Ueberzeugung

[1196] Ueberzeugung. (Beredsamkeit)

Wir sind von der Wahrheit einer Sache nur alsdenn überzeuget, wenn wir durch inneres Gefühl empfinden, daß kein Zweifel dagegen statt habe. Bey der Ueberredung können noch Zweifel, oder Ungewißheiten statt haben; aber entweder zeigen sie sich uns nicht, oder sie sind nicht stark genug unsere Meinung, oder unser Urtheil zurükzuhalten. Die wahre Ueberzeugung entsteht blos aus dem würklichen Gefühle, daß die Sache nicht anders seyn könne, als so wie wir sie erkennen. Sie wird aber selten anders, als durch strenge, förmliche Vernunftschlüsse bewürkt; es sey denn, daß sie aus Gegeneinanderhaltung blos zweyer ganz einfachen Begriffe folge, wie die Grundsäze, die man Axiome nennt, als z.B. dieser, daß das Ganze größer ist, als einer seiner Theile. Es gehöret nicht hieher zu zeigen, wie die strengen Beweise, die zur Ueberzeugung führen, zu geben seyen. Für den Redner schiken sich die strengen philosophischen Beweise, die in dem wissenschaftlichen Vortrage nöthig sind, nicht. Für seine eigene Ueberzeugung aber muß er sie, wo sie statt haben, zu geben wissen. Nur als Redner muß er sie ganz anders vortragen.

Wahre Ueberzeugung der Zuhörer kann nur der Redner bewürken, der selbst überzeuget ist. Wir sezen also hier die Ueberzeugung des Redners voraus, und haben nur zu betrachten, wie er sie andern mittheilen soll. Ist er durch den mühesamen Weg einer genauen Untersuchung, zu der Richtigkeit und Vollständigkeit der Begriffe, so denn zu ihrer deutlichen Entwiklung, und dadurch zur Ueberzeugung gekommen; so muß er nun, diesen Weg, den er mit vieler Mühe zurükgelegt hat, wie von einer Höhe übersehen; alle seine Krümmungen und steile Sprünge bemerken, um zu erforschen, wie er sie gerade und eben zu machen habe. Denn das was ihm schweer gewesen, muß er dem Zuhörer leicht machen. Im Grund hat also der Redner zur Ueberzeugung seiner Zuhörer keinen andern Weg zu nehmen, als den, durch welchen der Philosoph geht; beyde geben Beweise, die im Wesentlichen dieselben sind. Was aber der Philosoph allgemein, abstrakt und kurz gedrungen sagt, wird von dem Redner durch besondere klare und leichtfaßliche Vorstellungen dem Anschauen ausführlich vorgebildet. Ein solcher Beweis ist im Grunde nur eine rhetorische Erweiterung eines strengen philosophischen Beweises. Wie der Philosoph die Begriffe durch Erklärungen deutlich und bestimmt angiebt, der Redner aber durch Abbildung oder Vorzeigung der besondern Dinge, aus deren Betrachtung sie sinnlich gefaßt werden; so unterscheiden sich beyde in ihren Arten zu beweisen.

Der Redner hat also zur Ueberzeugung seiner Zuhörer weit mehr zu thun, als der Philosoph; er muß den Beweis, gerade so wie dieser, erfinden und vortragen: alsdenn aber hat er erst den Text seiner Rede, oder wenn man will, den Grundriß derselben. Nun muß er aus diesen Grundriß ein Gebäude aufführen, dessen Festigkeit und andre nach dem Zwek erforderliche Vollkommenheiten, nicht blos Kenner einsehen, sondern jeder Mensch von gesunder Beurtheilung, ohne große Mühe bemerke. Ich halte dieses für das Höchste in der Kunst des Redners; [1196] weil er hiezu sowol seine Materie, als das was zur Kunst der Rede gehört, in einem hohen Grad in seiner Gewalt haben muß.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1196-1197.
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