Ausarbeitung

[94] Ausarbeitung. (Schöne Künste)

Die letzte, aber nicht unwichtigste Arbeit des Künstlers, an seinem Werk. Durch die Anlage werden die Haupttheile desselben blos nach dem Wesentlichen ihrer Beschaffenheit bestimmt und geordnet; durch die Ausführung und Ausbildung, werden die kleinern Theile der Haupttheile richtig bestimmt, wodurch das Werk vollständig wird; durch die Ausarbeitung aber wird alles Zufällige jedes einzelen Theiles auf das völligste bestimmt, und dadurch das Werk vollendet. In einem Portrait würde nach der bloßen Anlage das Bild im Ganzen betrachtet in Ansehung der Zeichnung das völlige Ansehen der Person bereits haben; jeder Haupttheil würde überhaupt in Ansehung des Colorits [94] das Licht und die Farbe haben, die ihr zukommt: nach der Ausführung würde auch jeder einzele Theil in seiner wahren Verhältniß und Form gezeichnet seyn, sein gehöriges Licht und die wahre Farbe haben; aber die genaueste Verbindung der kleinesten Theile unter einander, die Mittellichter, Widerscheine und die feineren Tinten, wodurch das Bild die eigentliche Wahrheit und Natur bekommt, fehlen noch: diese werden durch die Ausarbeitung hineingebracht. Wenn durch die ersten Arbeiten das Bild ähnlich wird; so bekommt es nur durch die vollkommene Ausarbeitung das Leben, wodurch es nicht mehr wie ein Bild, sondern wie die Sache selbst erscheint.

Durch die Anlage ist der Charakter des Werks bereits bestimmt; zu der Hauptwürkung, die es thun soll, sind die würkenden Kräfte vorhanden; durch die Ausführung werden diese Kräfte näher bestimmt und bekommen ihre eigentliche Verhältnisse unter einander; durch die Ausarbeitung wird ihre Würkung erleichtert, werden alle Hindernisse gehoben, bekommt das Werk eine Vollkommenheit, zu welcher sich in dieser Art nichts hinzudenken läßt. Ohne sie also kann kein Werk ganz vollkommen seyn. Ist sie nicht der wichtigste Theil der Arbeit des Künstlers, so ist sie doch der, durch den die andern ihre höchste Wichtigkeit erreichen.

Da wo zur völligen Würkung eine Täuschung nothwendig ist, wie in Gemählden und im Schauspiel, da ist die genaueste Ausarbeitung von der höchsten Nothwendigkeit, weil sie das meiste zu der Täuschung beyträgt. In den redenden Künsten wird der höchste Ton der Wahrheit, der Einfalt, der Leichtigkeit nur durch die vollkommene Ausarbeitung erhalten.

Es giebt Werke, die ohne die vollkommene Ausarbeitung einen großen Werth haben. Sichtbare Gegenstände, die weit aus dem Gesichte gesetzt werden, bedürfen ihrer nicht, sie würde so gar schädlich seyn; und in der Musik will auch ein sehr stark besetztes, mithin auch in einer großen Entfernung zuhörendes Tonstük, nicht so ausgearbeitet seyn, wie ein Trio. Ueberhaupt wird in allen Stüken, wodurch starke Empfindungen sollen erregt werden, eine genaue Ausarbeitung unnöthig; am nöthigsten aber in Werken, deren Charakter Anmuthigkeit und Ruhe ist.

Ausgearbeitete Werke erscheinen niemals in den ersten Zeiten der Kunst; das Große kömmt früher, als das Schöne: wo aber die Ausarbeitung für das wesentlichste der Künste gehalten wird, da sind sie ihrem Untergange nahe.

Einige französische Schriftsteller glauben, daß ihre Nation gegenwärtig in diesem Fall sey. In der That ist vielleicht niemals ein Volk gewesen, wenn man die griechischen Rhetoren unter den römischen Kaisern ausnimmt, das in den redenden Künsten die Ausarbeitung so weit getrieben hat, als die französischen Schriftsteller thun. Was sie zu viel thun, das thun die deutschen zu wenig. Die wenigsten deutschen Schriftsteller sehen die Ausarbeitung als einen Theil der Kunst an. Man könnte sich darüber trösten, wenn nur dieser Mangel, wie etwa beym Aeschylus, durch höhere Vollkommenheiten ersetzt würde.

