Rükkehr

[993] Rükkehr. (Redende Künste)

Wir wollen diesen Namen einem Kunstgrif geben, wodurch Redner oder Dichter die Zuhörer plözlich auf eine Reyhe vorhergegangener Vorstellungen zurükführen, um alle ihre Kräfte izt zu einer einzigen Würkung zu vereinigen. Um uns die Bestimmung dieses Begriffes zu erleichtern, wollen wir ohne weitere Erklärung Beyspiehle der Rükkehr geben. Das erste nehmen wir aus des Euripides Hekuba. Polymestor ein ehemaliger Freund dieser Königin, hat die schändlichste aller Thaten begangen, indem er den, ihm zur Sicherheit anvertrauten Sohn der Hekuba, aus der ärgsten Niederträchtigkeit umgebracht hat. Diese That erwekt die Rachgierd der Königin; aber izt ist sie eine Gefangene, nichts mehr, als eine Magd des Agamemnons, [993] des Zerstöhrers ihres ganzen Hauses und der glänzenden Glükseeligkeit, die sie kürzlich genossen hat. Einen solchen Mann hat Hekuba zur Ausübung ihrer Rache nöthig; sie überwindet sich, einem solchen Feind freundschaftlich zu begegnen. Dieses macht einen vollkommenen Contrast. Damit der Leser ihn in der Hize nicht unbemerkt lasse und damit diese beyde einander entgegenstehende Würkungen, der Haß des ehemaligen Freundes und das Zutrauen zu dem verwünschtesten Feind, mit einem Blik an dieselbe Ursache können geheftet werden, läßt der Dichter durch den Chor, dasjenige bewürken, was wir die Rükkehr nennen. »Wunderbar, sagt er, spielt das Schiksal mit den Menschen, höchst seltsam wird die Noth zum Gesez. Aus den ärgsten Feinden macht sie Freunde, und Feinde aus denen, die sich liebten.«1 Diese Reflexion bringt uns eine Reyhe vorhergegangener Vorstellungen auf einmal, und gerade zu der Zeit, wieder vor die Stirne, da sie zusammengenommen, die größte Würkung thun sollen.

In eben diesem Trauerspiel ist eine sehr schöne Rükkehr ebenfalls durch ein Wort des Chors bewürkt. Nachdem viel sehr traurige Dinge nach und nach vorgestellt worden, sagt der Chor. Dies alles haben die schönen Augen der Helena gethan!

Die Wichtigkeit der Rükkehr fällt gleich in die Augen. Denn da sie viel Einzeles schnell vereiniget, so würket alles auf einmal, und eben dadurch werden Empfindungen, Leidenschaften und Bewundrung erwekt.

1Eurip. Hecuba. vs. 864. f.f.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 993-994.
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