Vorrede [zum ersten Teil]

[3] Der Mensch besizet zwey, wie es scheinet, von einander unabhängliche Vermögen, den Verstand und das sittliche Gefühl, auf deren Entwiklung die Glükseeligkeit des gesellschaftlichen Lebens gegründet werden muß. Von dem Verstand hänget die Möglichkeit desselben ab, das sittliche Gefühl aber giebt diesem Leben das, ohne welches dasselbe keinen Werth haben würde.

Daß die Menschen nicht mehr einzeln, oder in kleinen Horden, gleich den Thieren des Feldes herum irren, um eine kümmerliche Nahrung zu suchen; daß sie beständige Wohnplätze und einen zuverläßigen Unterhalt haben; daß sie in großen Gesellschaften, und unter guten Gesetzen leben, ist eine Wolthat, die sie dem Verstand zu danken haben, der die mechanischen Künste erfunden, Wissenschaften und Gesetze ausgedacht hat. Sollen aber die Menschen diese herlichen Früchte des Verstandes recht genießen, und in dem großen gesellschaftlichen Leben glüklich seyn, so müssen gesellschaftliche Tugenden; so muß Gefühl für sittliche Ordnung, für das Schöne und Gute in die Gemüther gepflanzet werden.

Man betrachte den Zustand vieler großen Völker, bey denen der Verstand wol angebaut ist; wo die mechanischen Künste und die Wissenschaften zu einer beträchtlichen Vollkommenheit gestiegen sind, und frage sich selbst, ob diese Völker glüklich seyen? Bey der Untersuchung warum sie es nicht sind, findet man, daß es ihnen an den Nerven der Seele, an dem lebhaften Gefühl des Schönen und Guten fehlet; man findet sie zu träg sich der Unordnung zu wiedersetzen; zu gefühllos den Mangel [3] des Guten lebhaft zu empfinden, und zu unwürksam, ihm, da, wo sie ihn noch empfinden möchten, abzuhelfen.

Zwar liegt der Saamen dieses Gefühls, so wie des Verstandes, in allen Gemüthern, und in einigen wenigen glüklichern Seelen keimet er auch von selbst auf, und trägt Früchte: soll er aber überall aufgehen, so muß er sorgfältig gewartet und gepfleget werden. Zur Wartung des Verstandes hat man überall große und kostbare Anstalten gemacht; desto mehr aber hat man die wahre Pflege des sittlichen Gefühles versäumet. Aus einem öfters wiederholten Genuß des Vergnügens an dem Schönen und Guten, erwächst die Begierde nach demselben, und aus dem wiedrigen Eindruk, den das Häßliche und Böse auf uns macht, entsteht der Wiederwillen gegen alles, was der sittlichen Ordnung entgegen ist. Durch diese Begierd und diese Abneigung wird der Mensch zu der edlen Würksamkeit gereizet, die unablässig für die Beförderung des Guten und Hemmung des Bösen arbeitet.

Diese heilsame Würkungen können die schönen Künste haben, deren eigentliches Geschäft es ist, ein lebhaftes Gefühl für das Schöne und Gute, und eine starke Abneigung gegen das Häßliche und Böse zu erweken.

Aus diesem Gesichtspunkt hab ich bey Verfertigung des gegenwärtigen Werks die schönen Künste angesehen; und in dieser Stellung erkannte ich nicht nur ihre Wichtigkeit, sondern entdekte zugleich die wahren Grundsätze, nach welchen der Künstler zu arbeiten hat, wenn er den Zwek sicher erreichen soll. Hieraus läßt sich leicht abnehmen, nach was für einem Ziehl ich diese Arbeit gelenkt habe. Zuerst hab ich mir angelegen seyn lassen auf das deutlichste zu zeigen, daß die schönen Künste jene große Würkung thun können, und daß die völlige Bewürkung der menschlichen Glükseeligkeit, die durch die Cultur der mechanischen Künste und der Wissenschaften ihren Anfang bekommen hat, von der Vollkommenheit und der guten Anwendung der schönen Künste müsse erwartet werden. Hernach war meine zweyte Hauptsorge den Künstler von seinem hohen Beruf zu überzeugen und ihn auf den Weg zu führen, auf welchen er fortgehen muß, um seine Bestimmung zu erfüllen.

