Mitleiden

[766] Mitleiden. (Schöne Künste)

Die liebenswürdige Schwachheit, der man den Namen des Mitleidens gegeben hat, verdienet in der Theorie der schönen Künste besonders in Betrachtung zu kommen. Verschiedene Werke der Kunst ziehlen blos darauf ab, uns diese Art der Wollust, die das Mitleiden mit sich führet, genießen zu lassen. Darum wollen wir hier die Natur und die Würkungen dieser Leidenschaft betrachten, und hernach über den Gebrauch derselben in den schönen Künsten einiges anmerken.

Wir empfinden Mitleiden, indem wir andre Menschen, an deren Schiksal wir Antheil nehmen, für unglüklich halten; es sey daß sie selbst dabey leiden, oder nicht. Denn oft entsteht das größte Mitleiden, wenn wir andre unglüklich sehen, ob sie gleich selbst ihr Elend nicht fühlen, wie bey Wahnwizigen geschieht. Das erste also, was zum Mitleiden erfodert wird, ist, daß wir andre für unglüklich halten; das zweyte, daß wir Antheil an ihrem Schiksal nehmen müssen. Sowol bey der einen als bey der andern dieser Bedingungen ist verschiedenes anzumerken, das eine nähere Ausführung erfodert.

Zuerst also richtet sich das Mitleiden nach den Vorstellungen, die wir selbst von dem Elend, oder Unglük haben. Wer niederträchtig genug ist, selbst keine Empfindung der Ehre zu haben, dem wird die Erniedrigung, oder Demüthigung, die einem andern[766] wiederfährt, kein Mitleiden erweken, und so wird der, welcher den Besiz des Reichthums gering schäzet, kein Mitleiden mit dem haben, der sein Vermögen verlohren hat; auch sogar alsdenn nicht, wenn es diesem schmerzhaft ist. Es giebt so gar Fälle, wo wir den über sein Elend klagenden, schelten, und es ihm übel nehmen, daß er sich elend fühlet. So gewiß ist es, daß wir nur alsdenn Mitleiden haben, wo wir selbst leiden würden, wenn wir an des andern Stelle wären.

Die andere Erfodernis zum Mitleiden ist, daß uns die Personen, deren Elend wir fühlen sollen, nicht gleichgültig seyen. Denn das Elend derer, für die man gleichgültig ist, macht keinen Eindruk; trift es Personen, die man hasset, so macht es so gar Vergnügen. Aber auf den höchsten Grad steiget es, wenn das Elend Personen betrift, für die man große Hochachtung, oder sehr zärtliche Zuneigung hat. Ueberhaupt ist ein Mensch nur in so fern zum Mitleiden geneigt, als er Achtung und Zuneigung gegen andre hat. Es giebt Menschen, die Niemand achten, als sich, und die, welche ihnen angehören, und diese sind gegen alle Menschen hart und unempfindlich – Große, die alles verachten, was unter ihrem Stand ist: diese haben nur mit Personen ihres Standes Mitleiden; sie sehen die Noth der geringern, ohne die geringste Rührung. Nicht selten findet man Menschen, die so sehr in sich selbst verliebt, und dabey so kurzsichtig, und daher so ungerecht sind, daß sie jeden andern Menschen, der nicht so denkt und handelt, wie sie es erwarten, verachten, oder gar hassen, und daher kein Mitleiden mit ihm haben. Daher kommt es, daß Menschen, die gegen ihre Freunde sehr mitleidig sind, ohne alles Gefühl des Mitleidens mit Feuer und Schwerdt gegen die wüthen, die in bürgerlichen, oder gottesdienstlichen Angelegenheiten, von einer andern Parthey, als sie selbst sind. Ich habe einen Mann gekannt, der sich aus unmenschlichen Grausamkeiten ein Spiel machte, und für Mitleiden fast außer sich kam, wenn er eines seiner Kinder leiden sah. So wenig kann man auf das gute Herz eines Menschen den Schluß machen, wenn man ihn von Mitleiden gerührt sieht.

