Uebungen

[1197] Uebungen. (Schöne Künste)

Sind Arbeiten des Künstlers, die keinen andern Zwek haben, als die Erlangung der zur Kunst nöthigen Fertigkeiten. Man weiß aus gar viel Beyspiehlen, daß Uebungen zu bewundrungswürdigen Fertigkeiten führen. Die Kunststüke der Gaukler, der Seiltänzer und Taschenspiehler sind bekannte Beweise davon. Daher sagt ein schon altes Sprüchwort, daß Uebung den Meister mache. Fleißige [1197] und tägliche Uebungen sind demnach mit dem Studium der Kunst nothwendig zu verbinden, wenn man ein Künstler werden will. Wie aber zu den Künsten innere und äußere Fertigkeiten erfodert worden, so giebt es auch zweyerley Uebungen. Durch die innern erwirbt man sich die Fertigkeiten des Geistes und des Herzens, z.B. die Fertigkeit schnell zu fassen, richtig zu beurtheilen, viel auf einmal zu übersehen, richtig und fein zu empfinden. Durch äußere Uebungen der Sinnen und anderer Gliedmaaßen des Körpers erlanget man die Fertigkeiten genau zu sehen, das Augenmaaß, ein feines und viel umfassendes Gehör, eine leichte und zu jeder Bewegung geschikte Hand u.s.f. Es wäre sehr überflüßig hier jeder zu den verschiedenen Künsten nöthigen Fertigkeiten besonders Erwähnung zu thun; die Sachen sind bekannt. Aber wichtig ist es jungen Künstlern zu sagen, daß das größte Genie zur Kunst die Uebung nicht entbehrlich mache; daß Apelles selbst es sich zur Regel gemacht, keinen Tag ohne einige Penselstriche zu thun, vorbey gehen zu lassen, und daß durchgehends die größten Künstler in jeder Art dieselbe Regel beobachten, und ihre Größe zum Theil dadurch erlangt haben.

Ist aber die Uebung selbst für Meister so nothwendig, so mag der Schüler und der noch junge Künstler die Nothwendigkeit fleißiger Uebungen daraus abnehmen. Die Bildung des künftigen Künstlers muß in der frühesten Jugend, ich möchte bald sagen, in der Kindheit mit äußern Uebungen anfangen. Zu den zeichnenden Künsten muß die Hand und das Aug, zur Musik die Finger, oder nach Beschaffenheit der künftigen Ausübung der Mund, oder die Kehle, und zugleich das Ohr, zu den Künsten der Rede die Werkzeuge der Sprach, und auch das Gehör, zuerst geübet werden. Späther wird man zu vielen Uebungen zu verdrossen, weil das Gemüth schon zu sehr mit andern Gegenständen beschäftiget ist, sie werden schon schweerer, weil die Gliedmaaßen schon anfangen etwas von ihrer Geschmeidigkeit zu verliehren, und vielleicht auch deswegen, weil der Eindruk den jede einzele Uebung macht, und davon etwas fortdaurend seyn muß, schon etwas von ihrer Lebhaftigkeit zu verliehren, anfängt.

Wichtig ist es dabey, daß man allmählig vom Leichtern auf das Schweerere steige. Es wäre zu wünschen, daß man für jede Kunst so vollständige und so wol überlegte Anweisung für die ersten Uebungen der Kunst hätte, als die sind, die Quintilian für den künftigen Redner gegeben hat.

Bey den innern Uebungen muß man bey den so genannten untern Seelenkräften, dem Gedächtnis, der Einbildungskraft, und der Kraft zu fassen und zu empfinden anfangen, und hernach die höhern Kräfte zu beobachten, zu vergleichen, zu entwikeln, zu beurtheilen u.s.w. durch Uebung anstrengen.

Zu wünschen wär es, daß einer unsrer besten Psychologen, sich die Mühe gäbe, eine allgemeine Asketik oder Wissenschaft der Uebungen zur möglichst vollkommenen Entwiklung der Fähigkeiten der Seele zu verfertigen. Denn könnte man daraus auch die besondern Anweisungen zu den inneren Uebungen der Künstler herleiten.

Durch eine gewöhnliche Metonymie werden auch solche Werke, die Künstler zur Uebung verfertiget haben, Uebungen genennt. Man giebt ihnen auch den Namen der Studien, weil sie im französischen études genennt werden. Dergleichen Uebungen großer Meister werden von Kennern sehr gesucht. Insgemein übertreffen sie in besondern Theilen der Kunst die würklich nach allen Theilen ausgearbeiteten Werke. Denn bey den Uebungen siehet der Künstler insgemein nur auf das Eine, darin er sich übet, verfährt deswegen freyer, und wird durch andre zu einem völlig ausgearbeiteten Werk der Kunst gehörige Theile in dem Feuer der Arbeit nicht gehemmt. Wer sich blos in der Zeichnung des Einzelen übet, wird weder durch das Colorit, noch durch die Anordnung, die der äußersten Vollkommenheit der Zeichnung bisweilen hinderlich sind, in Verlegenheit gesezt. So wird der Tonsezer, der sich in Harmonien übet, durch die Schwierigkeit der Melodie, des Takts und des Rhythmus nicht gehemmt, und kann deswegen auf Erfindungen kommen, die er nicht würde gemacht haben, wenn er bey der Arbeit auf alles zugleich hätte sehen müssen.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1197-1198.
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