Man hat durch den falschen Grundsatz, daß die schönen Künste zum Zeitvertreib und zur Belustigung dienen, ihren Werth erstaunlich erniedriget, und aus den Musen, die Nachbarinnen des Olympus sind, irrdische Dirnen und witzige Buhlerinnen gemacht.[4] Durch diesen unglüklichen Einfall sind die festen Grundsätze, wonach der Künstler arbeiten sollte, zernichtet, und seine Schritte unsicher worden. Wir müssen es diesen verkehrten Begriffen zuschreiben, daß die schönen Künste bey vielen rechtschaffenen Männern in Verachtung gekommen sind; daß die Politik sie ihrer Vorsorge kaum würdig achtet, und sie dem Zufall überläßt; daß sie bey unsern gottesdienstlichen Festen und bey unsern politischen Feyerlichkeiten so gar unbedeutend sind. Man hat dadurch dem Künstler den Weg zum wahren Verdienst gleichsam verrennt, und gemacht, daß er sich vor den barbarischen Künstlern halb wilder Völker schämen muß, die durch ihre unharmonische Musik, durch ihre unförmlichen Tänze und durch ihre ganz rohe Poesie, mehr ausrichten, als unsre feineste Virtuosen. Jene entflammen die Herzen ihrer Mitbürger mit patriotischem Feuer, da diese kaum eine vorübergehende Belustigung der Phantasie zu bewürken vermögend sind.

Es muß jeden rechtschaffenen Philosophen schmerzen wenn er sieht, wie die göttliche Kraft des von Geschmak geleiteten Genies so gar übel angewendet wird. Man kann nicht ohne Betrübnis sehen, was die Künste würklich sind, wenn man erkennt hat, was sie seyn könnten. Man muß unwillig werden, wenn man siehet, daß Leute, die mit den Musen nur Unzucht treiben, einen Anspruch auf unsre Hochachtung machen dürffen? Wie langweilig, wie verdrießlich und wie abgeschmakt bisweilen unsre öffentliche Feyerlichkeiten und Feste, und wie so gar schwach unsre Schauspiele seyen, empfindet jeder Mensch von einigem Gefühl. Und doch könnte man durch dergleichen Veranstaltungen aus dem Menschen machen, was man wollte. Es ist in der Welt nichts, das die Gemüther so gar bis auf den innersten Grund öffnet, und jedem Eindruk so ausnehmende Kraft giebt, als öffentliche Feyerlichkeiten, und solche Veranstaltungen, wo ein ganzes Volk zusammen kommt. Und doch – wie brauchen die Künstler diese Gelegenheiten die Gemüther der Menschen, derer sie da vollkommen Meister seyn können, zum Guten zu lenken? Wo lebt der Dichter, der bey einer solchen Gelegenheit ein ganzes Volk mit Eyfer für die Rechte der Menschlichkeit angeflammt, oder mit Haß gegen öffentliche Verbrecher erfüllt, oder ungerechte und boßhafte Seelen mit Schaam und Schreken geschlagen hat?

Es ist nur ein Mittel den durch Wissenschaften unterrichteten Menschen, auf die Höhe zu heben, die er zu ersteigen würklich im Stand ist. Dieses Mittel liegt in der Vervollkommung und der wahren Anwendung der schönen Künste.

[5] Noch ist die höchste Stufe in dem Tempel des Ruhms und Verdienstes unbetreten; die Stufe, auf welcher einmal der Regent stehen wird, der, aus göttlicher Begierde die Menschen glüklich zu sehen, mit gleichem Eyfer und mit gleicher Weisheit die beyden großen Mittel zur Beförderung der Glükseeligkeit, die Cultur des Verstandes und die sittliche Bildung der Gemüther, jene durch die Wissenschaften, diese durch die schönen Künste, zum vollkommenen Gebrauch wird gebracht haben.

Man wird sich nicht befremden lassen, daß ich bey dem hohen Begriff, den ich von dem Werth der schönen Künste habe, von der Ausbreitung des guten Geschmaks an vielen Stellen dieses Werks, als von einer Angelegenheit spreche, die der Sorge der Regenten eben so würdig ist, als irgend eine andre öffentliche Veranstaltung; auch wird man mir es nicht übel nehmen, daß ich den Verfall und die schlechte Anwendung der Künste als ein die Menschlichkeit betreffendes Verderbnis beklage, und hier und da einen etwas ernsthaften Ton annehme. Entweder muß man mir zeigen, daß meine Begriffe von dem Wesen der schönen Künste falsch und übertrieben sind, oder man muß die Folgen, die ich daraus ziehe, gelten lassen: stehen jene, so müssen auch diese fest stehen.

Hieraus wird man auch zugleich abnehmen, daß ich über die schönen Künste als ein Philosoph, und gar nicht als ein so genannter Kunstliebhaber, geschrieben habe. Diejenigen, die mehr curiöse, als nützliche Anmerkungen über Künstler und Kunstsachen hier suchen, werden sich betrogen finden. Auch war es meine Absicht nicht die mechanischen Regeln der Kunst zu sammeln, und dem Künstler, so zu sagen, bey der Arbeit die Hand zu führen. Das Praktische in allen Künsten wird durch Uebung erlangt, und nicht durch Regeln erlernt. Zu dem bin ich kein Künstler, und weiß wenig von den praktischen Geheimnissen der Kunst. Was ich hier und da davon sage, steht mehr in der Absicht da, jungen Künstlern die Aufmerksamkeit und den Fleiß zu schärfen, und den Liebhabern die Schwierigkeiten, die sich bey der Ausübung zeigen, begreiflich zu machen, als den Künstler zu unterrichten. Denn welcher Mensch von irgend einigem Nachdenken, wird sich einfallen lassen, daß er, als ein in der Ausübung unerfahrner, denen, die schon eigene Uebung und Erfahrung haben, Regeln geben könnte?

Darin aber glaube ich dem Künstler durch diese Arbeit nützlich zu seyn, daß ich ihn überall seines Beruffs erinnere, daß ich ihn warne, seine Zeit nicht auf Kleinigkeiten [6] zu verwenden; daß ich ihm hier und da nützliche Regeln gebe, wie er sein Genie schärfen, seinen Geschmak verbessern, wie er studiren, wie er sich in Begeistrung setzen, und was er überall bedenken soll, wenn er sicher seyn will, ein gutes Werk zu machen. Dieses sind Sachen, worüber ich mir, ohne mich für einen Kunstkenner auszugeben, verschiedenes ganz nützliches gesagt zu haben schmeichele. Und darauf gründet sich die Hoffnung, daß auch der Künstler selbst dieses Werk für sich nützlich finden werde.

Für den Liebhaber, nämlich nicht für den curiosen Liebhaber, oder den Dilettante, der ein Spiel und einen Zeitvertreib aus den schönen Künsten macht, sondern für den, der den wahren Genuß von den Werken des Geschmaks haben soll, habe ich dadurch gesorget, daß ich ihm viel Vorurtheile über die Natur und die Anwendung der schönen Künste benehme; daß ich ihm zeige, was für großen Nutzen er aus denselben ziehen könne; daß ich ihm sein Urtheil und seinen Geschmak über das wahrhaftig Schöne und Große schärfe; daß ich ihm eine Hochschätzung für gute, und einen Ekel für schlechte Werke einflöße; daß ich ihm nicht ganz unsichere Merkmale angebe, an denen er das Gute von dem Schlechten unterscheiden kann. Auch ihm zu gefallen habe ich, viele Kunstwörter erkläret, hier und da etwas von historischen Nachrichten eingestreut, und auch bisweilen von dem Verfahren der Künstler etwas gesagt; damit er doch einigermaaßen begreife, durch welche Mittel es dem Künstler gelinget das, was sein Genie erfunden hat, in dem Werke darzustellen.

Dieses waren also bey Verfertigung des Werks meine Absichten. Wie weit ich sie erreichen werde, wird die Zeit lehren. Ich selbst sehe es gar wol ein, daß meine Arbeit nur noch ein schwacher Versuch ist, die schönen Künste Kennern und Liebhabern in ihrem unverfälschten Glanze zu zeigen. Wer von diesem Werk eine Vollkommenheit erwartet, die mit der Länge der Zeit, die von seiner ersten Ankündigung bis itzt verflossen ist, in einem Verhältniß steht, der wird es sehr unter seiner Erwartung finden. Aber es sey mir erlaubt zu meiner Entschuldigung dieses zu sagen, daß gerade in die Zeit, in welcher ich mich mit dieser Arbeit beschäftiget habe, die unruhigsten Jahre meines Lebens, die wichtigsten Veränderungen meiner äußerlichen Umstände, die mühesamsten Amtsverrichtungen, und noch dabey die größten Zerstreüungen fallen; daß ich an diesem Werke ganze Jahre lang nicht nur die Arbeit unterbrechen, sondern es beynahe ganz aus dem Gesichte verliehren müssen.

[7] Dieses könnte nun zwar einem durchaus schlechten Werke nicht zur Rechtfertigung dienen; aber es entschuldiget die, einem sonst guten Werk anklebenden Unvollkommenheiten, zumal wenn man, wie ich, wichtige Gründe gehabt hat, die Herausgabe nicht länger zu verschieben. Hätte ich dieses gethan, und hätte ich das Werk so lange zurük behalten sollen, bis ich damit zufrieden gewesen wäre, so würde es nie an den Tag gekommen seyn. Also mußte ich mich entschließen, es entweder ganz zu unterdrüken, oder mit allen Mängeln, die es hat, herauszugeben. Diese Mängel und Unvollkommenheiten werden wenig Leser so ausführlich darin erkennen, als ich selbst. Aber ich will nicht mein eigener Tadler seyn, sondern vielmehr, so weit es sich schiket, den Tadel, der auf mich fallen könnte, von mir ablehnen.

Anfänglich hatte ich mir vorgesetzt, keinen einzigen Artikel, der in einem solchen Werke natürlicher Weise gesucht wird, wegzulassen. Aber die öftern Unterbrechungen der Arbeit ließen mich bald sehen, daß ich darauf nicht würde bestehen können. Ich hatte weder Zeit genug mich einer gänzlichen Vollständigkeit zu versichern, noch Kenntnis genug gar alle in jeden Zweyg der Kunst einschlagende Artikel zu bearbeiten. Daher kommt es also, daß einige Artikel vorsetzlich, andre aus Versehen, weggeblieben sind, ob sie gleich eben so viel Anspruch auf den Platz hatten, als andre, die da stehen. Unter anderm war ich erst willens alle große Männer, deren Werke ich vor mich nehmen konnte, nach ihrem Genie zu charakterisiren, jedem großen Redner und Dichter einen Artikel zu wiedmen, worüber man in diesem Theile einige Versuche in den Artikeln Aeschylus, Euripides, Homer u. a. finden wird. Dieses auszüführen war über meine Kräfte und über meine Zeit. Was aber darüber einmal entworffen war, ließ ich stehen; um etwa künftige Verbesserer dieses Werks zu ermuntern, diesen Mangel zu ersetzen.

Eine andre Unvollkommenheit des Werks liegt in der Ungleichheit, die man zwischen verschiedenen Artikeln, sowol in der Behandlung der Materien, als in der Schreibart antreffen wird. Einige Artikel sind länger, andre kürzer, als ich sie gewünscht hätte; in einigen herrscht ein steifer dogmatischer Ton, andre sind etwas andringlicher und wärmer vorgetragen; einige Materien sind etwas methodisch behandelt, da über andre nur einzele Anmerkungen gemacht worden. Dieses alles habe ich eingesehen, aber dem Uebelstand, der aus dem Mangel der Gleichförmigkeit entsteht, nicht abhelfen können.