Der Dichter, der Thränen des Mitleidens will fließen machen, muß also nicht nur das Elend der Personen lebhaft schildern, sondern vorher unsre Hochachtung und Zuneigung für sie erweken. Beydes hat Shakespear in einem hohen Grade beseßen. Auch Euripides kann darin als ein Muster angeführt werden, vorzüglich in Schilderung des Elends. Und wem wird nicht hier die Clarissa, oder die Clementina della Poretta, als vollkommene Muster beyfallen? Ist der hochachtungswürdige Mensch bey seinem Leiden noch geduldig, oder entsteht sein Elend ganz unmittelbar aus der Größe seiner Tugend, so steiget das Mittleiden auf den höchsten Grad. Im erstern Falle befindet sich Anchises in der Aeneis, der im größten Elende die andern in ihrem Mitleiden gegen ihn noch tröstet.


Sic o! sic positum adsati discedite corpus.

Ipse manu mortem inveniam; miserebitur hostis

Exuviasque petet: facilis jactura sepulchri est.1


Für den andern Fall kann eine Scene aus Thomsons Tancred und Sigismunde angeführt werden, die jedem Menschen von Empfindung das Herz durchbohrt. Der alte Siffredi, der Sigismunde Vater, ist ein verehrungswürdiger Held, dem Tancred seine Errettung vom Tode, seine Erziehung, und zulezt die Crone von Sicilien zu danken hat. Tancred verehret und liebet ihn auch als seinen Vater. Aber da dieser verliebte Jüngling erfährt, daß Siffredi, obgleich in der edelsten Absicht, und aus einem Uebermaaß von Tugend, seine Verbindung mit Sigismunde hintertreibet, bricht er in den heftigsten Zorn gegen ihn aus; nennet seinen Wolthäter und Erretter einen alten Betrüger, und begegnet ihm, wie einem Nichtswürdigen. Da auch Tancred selbst ein hochachtungs- und liebenswürdiger Jüngling ist, so übernihmt uns zugleich auch ein tiefes Mitleiden für ihn, der sich durch die Heftigkeit der Leidenschaft zu dieser Abscheulichkeit hinreißen läßt. Man wird ungewiß, ob man mehr mit Siffredi oder mit Tancred Mitleiden haben soll. Dies ist meines Erachtens eine der stärksten tragischen Scenen, die möglich sind.

Der Redner, oder der Dichter, der sich vorsezt zum Mittleiden zu bewegen, muß wol bedenken, für was für eine Gattung Menschen er arbeitet; denn nach der Sinnesart und dem Charakter der Menschen richten sich ihre Vorstellungen von Elend und Unglük. Weichliche, verzärtelte Menschen werden mitleidig, wenn andre Ungemach, oder auch nur geringe körperliche Schmerzen ausstehen, und wer vorzüglich zur Zärtlichkeit und Liebe geneigt ist, fühlt bey einer unglüklichen Liebe das größte Mitleiden, wo ein andrer nur spotten würde. Es giebt Menschen [767] die nicht begreifen können, daß man unglüklich sey, so lange man Macht oder Reichthum besizt, und dadurch in Stand gesezt wird, sich alles, was zum Vergnügen der Sinnen gehört, zu verschaffen. Wie die Menschen, nach einer gemeinen, oder feineren Sinnesart, ihr Vergnügen an gröberen, oder feineren Dingen finden, so urtheilen und empfinden sie auch verschiedentlich bey dem Elend, und danach richtet sich nothwendig das Mitleiden.

Die unmittelbare Würkung dieser Leidenschaft, in so fern sie durch die Werke der schönen Künste erregt wird, ist gar ofte nur vorübergehend; eine bey dem Schmerz nicht unangenehme Empfindung, weil der Mensch alles liebet, was sein Gemüth ohne wiedrige dauernde Folgen in Bewegung sezet.2 So ist das Mitleiden, das wir mit dem Oedipus beym Sophokles haben. Es kann auf nichts abzielen. Doch giebt es auch Gelegenheiten, wo mehr damit ausgerichtet wird. Der Redner kann durch Erwekung des Mitleidens für einen Beklagten, ihn von der Strafe retten; oder wo das Mitleiden für einen Beleidigten rege gemacht wird, dem Beleidiger eine schwerere Strafe zu ziehen. Aber die gute Würkung des Mitleidens kann sich, wenn nur die Sachen recht behandelt werden, noch weiter erstreken. Dieses verdienet eine nähere Betrachtung.

