Nachläßigkeit

[801] Nachläßigkeit. (Schöne Künste)

Es giebt in Bearbeitung der Werke der Kunst eine Nachläßigkeit, die Unvollkommenheit und Mangel zeuget, und eine andere von guter Würkung, die deswegen [801] von Cicero negligentia diligens, die wol überlegte Nachläßigkeit genennt wird: jene ist würklich, liegt im Künstler und verstellt sein Werk; diese ist nur scheinbar von guter Würkung in dem Werke. Die würkliche, tadelhafte Nachläßigkeit ist Mangel des Fleißes und der Genauigkeit jedem Theile des Werks die in Rüksicht auf das Ganze ihm zukommende Vollkommenheit zu geben; sie entstehet aus dem Nachlassen der Bestrebung richtig zu handeln, oder zu verfahren. Es ist nicht Nachläßigkeit, wenn in einer Landschaft entfernte Gegenstände weder mit Fleiß ausgezeichnet, noch durch Licht und Schatten und alle Mittelfarben naher Gegenstände ausgemahlt sind. Wenn der Mahler die Landschaft so mahlt, wie sie ihm in der Natur erscheint, so muß man ihn deswegen, daß nicht jedes für sich deutlich und bestimmt ist, keiner Nachläßigkeit beschuldigen. Nachläßig aber ist der, der aus Trägheit, oder aus Leichtsinn, entweder dem Ganzen, oder einem Theil, nicht alle Vollkommenheit giebt, die sie nach der Absicht haben sollten: auch der Stolz des Schriftstellers, wie einer unsrer Kunstrichter wol anmerket1, der für seine Leser, nachdem er einmal im Besiz ihrer Bewundrung zu seyn glaubt, alles für gut genug achtet, verleitet zur Nachläßigkeit.

Die Nachläßigkeit betrift entweder die Materie, die Gedanken und Bilder, die der Künstler zu seinem Werk zu erfinden und zu wählen hat, oder blos die Darstellung, den Ausdruk und die Ausbildung derselben. Im ersten Falle kann sie leicht unreife, nur halb richtige, unbestimmte Gedanken, übel gewählte Bilder hervorbringen; im andern Falle wird der Künstler halb unverständlich, oder verworren, oder er sagt wol gar etwas anders, als er gedacht hat. Es läßt sich kaum ausmachen, welche der beyden Arten der Nachläßigkeit schlimmer sey; vor beyden soll sich der Künstler so viel immer möglich ist, in Acht nehmen.

Junge, im Denken und Erfinden noch wenig geübte Künstler, sind deswegen in der Wahl ofte nachläßig; weil sie ihrem Gefühl, und dem ersten Eindruk, den die Sachen auf sie machen, zu viel trauen. Sie halten etwas für wahr, weil sie die Sachen nur einseitig, oder aus einem zu eingeschränkten Gesichtspunkte, betrachten; oder für schön, weil sie noch höhere Schönheit in derselben Art, noch nicht gefühlt haben. Dieses zeuget eine Zuversichtlichkeit aus welcher die Nachläßigkeit in der Wahl entsteht. Das Wahre hat, wie das Schöne und Gute, mehrere Seiten, und ändert gar ofte seine Natur nach der Verschiedenheit der Gesichtspunkte. Es gehöret lange Erfahrung und viel Uebung dazu, sich überall in den besten, oder eigentlichsten Gesichtspunkt zu setzen, aus dem die Sachen am richtigsten zu beurtheilen sind. Darum kann man junge Künstler und Kunstrichter nicht genug vor dem Leichtsinn in Beurtheilung, der die Nachläßigkeit in der Wahl hervorbringet, warnen. Mancher gute Künstler und Schriftsteller würde sehr viel dafür hingeben, wenn er seine ersten aus Uebereilung hingesezten Gedanken wieder zurüknehmen könnte. Zuerst ist es ihnen unbegreiflich, wie andere daran etwas aussetzen können; nachher aber, wenn sie erst mehr Kenntnis der Sachen bekommen haben, begreifen sie nicht mehr wie sie selbst so zuversichtlich bey der Sache haben seyn können.

