie es ihnen gelungen ist, das darzustellen, was ihm bey Nachahmung der Natur nicht möglich war. Es kommt hier einerseits auf ein erstaunlich scharfes und empfindsames Aug, und denn auf eine, durch tausend Versuche unterrichtete und noch glükliche Hand an.

Bisweilen erhält man durch Umwege, was man geradezu nicht erreichen vermag. Manche Stelle des Gemähldes, die das wahre Leben noch nicht hat, erhält es, durch die Bearbeitung einer andern Stelle. Dergleichen Beobachtungen ist man ofte dem Zufall schuldig. Also muß der Mahler bey der Arbeit des Pensels seinen Geist unaufhörlich zur Beobachtung der zufälligen Würkungen der Farben, der Lichter und Schatten, des Hellen und Dunkeln gegen einander, gespannet halten, damit ihm nichts davon entgehe. Arbeitet er in einiger Zerstreuung der Gedanken, so gelinget ihm bisweilen etwas, das er hernach mit keinem Suchen wieder nachmachen kann. Hätte er aber damals, als es ihm gelungen ist, auf alles, was er that Achtung gegeben, so würde er nun diesen Theil seiner Kunst besizen. Darum muß der Mahler, so gut, als der Philosoph seine Stunden haben, wo er sich in ein stilles Cabinet verschließt, um die höchste Aufmerksamkeit auf die Bemerkungen zu richten, die ihm die Uebung seiner Kunst entdeken läßt. Aber auch außer dem Cabinet, und in der Gesellschaft muß er überall mit einem forschenden Aug den Ton und die Farben des Lebens beobachten.

1Mengs Gedanken über die Schönheit S. 46. 47.
2S. Colorit.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 679-680.
Lizenz:
Faksimiles:
679 | 680
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Zwei Schwestern

Zwei Schwestern

Camilla und Maria, zwei Schwestern, die unteschiedlicher kaum sein könnten; eine begnadete Violinistin und eine hemdsärmelige Gärtnerin. Als Alfred sich in Maria verliebt, weist diese ihn ab weil sie weiß, dass Camilla ihn liebt. Die Kunst und das bürgerliche Leben. Ein Gegensatz, der Stifter zeit seines Schaffens begleitet, künstlerisch wie lebensweltlich, und in dieser Allegorie erneuten Ausdruck findet.

114 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon