Stumme Spiehl

[1118] Stumme Spiehl.

Der Theil der Vorstellung des Schauspiehles, der ohne Reden geschieht. Man wagt es noch selten einen etwas beträchtlichen Theil der Handlung auf der Bühne stillschweigend fortgehen zu lassen; daher das stumme Spiehl nach der izigen Beschaffenheit der Bühne, vornehmlich bey den Personen statt hat, welche währender Zeit, da andre sprechen, entweder als Zuhörer, oder in andern Beschäftigungen auf der Bühne sind. Die Furcht vor dem Stillschweigen hat indessen gar ofte bey Dichtern sehr schwache frostige Scenen veranlasset. Es trift sich bisweilen, daß die Leidenschaften auf das höchste gestiegen sind, oder daß sich ein unvermutheter, aber höchst merkwürdiger Zufall ereignet, da das Stillschweigen sehr natürlich wird. Dieses zu verhindern, läßt der Dichter bisweilen Nebenpersonen reden, aber so schwach und so frostig, daß ein ganzer Auftritt dadurch verdorben wird.

In wichtigen Auftritten geschieht es ganz natürlich, daß die Hauptpersonen in einem etwas langen und wichtigen Stillschweigen sind. Läßt man alsdenn Nebenpersonen reden, so wird unsre Aufmerksamkeit von dem abgezogen, worauf sie allein sollte gerichtet seyn. Daher scheinet es schlechterdings nothwendig, daß bisweilen ganze Auftritte, oder doch Theile derselben stumm seyen.

Es sey aber, daß ein Auftritt ganz oder nur zum Theil stum ist, so ist allemal das stumme Spiehl ein sehr wichtiger Theil der Kunst des Schauspiehlers. Denn es kommt gar oft vor, daß wenigstens ein Theil der vorhandenen Personen eine Zeitlang entweder blos zuhören, oder sonst keinen Antheil an der Unterredung haben. Alsdenn kann ihr stummes Spiehl viel verderben oder gut machen. Es spricht entweder gar keiner, oder nur einer, und alle andre hören zu, oder es unterreden sich zwey und andre hören zu, oder es sind Personen da, die weder reden noch zuhören, sondern für sich in Gedanken beschäftiget sind. Dies sind die vier Fälle des stummen Spiehls.

In den drey ersten Fällen, muß schlechterdings alles auf den Inhalt der Rede übereinstimmen. Die, [1118] welche nicht reden, müssen den Redenden zuhören, und an ihren Stellungen, Minen, Gebehrden und Bewegungen, muß man den verschiedenen Eindruk der Rede sehen. Das stumme Spiehl muß einige Aehnlichkeit mit der Begleitung der Instrumente beym Gesang haben. Vor allen Dingen müssen die Schauspiehler sich dafür in Acht nehmen, daß ihr Spiehl die Aufmerksamkeit auf die Hauptpersonen, welche izt reden, nicht schwäche. Deswegen muß jede Mine, jede Stellung und Gebehrde gemäßigt seyn, daß sie nicht hervorsteche. Stumme Personen müssen sich immer erinnern, daß sie izt den Redenden untergeordnet sind. Es därf kaum gesagt werden, daß das stumme Spiehl nichts gegen den Geist des Auftritts enthalten müsse, denn dieses ist jedem offenbar. Aber dieses muß den Schauspiehlern auf das nachdrüklichste empfohlen werden, daß sie nichts gezwungenes und nichts künstliches machen. Weit besser wär' es, wenn sie gar nichts machten, und unbeweglich zuhörten. Nichts ist unerträglicher und der Täuschung, die beym Schauspiehl so sehr nothwendig ist, mehr entgegen, als wenn man Zwang und Kunst sehen läßt. Der Zuschauer muß gar nicht gewahr werden, daß der Schauspiehler auf sich selbst Achtung giebt.

In den Auftritten, wo eine stumme Person für sich steht und keinen Antheil an der Handlung nihmt, die alsdenn die Hauptsache des Auftritts ausmacht, wäre zu wünschen, daß der Schauspiehler gänzlich vergäße, daß noch jemand außer ihm auf der Bühne stehe. Er muß völlig so handeln, als wenn er ganz ohne Zeugen wäre. Aber vorher muß er genau nachdenken, wie weit sein Spiehl den andern Personen untergeordnet sey.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1118-1119.
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