Reim

[971] Reim. (Dichtkunst)

Der gleiche Laut der lezten, oder der zwey lezten Sylben in zwey Versen. Er wird männlich genennt, wenn er nur auf der lezten langen Sylbe jedes der zwey Verse liegt; wie Macht, Acbt; weiblich wenn er auf den zwey lezten Sylben liegt, wie leben, geben. Ehedem nennte man ofte die Verse selbst Reimen, und allem Ansehen nach ist diese Bedeutung älter, als die izt gewöhnliche.

Verschiedene Völker haben in dem Reim eine Schönheit gefunden, die ihm das Ansehen einer wesentlichen Eigenschaft der Verse gegeben hat. Die griechischen und römischen Dichter, haben nicht nur den Reim nicht gesucht, sondern, als etwas fehlerhaftes vermieden.1 Aber in der Poesie aller neuerer Völker, wurd er ehedem, und wird zum Theil noch jezo, als etwas wesentliches angesehen. Doch haben zuerst die Italiäner, hernach die Engländer, und zulezt die Deutschen sich verschiedentlich von diesem Joche befreyt, und den Reim entweder für unnüze, oder gar für schädlich gehalten.

Wie überhaupt selten etwas altes ohne Streitigkeiten kann abgeschaft werden, so ist auch unter uns vielfältig über den Werth des Reimes gestritten worden. Daß es schöne und wolklingende Verse ohne Reimen gebe, ist aber durch die Erfahrung so ausgemacht, daß hierüber kein Streit mehr seyn kann.

Wem mit einer umständlichen Untersuchung über die Herkunft des Reims gedient ist, der kann sie bey einem französischen Schriftsteller finden.2 Die Meinung des Bischoffs Hüet, daß die neuern Abendländer den Reim von den Arabern gelernt haben, ist nicht ohne Wahrscheinlichkeit. Nachdem sich diese in den mittägigen Gegenden Frankreichs niedergelassen, nahmen die ersten welschen Dichter, die sogenannte Troubadours3 den Reim von ihnen. Die alten Barden haben, so viel man aus dem Oßian sehen kann, nicht gereimt. Man kann aber einen ganz natürlichen Grund von dem Ursprung des Reims angeben. So bald man kurzen Säzen einen guten und für das Gedächtnis vortheilhaften Klang geben will, dieser aber durch das bloße Sylbenmaaß nicht zu erhalten ist, so bleibet allein der Reim dazu übrig. Daher finden wir ihn in viel alten aus zwey kurzen Säzen bestehenden Sprüchwörtern, als: Glük und Glas, wie bald bricht das. Diesem Ursprung zufolge, würde er sich in Disticha und überhaupt in solche Gedichte, wo allemal ein Sinn in zwey Verse eingeschlossen ist, am allernatürlichsten schiken. So sollen noch izt die Gedichte der Araber seyn. Man kann überhaupt sagen, daß er zu Versen, denen man entweder wegen der allzugroßen Kürze, oder wegen der Unbiegsamkeit der Sprach keinen Wolklang geben kann, das einzige Mittel ist, sie wolklingend zu machen. Daher därf man sich nicht wundern, wenn er auch, wie Baretti versichert4, in der[971] Poesie der Negern angetroffen wird. Gravina merkt sehr gründlich an, daß in Italien, nachdem man den feinen und gefälligen Fall des Verses, der aus dem Sylbenmaaß entstehet, verlohren gehabt, man sich an den Reim hat halten müssen.5

Vielleicht ist er auch daher entstanden, daß man ihn für das bequämste Mittel gehalten, das Metrum, oder das Maaß des Verses zu bestimmen. In Versen, die durchaus einerley Füße haben, sind nur vier Mittel, das Metrum zu bestimmen, nämlich: 1. Entweder, daß jeder Vers einen Saz der Rede ausmache, dieses würde eine elende Monotonie verursachen. 2. Oder daß nur der lezte Fuß des Verses sich mit einem Wort endigte, die andern Füße aber alle zu zwey Wörtern gehörten, wie z.B. hier:


Er heu | chelt ih | rer Zärt | lichkeit |


Dieses würde die Versification beynahe unmöglich machen. 3. Oder daß von zwey Versen einer einen männlichen, der andre durch eine angehängte kurze Sylbe einen weiblichen Ausgang bekäme, wie hier:


Ich aber steh und stampf und glü | he

Und flieg im Geiste hin zu ihr.


Aber dieses würde die Versarten zu sehr einschränken. 4. Endlich ist der Reim das vierte Mittel, und schien um so viel bequämer, da er mit allen möglichen Versarten konnte verbunden werden. Er wird nothwendig, wo kein anderes Mittel da ist, zusammengesezte Rhythmen zu unterscheiden.6

Da das Vorurtheil, daß der Reim den Versen wesentlich sey, in Deutschland stark abgenommen hat, und so gar meist verschwunden ist, die Meinung aber, daß er eine zufällige Schönheit sey, auch nach und nach abnihmt; so halten wir diese ganze Materie für allzugeringe, um uns in eine nähere Untersuchung, sowol über den Werth, als über die Beschaffenheit des Reims einzulassen.

Wir wollen indessen den Reim, als ein Werk der Mode, als eine Deke, die man für die Schwäche und Fehler des Verses zieht, als ein Hülfsmittel des Gedächtnisses, als ein körperliches Mittel träge Ohren zu reizen, gelten lassen. Aber wir können nicht verbergen, daß wir ihn für ein Gefängnis halten, in welches die Gedanken und die Säze der Rede eingesperrt werden. Wir wollen so gar zugeben, daß der Reim zur Zeit, da die Sprachen noch in ihrer ersten Rohigkeit waren, wo es unmöglich war kurze Säze in einem dem Ohr schmeichelnden Abfall vorzutragen, nothwendig gewesen; uns aber für dieses Geständnis dadurch schadlos halten, daß wir ihn für überflüßig und gothisch erklären, so bald die Sprache so weit gekommen, daß man einzele, größere und kleinere Säze nach Wolklang und Takt vortragen kann.

Trojaque nunc staret, Priamique arx alta maneres.


macht Servius die Anmerkung: Stares si legeris, maneret sequitur, propter ὁμοιοτελευτον.

1Bey diesem im II Buche der Aeneis vorkommenden Verse:
2Histoire de la poesie françoise par L'Abbé Massieu. p. 76 f.
3S. Provenzalische Dichter.
4Baretti Reise nach Genua 1 Th. 22. Br.
5E percio essendosi generalmente nell' uso commune perduta la distinzion delicata et gentile del verso dalla prosa, per mezzo de piedi; s'introdusse quella grossolana, violenta et stomachevole delle desinenze simili V. Ragion poetica. L. II.
6S. Rhythmus
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 971-972.
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971 | 972
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