Doch ist dieses nicht so zu verstehen, als wenn jene fürtreffliche Eigenschaften nicht ohne lange und mühsame Bearbeitung könnten erhalten werden. Die Ausarbeitung ist nicht allezeit schweer, auch nicht immer von den übrigen Arbeiten der Künstler abgesondert. Es giebt Werke, die durch eine einzige Bearbeitung vollkommen werden; aber sie sind selten. Die letzte Vollkommenheit hängt von so viel Kleinigkeiten ab, daß nur eine lang anhaltende Betrachtung und ein sehr öfteres Ueberdenken selbige bemerkt. So lange man von den Haupttheilen, die die größte Kraft haben, eingenommen ist, so lange wird die Aufmerksamkeit den kleinern Theilen entzogen. Wer eine sehr reizende Person zum erstenmal sieht, wird einige kleine Mängel so wol in ihrem Gesichte, als in ihren Manieren, nicht beobachten. Die Stärke der Empfindung läßt ihm keine Muße, sie zu beobachten. So urtheilen wir auch von den Werken der Kunst. Der Künstler, der in der Hitze der Einbildungskraft arbeitet, hat nur auf die Hauptsachen Acht; die feinen Theile entgehen ihm. Nur auf einem vollkommen stillen Wasser bildet sich ein Gegenstand in der vollkommensten Aehnlichkeit ab; und eben so kann nur das ganz ruhige Gemüth des Künstlers jeden kleinen Mangel in seinem Werk entdeken, und jede kleine Schönheit hinein bringen.

Gar oft haben die vollkommensten Werke das Ansehen, als wenn sie ohne alle Mühe der Ausarbeitung, mehr auf einmal geschaffen, als durch öftere [95] Bearbeitung nach und nach entstanden, wären. Aber man glaube nicht, daß diese Leichtigkeit ohne Mühe erhalten worden. Insgemein ist das, was am leichtesten begriffen wird, dem Künstler am schweersten worden. Man sehe hierüber, was der scharfsinnige Verfasser des Versuchs über Popens Genie und Schriften sagt.1 Folgendes ist daraus genommen. »Moliere soll ganze Tage über ein schikliches Beywort, oder über einen Reim zugebracht haben, ob in seinen Versen gleich alle Flüssigkeit und Freyheit des natürlichen Gesprächs herrschet. – Man erzählt, Addison sey erstaunlich eigen in Ausputzung seiner prosaischen Arbeiten gewesen, daß er, nachdem der ganze Abdruk einer Auflage bey nahe geschehen war, den Druk verhindern wollte, um eine neue Präposition oder Conjunktion einzuschalten.« Horaz hielt die Bemerkung alles dessen, was zur vollkommenen Ausarbeitung gehört, für so wenig leicht, daß er dem Künstler das Nonum prematur in annum anräth.

Die Nothwendigkeit einer langen Zurükhaltung des Werks, das vollkommen erscheinen soll, läßt sich am leichtesten daher begreifen. Nur an den Dingen, die uns durch den täglichen Gebrauch sehr geläufig worden, erkennen wir jeden kleinen Mangel, und jede kleine Vollkommenheit. Also auch in Werken des Geschmaks. Erst alsdenn, wenn man sie, wie man es nennt, auswendig kann, ist man im Stande, alle Kleinigkeiten zu bemerken. Dieses aber ist eben das, worauf es bey der Ausarbeitung ankömmt. Wer also in der Ausarbeitung nichts versäumen will, muß sein Werk, nachdem es durch die Ausführung alle seine Theile bekommen hat, noch eine hinlängliche Zeit in seinem Busen herum tragen; damit er es oft so wol im Ganzen, als in den Theilen übersehen könne. Nur diese genaue Bekanntschaft mit seinem Werke setzet den Künstler in Stande, die Ausarbeitung desselben glüklich zu vollführen.