Die Nachläßigkeit in Darstellung und Bearbeitung der Gedanken hat ofte ein zu großes Feuer der Begeisterung zum Grunde, in welcher man alles bestimmt, lebhaft, schön sieht oder empfindet, und sich einbildet, daß man es eben so ausdrüke, obgleich der Ausdruk gar sehr weit hinter der Empfindung zurüke bleibet. Dagegen verwahret man sich durch eine fleißige Ausarbeitung, wovon anderswo gesprochen worden.2

Die Nachläßigkeiten, die sich in einem sonst mit Fleiß und guter Ueberlegung verfertigten Werke, in wenigen einzelen Stellen finden, machen zwar allemal um so mehr wiedrige Fleken, je schöner und vollkommener das Werk überhaupt ist; aber sie verdienen einige Nachsicht, weil es schwerlich irgend einem Menschen gegeben worden; nie nachzulassen. So sehr es also gut zu heißen ist, wenn ein Kunstrichter, nachdem er einem guten Werk hat Gerechtigkeit wiederfahren lassen, die nachläßigen Stellen desselben mit Bescheidenheit rüget; so ungerecht und unverständig ist es, wenn er in einem solchen Werk blos die Nachläßigkeiten aufsucht und sie dermaaßen ahndet, als wenn das ganze Werk durchaus schlecht wäre. Ein Vergehen, dessen sich viel Kunstrichter, entweder aus Partheylichkeit, oder aus Eitelkeit nur gar zu ofte schuldig machen.

Die überlegte Nachläßigkeit, deren wir oben erwähnt haben, besteht darin, daß unwichtige, aber doch des Zusammenhanges, oder andrer Umstände[802] halber nothwendige Theile mit wenig Fleiß oder ohne Genauigkeit hingeworfen werden, damit die Aufmerksamkeit sich nicht darauf verweile. So behandelt der Mahler gar ofte die Nebensachen etwas nachläßig, damit es ihm nicht gehe, wie dem Gerhard Dow, oder dem Franz Mieris, deren Gemählde gar ofte die Bewunderung unverständiger Liebhaber in Nebensachen erhalten haben, da die Hauptsachen unbemerkt geblieben sind. Auf eine ähnliche Weise geht es dem ältern Adam, von welchem in Sans-Sußi vier Gruppen, die vier Elemente vorstellend, sind. Die meisten Menschen sehen in der Gruppe, die das Wasser vorstellt, blos das fein und künstlich in Marmor ausgearbeitete Fischernez, und werden davon so eingenommen, daß sie auf das Ganze und auf die Erfindung gar nicht achten. Also wär es viel besser gewesen, das Nez nachläßiger zu bearbeiten. So findet man, daß die alten Bildhauer und Steinschneider gar ofte die Nebensachen mit Nachläßigkeit behandelt haben. Der Redner, der in einer Wiederlegung schwache Nebenbeweise seines Gegners mit eben der Genauigkeit zergliedern und wiederlegen würde, als die Hauptbeweise, würde seiner Sache sehr schaden.

Eines der größten Geheimnisse der Kunst besteht darin, daß die Gemüther durch die Kraft und Richtigkeit in den Hauptsachen so sehr eingenommen werden, daß die Nachläßigkeit in Nebensachen ihnen nicht merklich werden. Ofte stellen wenige Meisterzüge ein Bild mit so großer Lebhaftigkeit vor unser Aug, daß wir selbst, ohne es zu wissen, das übrige, was zur Genauigkeit der Nebensachen nöthig ist, hinzudenken, und gar nicht merken, daß etwas fehlet.

1S. Schlegels Gatteux in den Anmerkungen über das 5 Cap. des 2ten Th.
2S. Ausarbeitung.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 801-803.
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