Wenn wir unter eigenem Schmerzen fremdes Elend sehen, das aus Boßheit, Uebereilung, oder blos unschiklichem Betragen andrer Menschen auf die Leidenden gekommen ist; so werden wir dadurch kräftig gewarnet, uns selbst vor solchem Betragen, dadurch andre unglüklich werden, sorgfältig zu hüten, und wir werden mit lebhaftem Unwillen die Boßheit verabscheuhen, die andre elend gemacht hat. So würkt das Mitleiden, das wir mit der Iphigenia und ihrer Mutter haben, Abscheu gegen die verdammte Ehr- und Herrschsucht des Agamemnons, der selbst das Leben einer liebenswürdigen Tochter aufgeopfert worden. Wer wird nicht, wenn ihn das Elend eines unterdrükten Volks bis zu Thränen gerührt hat, die Tyranney und jeden Unterdrüker auf ewig hassen? Wer kann, ohne dem Geiz zu fluchen, die mitleidenswürdige Scene betrachten, die Horaz so rührend schildert.3 Ueberhaupt also kann das Mitleiden dienen, Haß und Abscheu gegen solche Laster zu erweken, wodurch unschuldige Menschen unglüklich werden. Der Künstler verdienet unsern Dank, der die Scenen des Elends, das Laster über unschuldige gebracht hat, so schildert, daß wir lebhaftes Mitleiden fühlen. Der gottlose boshafte Mensch wird freylich dadurch nicht gebessert; aber die Menschlichkeit gewinnt doch dabey, wenn er gehaßt und verabscheuhet wird.

Aber nicht nur ganz verworfene, sondern auch sonst noch gute Menschen, können durch Leidenschaften verleitet, oder aus Uebereilung, aus Vorurtheil, und mancherley Schwachheiten, andre Menschen elend machen. Das Mitleiden, das wir dabey empfinden, warnet uns ernstlich, daß wir gegen solche Schwachheiten auf guter Hut seyen. Wird nicht ein Vater sich hüten, einer sonst liebenswürdigen, aber von Zärtlichkeit übereilten Tochter mit Härte zu begegnen, wenn er das Mitleiden über so mancherley Jammer, das eine solche Härte über ganze Familien gebracht hat, gefühlt, wenn er z.B. Shakespears Romeo und Juliette vorstellen, gesehen? Welcher Jüngling, wenn er nicht ganz des Gefühls beraubet ist, wird sich nicht mit äußerster Sorgfalt in Acht nehmen, ein zärtliches Mädchen, zu dessen Besiz er nicht gelangen kann, zur Liebe gegen ihn zu verleiten, wenn er das Mitleiden gefühlt hat, das Clementinens Wahnwiz in jedem nicht ganz unempfindlichen Herzen auf das lebhafteste erweket?

Aus diesen und tausend andern Beyspielen erhellet, was für gute Würkungen aus dem Mitleiden durch die Werke der schönen Künste erfolgen können. Vielleicht wär es auch möglich harte und unempfindliche Seelen, die durch fremde Noth noch nie gerührt worden, durch solche Werke allmählig empfindsam zu machen. Was sie bey den verschiedenen mitleidenswürdigen Scenen des Lebens noch nicht gefühlt haben, könnte ihnen vielleicht durch recht lebhafte Schilderungen nach und nach fühlbar werden.