Eine wichtige Sache dabey ist das kalte Blut. So wichtig das Feuer der Einbildungskraft beym Entwurf eines Werks ist, so schädlich ist es der Ausarbeitung, davon wird der Philosoph psychologische Gründe angeben. Eine erhitzte Phantasie sieht in jedem Gegenstand mehr, als würklich darin ist. Der Künstler also, der mit Feuer entwirft, läßt manches aus; weil er es sieht, ohne daß es würklich vorhanden ist. Könnte er die, für welche er arbeitet, beym Anschauen seines Werks in eben die Fassung setzen, in welcher er bey Verfertigung desselben gewesen ist, so würde die Ausarbeitung überflüßig werden.

Man behalte also jedes Werk so lange an sich, bis man es ohne merkliche Regung der väterlichen Zärtlichkeit, ohne Erneuerung des lebhaften Gefühls, in welchem es entworfen worden ist, ganz übersehen kann; bis es uns selbst einigermaßen fremd geworden ist. Alsdenn ist das Urtheil davon frey, und die Ausarbeitung möglich.

Dieser Theil der Kunst hat aber auch seine Abwege. Man kann ein Messer, um ihm die höchste Schärfe zu geben, so lange schleifen, bis aller Stahl weggeschliffen ist; und so kann durch eine übertriebene Ausarbeitung ein Werk viel von den höhern Kräften, die es gehabt hat, verlieren. Wer glaubt, daß er jede Kleinigkeit, die er fühlt, ausdrüken wolle, der irret sich, und wird durch die dahin abzielende Ausarbeitung sein Werk verderben. Es kömmt darauf an, daß auch von den kleinern Schönheiten nur die wesentlichsten glüklich in ein Werk gebracht werden; diese machen, daß man sich die andern hinzu denkt. Eine Anekdote, die ich von einem guten Künstler habe, ist hier an ihrer Stelle.

Ein Mahler hatte ein Gemählde von David Teiniers copirt; und fand, nachdem er allen möglichen Fleis darauf gewendet hatte, seine Copie ohne Haltung. Stük für Stük, jeden Theil, für sich betrachtet, fand man nicht, daß etwas fehlte; dennoch fehlte dem Ganzen fast alles. Man ruft das Aug eines Freundes zu Hülfe, setzt Original und Copie neben einander, damit ein unpartheyisches Aug entdeke, was dieser fehle. Hier zeiget sich eine Ungleichheit in einem unerheblich scheinenden Umstand. Im Vorgrund des Originals hieng ein Stük weiße Leinewand an einer Stange, und dieser kleine Umstand war in der Copie ausgelassen. Der Kenner kam auf die Vermuthung, daß dieses ein wichtiger Umstand seyn möchte. Man klebte in der Copie nur etwas weißes Papier an die Stelle, [96] wo die Leinewand weggelassen war; so gleich bekam das ganze Gemähld eine Haltung, die ihm eine wiederholte Bearbeitung nicht hätte geben können. In einer Landschaft von Rembrandt ist gegen einen sehr dunkeln Wald, vor welchem ein davon ganz beschattetes Wasser liegt, eine weiße Wasser-Meeve in der Luft vorgestellt, die gegen das sehr dunkle Grüne des Waldes absticht. Dieser kleine Umstand giebt dem Gemählde ein sonderbares Leben, welches sich verliert, so bald man diesen kleinen weißen Flek bedeket.

Wer bey der Ausarbeitung so glüklich ist, wenige kleine Schönheiten von dieser Art anzubringen, der giebt dem Werk die höchste Vollkommenheit, die durch die Menge derselben vielmehr gehindert als befördert wird. So wie es in der Musik gar ofte nicht auf die Menge der kleinen Verzierungen ankömmt, um die höchste Schönheit des Ausdruks zu erreichen, sondern auf einen kleinen Vorschlag, oder auf eine Bebung der Stimme, oder gar auf eine kleine Pause, so ist es auch in andern Werken. In der glüklichen Wahl der Kleinigkeiten, und nicht in der Menge derselben, besteht die vollkommene Ausarbeitung.

1Man kann dieses in der bey Nicolai, in Berlin, heraus gekommenen Sammlung vermischter Schriften zur Beförderung der schönen Wissenschaften, nachlesen. S. den VI. Theil S. 136. u. s. f.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 94-97.
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