Mittelfarben

[769] Mittelfarben. (Mahlerey)

Man ist über die Bedeutung dieses Worts nicht überall einstimmig. Der Hr. von Hagedorn merkt an,1 das diejenigen den Sinn desselben zu sehr einschränken, die nur die Schattirungen, die zu den Halbschatten gebraucht werden, darunter verstehen, da man auch in dem ganzen Lichte Mittelfarben haben muß; er dähnet auch die Benennung sogar auf die Farben aus, wodurch die Würkung der Wiederscheine besonders ausgedrükt wird. Nach diesem Begriffen gehört jede Farbe oder jede Tinte, die aus Vereinigung zweyer in einander übergehender Farben entsteht, oder derselben zu Hülfe kommt, zu den Mittelfarben. Die Mittelfarben aber bekommen nach ihrem Ursprung und ihrer Anwendung verschiedene Namen. In so fern sie aus ganzen Farben durch Vermindrung ihrer Stärke entstehen, werden sie gebrochene Farben genennt; und indem sie zu Schattirungen zwischen Licht und Schatten [769] gebraucht werden, bekommen sie den Namen der Halbschatten und der Zwischenfarben.

Ueberhaupt also gehören alle Tinten, wodurch die eigenthümliche Farb eines Gegenstandes von dem höchsten Licht allmählig abnihmt, es sey, daß sie sich in ganzen oder halben Schatten verliehret, oder nur in eine andere weniger helle Farbe herübergeht, zu den Mittelfarben. Man sieht Köpfe von Van Dyk, an denen man keine Schatten wahrnihmt, ob sie sich gleich vollkommen runden. Diese Würkung ist eben sowol den Mittelfarben zuzuschreiben, als die ähnliche Würkung, die durch Licht und Schatten erhalten wird. Die meisten Farben also, die von dem Pensel auf das Gemählde getragen werden, sind Mittelfarben, und durch sie wird die wahre Haltung und Harmonie hervorgebracht. Die flache chinesische Mahlerey unterscheidet sich von der unsrigen durch den gänzlichen Mangel der Mittelfarben.

Einigermaaßen könnte die Haltung ohne Mittelfarben, durch dunkele Schraffirungen erreicht werden, wovon wir an vielen Kupferstichen etwas ähnliches sehen. Aber die wahre Farbe der Natur, die wunderbare Harmonie, da aus unzähligen Tinten, deren jede ihre besondere Farbe hat, nur ein einziges warmes und duftendes Farbenkleid des Nakenden entsteht, so wie der liebliche Schmelz und das Durchsichtige, wodurch, wie Hagedorn sich glüklich ausdrükt,2 die Schatten gleichsam nur über die Gegenstände schweben, dieses ist die Würkung der Mittelfarben.

Also hängt die wahre Vollkommenheit des Colorits ganz von den Mittelfarben ab. Sie sind es, die uns in den schönsten Gemählden der Niederländer bezaubern, und uns vergessen machen, daß wir ein Gemählde sehen. Ohne sie kann ein Gemählde in Erfindung, Zeichnung und Anordnung groß seyn; kein aus der Natur nachgeahmter Gegenstand aber sein wahres Ansehen bekommen. Nur ein ausserordentlicher Fleis, den viele an den holländischen Mahlern zu verachten scheinen, von einem höchst empfindsamen Aug unterstüzt, führet zu der Fertigkeit die wahren Mittelfarben der Natur zu entdeken, und die Gegenstände in der vollkommenen Färbung der Natur vorzustellen.

Nichts würde vergeblicher seyn, als den jungen Mahler durch Regeln in der Kunst der Mittelfarben unterrichten zu wollen. Hat er das feine Gefühl, was dazu erfodert wird, so kann man ihm weiter nichts sagen, als daß ihm eine genaue Beobachtung der Natur und der wunderbaren Werke der Niederländer empfohlen wird.

1Betracht über die Mahlerey S. 681.
2S. Betrachtungen über die Mahlerey S. 302.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 769-770.
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