Allein es verdienet auch angemerkt zu werden, daß das Mitleiden, wie alle sonst unmittelbar gute Leidenschaften, schädlich werden kann, wenn es zu weit getrieben wird. Seiner Natur nach benihmt es immer der Seele von ihrer Stärke. Der Mensch aber bekommt seinen Werth mehr von den würkenden, als von den leidenden Kräften; man kann sehr mitleidig und im übrigen sehr wenig werth, und keiner, nur ein wenig Anstrengung der Kräfte erfodernden, guten Handlung fähig seyn. Also könnte der übertriebene Hang zum Mitleiden in bloße Weichlichkeit ausarten. Alsdann würde es auch zu nichts [768] dienen, als daß der Mitleidige sich selbst durch seine Empfindsamkeit elend machte. Wie es ofte geschieht, daß Menschen vor allzugroßem Schmerzen ohnmächtig werden, und zur Erleichterung ihres eigenen Elendes nichts mehr thun können; so kann auch der, den das Mitleiden niederdrükt, in manchen Fällen dem Elenden wenig Hülfe leisten. Und wie es nicht mehr heilsame Empfindsamkeit, sondern höchstschädliche Schwachheit ist, jede uns betreffende Beschwerlichkeit lebhaft zu fühlen; so ist ein ähnliches Gefühl für andre keine tugendhafte Regung. Das Mitleiden muß sich nicht auf geringe und in ihrem Folgen nüzliche Ungemächlichkeiten, vielweniger auf blos eingebildetes Elend erstreken. Warum wollte man z.B. mit Leuten, die harter Arbeit gewohnt sind, die, damit zufrieden, sich ihren täglichen Unterhalt dadurch schaffen, und zugleich nothwendige Geschäfte, derer die Gesellschaft nicht entbehren kann, verrichten, Mitleiden haben? Oder warum sollte man weichliche Menschen, die von jeder Beschwerlichkeit niedergedrükt werden, durch Mitleiden noch zaghafter machen? Also gilt auch von dieser an sich liebenswürdigen Leidenschaft, was Aristoteles mit Recht von allen sittlichen Eigenschaften fodert, sie muß das Mittelmaaß nicht viel überschreiten.

Aus diesen Betrachtungen über die Natur und die Folgen des Mitleidens, kann der Künstler lernen, was er in Absicht auf dasselbe zu thun hat. Will er Mitleiden erweken, so muß er das Elend, das unsre Empfindsamkeit reizen soll, lebhaft schildern; für die leidenden Personen muß er uns einnehmen, muß ihre Unschuld, ihre Tugend, die ein bessers Schiksal verdiente, oder ihre Gelassenheit und Geduld; daneben ihr Leiden, die Unmöglichkeit, daß sie sich selbst helfen, uns fühlen lassen; er muß uns helfen, uns selbst in die Umstände der leidenden zu sezen, damit wir alles recht fühlen; denn muß er bisweilen das Mitleiden selbst, daß er, oder andere bey dieser Sache schon fühlen, so lebhaft, als ihm möglich ist, ausdrüken; weil dieses allein uns schon zu derselben Empfindung reizet. Dieses alles bedarf keiner weitern Ausführung.

Mit reifer Ueberlegung hat der Künstler zu bedenken, wohin das Mitleiden, das er in uns rege machen will, abzielen könne, oder müsse. Werke, die auf blos vorübergehendes unfruchtbares Mitleiden abzielen, in welchem Fall vielleicht die meisten Trauerspiele sind, so angenehm sie auch sonst seyn mögen, sind von keiner großen Wichtigkeit, wo sie nicht durch Nebensachen wichtig werden. Vorzüglich wähle der Künstler einen Stoff, wodurch er Mitleiden erweket, dessen Würkungen, wie vorher gezeiget worden, heilsam sind; wodurch er Abscheu, oder Feindschaft gegen Grausamkeit, Boßheit und gegen Laster, Furcht vor Schwachheiten und Vergehungen, dadurch andre elend werden können, auf eine dauerhafte Weise in die Gemüther pflanzen kann. Aber er hüte sich uns ein blos eingebildetes Elend, als ein Würkliches vorzustellen. Er fodre nicht von uns, daß wir mit einen König Mitleiden haben, der durch unverzeichliche Schwachheit darum sich unglüklich fühlt, weil er seine Neigung zu einer Buhlerin dem Besten des Staats aufzuopfern nicht im Stand ist. Dieses verdienet mehr unsern Unwillen, als unser Mitleiden. Er mache uns nicht weichherzig, wenn Cato den Untergang der Freyheit nicht überleben will, und sich von dem weit grössern Elend der Schmeichler eines Tyrannen, oder allenfalls auch nur der Zeuge seiner Handlungen zu seyn, durch einen freywilligen Tod befreyt; oder wenn ein rechtschaffener Mann, wie Phocion ein Opfer der Tyranney wird, da sein Tod uns mit Hochachtung für ihn erfüllet. Der Held bedarf unsers Mitleidens nicht, und den Tyrannen verabscheuhen wir, ohne erst durch dieses Mitleiden dazu vermocht zu werden.

1Aeneid. L. II.
2Man sehe, was hievon im Art Leidenschaften, S. 701 angemerkt worden.
3Od. L. II. Od. 18. vs. 26. ss.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 766-769.
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