Seneka

[1063] Seneka.

Der Urheber, oder, wenn man will, die Urheber der zehen Trauerspiehle, dem einzigen Ueberrest von der lateinischen tragischen Schaubühne. Es ist hier nicht der Ort zu untersuchen, ob der Philosoph Seneka, oder ein andrer gleichen Namens, oder ob jeder von beyden, einige dieser Trauerspiehle verfertiget habe; wir betrachten hier die Werke und nicht den Verfasser.

Wenn diese zehen Trauerspiehle als Muster der römischen Tragödie anzusehen sind, so berechtigen sie uns zu urtheilen, daß die Römer in dieser Kunst weit mehr, als irgend in einer andern, hinter den Griechen zurüke geblieben sind. Denn kein Mensch von gesundem Geschmak wird sie, wie Scaliger, den griechischen Trauerspiehlen, die wir haben, vorziehen. Lipsius hat richtiger davon geurtheilt, wiewol er die Medea und die Thebais noch zu sehr erhoben hat.

Ueberhaupt herrscht in allem ein Ton, der sich besser zur Elegie, als zum Trauerspiehl schikt. Die Empfindungen sind darin nicht nur weit über die Natur getrieben, sondern werden auf alle Seiten gewendet, damit nur der Dichter Gelegenheit habe, den Reichthum des Ausdruks zu zeigen. Denn in den Reden der Personen merkt man gar zu offenbar, daß nicht die Personen selbst, sondern der Dichter redet, der bey kaltem Blute höchst wizig ist, und dessen Einbildungskraft keinem Gefühl Raum läßt; immer fürchtet, nicht genug gesagt zu haben. Seine Personen bleiben bey dem heftigsten Schmerz schwazhaft und wizig; sie wiegen alle Worte ab, machen Gemählde, die sie auf das Zierlichste ausbilden, gerade, als wenn sie auf die Schaubühne getreten wären, um ihre Beredsamkeit zu zeigen.

Die Charaktere sind fast alle übertrieben. Herkules ist nicht der tapferste aller Menschen, sondern ein absurder Prahler, der es mit allen Göttern aufnehmen will. Nicht nur bey seiner angehenden Raserey sagt er ungeheure Prahlereyen,1 sondern da er wieder zu sich selbst gekommen, sagt er noch


–– arma nisi dantur mihi

Aut omne Pindi Thracis exscindam nemus

Bacchique lucos et Cithæronis juga

Mecumque cremabo; tota cum domibus suis

Dominisque tecta, cum Deis templa omnibus

Thebana supra corpus excipiam meum

Atque urbe versa condar u.s.f.


Sein Atreus ist auf die ungeheureste Art gottlos; dem gar kein Verbrechen groß genug ist. Er bietet allen seinen Wiz auf, um etwas so gottloses zu thun, als noch kein Mensch gethan hat.


Nullum relinquam sacinus; et nullum est satis.

–– –– –– –– ––

–– –– –– Fiat nesas

Quod Dii timetis.2


und nachdem er die ungeheureste That, auf die ungeheureste Art begangen hat, kommt er mit dieser unsinnigen Prahlerey wieder hervor:


Aequalis astris gradior et cunctos super

Altum superbo vertice attingens polum.

Nunc decora regni teneo, nunc solium patris.

Dimitto superos; summa votorum attigi.

Bene est; abunde est; jam sat est etiam mihi.3


Man sieht zugleich aus diesen lezten Versen, einen fast in allen Scenen gewöhnlichen Fehler, daß die Personen in diesen Trauerspiehlen in dem heftigsten Affekt einen spiehlenden Wiz haben. Dieser frostige Wiz ist in beständigen Wiederspruch mit den angeblichen Gesinnungen, und dieser so gar offenbar, daß man dächte, der einfältigste Zuschauer hätte dieses merken, und die handelnde Personen, oder vielmehr den Dichter auszischen sollen. Eine einzige Probe kann genug hievon seyn. In der Thebais sagt Gedipus zur Antigone die ihn führt, sie soll ihn verlassen, [1063] er wolle sich selbst ums Leben bringen; die Tochter will aber mit ihm sterben, und erbiethet sich ihm Mittel an die Hand zu geben, beyder Tod zu bewürken. Sie sagt sehr poetisch


Heic alta rupes arduo surgit jugo,

Spectatque longa spatia subjecti maris

Vis hanc petamus. Nudus heic pendet silex;

Heie scissa tellus saucibus raptis hiat.

Vis hanc petamus? Heic rapax torrens cadit

–– –– ––

In hunc ruamus?4


Wär es sein Ernst sich das Leben zu nehmen, so konnte er also wählen. Aber seine Antwort zeiget deutlich, daß er gar keine Lust dazu hat. Er wundert sich eine so großmüthige Tochter zu haben; und nachdem ihm drey oder vier Mittel seiner Noth ein Ende zu machen angeboten worden, fodert er wieder aufs neu mit einem sehr unnüzen Wortgepränge, was er doch nicht angenommen hat


–– si sida es comes

Ensem parenti trade.

–– Flammas –– et vastum aggerem

Compone. In altos ipse me immittam rogos.

–– –– –– –– Ubi sævum est mare

Duc, ubi sit altis prorutum saxis jugum

Ubi torta rapidus ducat Ismenus vada:

Duc ubi feræ sint, ubi fretum, ubi præceps locus.


So handelt und redet in diesen Trauerspiehlen, die Verzweiflung, und so wiedersprechen fast alle Reden den Gesinnungen, die den Personen angedichtet wer den.

Bey dem allen sind hier und da große Schönheiten, die aber nicht selten unrecht angebracht sind. Meisterhaft gezeichnete Gemählde, die sich aber selten weder zu den Personen, noch zu den Umständen schiken. Im einzeln findet man starke auch so gar fürtrefliche Gedanken, und diese meisterhaft gesagt. Die Moral der Stoiker ist an verschiedenen Orten fürtreflich angebracht. Die Denksprüche fahren ofte wie Donnerstrahlen durch die Seele, wiewol auch dagegen oft kleine, halbwahre, auch wol kindische Sprüchelchen vorkommen. Hätte der Verfasser sich näher bey der Natur gehalten, hätte er allen überflüßigen Schmuk weggelassen, so wär er einer der ersten tragischen Dichter worden.

Den Dichtern, welche die Kunst bereits nach guten Grundsäzen studirt haben, kann man das Lesen dieser Trauerspiehle empfehlen, damit sie von den häufigen Fehlern gerührt, sie vermeiden lernen, und in dem wenigen Guten, das darin ist, die Stärke des Ausdruks nachzuahmen suchen.

1Hercules furens vs. 927 f. f.
2Thyestes v. 256.
3vs 885. f. f.
4Thebais vs. 67. f. f.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774.
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