[8] Noch eine Erinnerung, die sich über die meisten Artikel des Werks erstrekt, muß ich zu Abwendung nachtheiliger Urtheile beybringen. Ich habe in dem ganzen Werk den Charakter eines Philosophen, und nicht eines Gelehrten, vielweniger eines bloßen Sammlers angenommen. Meine Absicht war gar nicht alles zu sammeln, was etwa gutes über jeden ästhetischen Gegenstand geschrieben worden. Warum sollte ich im Artikel über die Comödie alle Comödien, und im Artikel Heldengedicht alle Epopöen die Musterung passiren lassen? Noch weniger nahm ich mir vor, alles falsche was gelehrt worden, und noch gelehrt wird, zu widerlegen. Meine Hauptsorge war bey jedem Gegenstand den wahren Gesichtspunkt, aus dem man ihn betrachten muß, wenigstens den, woraus ich ihn betrachte, festzusetzen, und dann dasjenige, was ich selbst in dieser Stellung sah, vorzutragen.

Nun bin ich weit entfernt zu glauben, daß ich alles gesehen und meine Materien erschöpft habe; oder daß ich überall den rechten Punkt getroffen, oder überall völlig richtig gesehen habe. Ich bilde mir so wenig ein, das weitere Nachforschen über die Gegenstände des Geschmaks überflüßig gemacht zu haben, daß ich hoffe eine der angenehmsten Früchte meiner Arbeit werde die seyn, daß sie neue Untersuchungen veranlassen werde. Meinen Grundsätzen, worauf alle Untersuchungen über Werke des Geschmaks sich stützen müssen, verspreche ich Beyfall; aber ich hoffe, daß der Gebrauch, den andre nach mir davon machen werden, den Künsten weit mehr aufhelfen werde, als das, was ich zu diesem Behuf gethan habe.

Wenn ich hier und da, wo ich etwa von dem gegenwärtigen Zustand der Künste und des Geschmaks spreche, etwas Unzufriedenheit äußere, so muß man dieses nicht als Verachtung oder Tadelsucht aufnehmen. Ich habe es darum hier zum voraus gesagt, daß ich sehr hohe Begriffe von dem Werth der schönen Künste und von dem Beruff eines Künstlers habe. Wenn ich nun nach diesen Grundsätzen einen so genannten witzigen Kopf, einen Menschen, der feine Kleinigkeiten macht, nicht für einen wahren Dichter; einen Mann der schön coloriret, oder fein zeichnet, darum noch nicht für den rechten Mahler halte; oder wenn ich der Nation, die viele Werke des Geschmaks besitzt, darin das mechanische der Kunst vollkommen, auch allenfalls die Erfindung geistreich ist, wenn ich ihr, sage ich, den wahren Besitz der Kunst abspreche; so ist es nicht Verkleinerung ihrer Talente, sondern nothwendige Folgerung aus meinen Grundsätzen. Da ich diese einmal festgesetzt glaubte, so hatte ich keinen Grund die [9] Folgerungen, die daraus fließen, zu fürchten. Darum habe ich überall mit der Freymüthigkeit gesprochen, die einem Philosophen geziehmet.

Ich bitte zu bedenken, daß ich alles, was den guten Geschmak betrift, für eine sehr wichtige Angelegenheit, und gar nicht, wie viele thun, für ein Spielwerk halte. Bey dieser Art zu denken, halt ich es für ein Verbrechen das Publicum, oder die Künstler durch Schmeicheleyen sich günstig zu machen. Da ich einmal deutlich einsehe, wie genau die sittliche Bildung des Menschen, mit der Ausbreitung des guten Geschmaks zusammen hängt, so ist es mir nicht möglich mit Gleichgültigkeit von Dingen zu reden, die nach meiner Einsicht den Geschmak verderben, und die schönen Künste von ihrem großen Zwek abführen.

In dem Reiche des Geschmaks giebt es, so wie in der Philosophie verschiedene Sekten und Schulen, die in ihren Grundsätzen und Lehren weit auseinander sind, und wo die meisten Anhänger der Häupter der Schulen, ohne weitere Untersuchung, beym Loben und Tadeln nachsprechen, was diese einmal für gut gefunden haben. Ich habe vermuthlich ofte gegen solche Schullehren angestoßen. Dieses soll nun weiter nichts auf sich haben, als daß ich mir die Freyheit nehme, auch meine Meinung zu sagen, so wie es die, die von mir anders geurtheilt haben, auch gethan. Ham veniam damus petimusque vicissim.[10]

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. III3-XI11.
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