Redende Künste

[963] Redende Künste.

Man verstehet unter dieser allgemeinen Benennung die Wolredenheit, Beredsamkeit und Dichtkunst. Einige scheinen auch die Kunst des Geschichtschreibens dazu zu rechnen, die in der That wichtig genug ist, um als ein besonderer Zweyg der redenden Künste behandelt zu werden, nicht in so fern die Frage darüber ist, was ein Geschichtschreiber sagen soll, denn dieses macht eine besondere Wissenschaft aus; sondern in so fern untersucht wird, wie er erzählen soll. Zwar könnte man sagen, daß die alten Lehrer der Redner die Kunst des Geschichtschreibers bereits in der Rhetorik behandelt haben. Denn da in ihren gerichtlichen Reden, über welche sie vorzüglich geschrieben haben, ein Haupttheil vorkommt, den die römischen Redner Narratio, die Erzählung nennen1, so haben sie eben dadurch schon Unterricht über dem erzählenden Vortrag gegeben. Allein, die Art wie der gerichtliche Redner die Erzählung behandelt, ist, wie bereits anderswo erinnert worden2 von der Art des Geschichtschreibers in einem wesentlichen Punkt völlig verschieden. Der Redner erzählt so partheyisch, als möglich, und der Geschichtschreiber soll völlig unpartheyisch erzählen. Es ist ein Hauptkunstgriff des Redners, daß er, wenn er auch bey der völligen historischen Wahrheit bleibet, den Sachen durch einen entschuldigenden, oder beschuldigenden Ausdruk, den Anstrich giebt, den sein Zwek erfodert, wie wir in allen gerichtlichen Erzählungen des Cicero sehr deutlich sehen.

Man kann also nicht sagen, daß die Lehren der Rhetoriker, über die Erzählung, auch Lehren für den Geschichtschreiber seyen. Daher scheinet es allerdings, daß der historische Vortrag, als ein besonderer Zweyg der redenden Künste anzusehen sey, der besonders in Deutschland, wo die gerichtlichen Reden, mithin auch die Anweisungen dazu beynahe ganz in Abgang gekommen sind, sehr verdiente besonders behandelt zu werden. Alsdenn müßte man zu den zwey Theilen der Rhetorik davon im Artikel Redekunst gesprochen worden, noch einen dritten Theil, der die Theorie des historischen Vortrages enthielte, hinzuthun. Wir haben auch in der That schon etwas von dieser Art in der fürtreflichen Abhandlung des Lucianus, wie die Historie zu schreiben sey.

Daß die redenden Künste überhaupt in Absicht auf den Nuzen den ersten Rang unter den schönen Künsten behaupten, ist bereits an mehr Orten dieses Werks hinlänglich gezeiget worden,3 und es würde unnöthige Wiederholung seyn, wenn ich dieses hier besonders ausführen wollte. Aber ein besonderer Nuzen den man daraus zieht, ob sie ihn gleich nicht unmittelbar zum Zwek haben, verdienet hier in Erwägung genommen zu werden.

Wenn wir die besondern Materien, wovon Redner oder Dichter bey besondern Gelegenheiten sprechen, ganz auf die Seite sezen, und die redenden Künste blos aus dem Gesichtspunkt betrachten, daß sie dienen die Kunst der Rede überhaupt vollkommener zu machen, so erscheinen sie uns da in einer [963] sehr großen Wichtigkeit. Die Rede hängt mit der Vernunft selbst so genau zusammen, daß die Vervollkomnung der erstern zugleich auch die andere betrift. Ein Ausdruk der uns einen Begriff, oder eine Wahrheit, mit vorzüglicher Klarheit, Stärke oder mit großem Nachdruk erkennen läßt, ist allemal für eine nüzliche Erfindung, nicht eben eines neuen Begriffes, oder einer neuen Wahrheit, aber eines neuen Instruments zur Vervollkommnung der Vernunft.

Alle Bemühungen der Philosophen, und derer, die sich auf Entdekungen speculativer Wahrheiten legen, müssen, wenn sie dem menschlichen Geschlechte wahrhaftig nüzlich seyn sollen, auf populare Vorstellungen gebracht, das ist auf eine leichte, sinnliche und dem Gedächtnis leicht inhaftende Art ausgedrukt werden können. Je vollkommener zu dieser Absicht die Sprach eines Volkes ist, je mehr wahre Kenntnis und Vernunft besizet es auch. Die Nation der Huronen kann im Grunde so viel Genie, so viel Fähigkeit des Geistes haben, als irgend eine der erleuchtesten Nationen von Europa; aber so lange sie eine arme unausgebildete Sprache hat, bleibet auch der größte Geist unter diesem Volke, weit unter einem mittelmäßigen Kopf, der eine wolausgebildete Sprache besizet.

Man muß die Redner, Geschichtschreiber und Dichter, als Mittelspersonen zwischen den spekulativen großen Philosophen und dem Volk ansehen, welche die wichtigsten Begriffe und tiefesten Wahrheiten der Vernunft in die gemeine Sprach übersezen. Tacitus ist freylich in seinem Vortrag nicht popular; aber wenn wir zum Beyspiehl sezen, daß auch ein von speculativen Wissenschaften entfernter Mensch, sich mit dem Vortrag dieses Geschichtschreibers völlig bekannt gemacht hätte, so müssen wir gestehen, daß er nun auch überaus feine Kenntnisse sittlicher Dinge besizen würde, die nur der große Philosoph zu entdeken, und deren popularen Ausdruk zu erfinden nur ein großer Redner in Stande gewesen.

Eine genaue Ausführung dieser Sache möchte hier zu schweerfällig und auch zu weitläuftig werden: darum begnüge ich mich eine Wahrheit, die ich schon anderswo in ihren eigentlichen philosophischen Gesichtspunkt gesezt habe,4 hier blos anzuzeigen, und den wichtigen Schluß daraus zu ziehen, daß die redenden Künste, wenn wir auch ihren unmittelbaren Nuzen beyseite sezen, nur in so fern sie die Sprache vervollkommnen, und mit neuen Wörtern und ganzen Säzen, die von ihnen aus allmählig in die populare Sprach übergehen, bereichern, vorzüglich verdienen geschäzt und mit großem Eyfer betrieben zu werden.

1S. Rede.
2S. Erzählung.
3S. Künste; Beredsamkeit; Dichtkunst.
4In der Sammlung meiner aus dem französischen übersezten academischen Abhandlungen; an zwey Orten, nämlich in der Zergliederung des Begriffes der Vernunft auf der 278 u.s.f. S. und in der Untersuchung über den wechselseitigen Einflus den Vernunft und Sprach auf einander haben.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 963-964.
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