Vorrede [zum zweiten Teil]

[3] Ich würde den Leser hier mit keiner Vorrede aufhalten, wenn ich mich nicht für verpflichtet hielte, ihn zu benachrichtigen, daß in diesem Theile die meisten und vorzüglichsten Artikel, die in die Musik einschlagen, nicht von mir, sondern, wie Kenner es bald merken werden, von einem würklichen Virtuosen herrühren.1 Er hat die Gefälligkeit für mich gehabt, eine Arbeit, der ich selbst bey weitem nicht gewachsen war, auf sich zu nehmen. Von ihm sind also von Anfange des Buchstabens S bis zu Ende des Werks alle Artikel über musikalische Materien, nur wenige ausgenommen, die ich schon vorher entworfen hatte. Dadurch hat dieser Theil einen beträchtlichen Vorzug über den vorhergehenden erhalten. Denn ob ich gleich für den ersten Theil des Unterrichts und Beystandes eines der gründlichsten Tonsetzer itziger Zeit, des Herrn Kirnbergers, genossen habe, so war ich doch nicht im Stande, das, was ich zu sagen hatte, mit der Gründlichkeit und Leichtigkeit, die nur den Meistern in der Kunst eigen ist, vorzutragen. Indessen hat Herr Kirnberger auch in diesem Theile, sowol mir, als dem Herrn Schultze viel wichtige Bemerkungen, die seine gründliche Theorie und große Erfahrung an die Hand gegeben hat, mit ausnehmender Bereitwilligkeit mitgetheilet.

Weiter habe ich hier meinem Leser nichts zu sagen. Denn ich finde es weder nöthig noch schiklich das Werk gegen einige widrige Urtheile, die man über den ersten [1] Theil hier und da geäußert hat, zu vertheidigen. Was in meiner Theorie wahr ist, wird ohne mühesame Vertheidigung oder Rechtfertigung sich von selbst gegen allen Tadel schützen. Der Theil meiner Theorie, der sich nicht durch seine eigene Kraft halten kann, mag in Vergessenheit fallen. Ich halte überhaupt dafür, daß ein Werk, das nicht aus eigenen innern Kräften gegen Zeit oder Tadel bestehen kann, seinen Fall verdiene, und durch keine Schutzschrift vor demselben verwahrt werden könne.

Das einzige, dessen ich meine Leser zu überzeugen wünschte, ist dieses, daß ich nichts, ohne vorhergegangene genaue Prüfung der Sachen hingeschrieben, und daß ich an den Orten, wo ich andre tadle, nie die Absicht gehabt habe, ihnen wehe zu thun, sondern blos die Wahrheit zu sagen, wo ich es für wichtig genug hielte, sie unter der Gefahr, andern zu mißfallen, einzuschärfen.

Daß es mir einige Kunstrichter, oder Liebhaber, die meines Erachtens in einem gar zu hohen Ton und mit zauneingeschränktem Lobe von gewissen Werken des Witzes sprechen, übel nehmen, daß ich hier und da eine ganz andere Meinung darüber geäußert habe, ficht mich wenig an. Ich schätze zwar jedes Talent hoch; kann aber deßwegen nicht jeden Gebrauch desselben billigen. Ich dringe durchgehends darauf, daß die schönen Künste ihren Werth und ihre Würde nicht von den Werken eines blos spielenden und scherzenden Witzes, so fein er auch seyn mag, sondern von den ernsthafteren Werken bekommen, die auf den großen Zwek, die Besserung und Erhöhung der Gemüther abzielen. Diese Wahrheit wird auch der witzigste Kopf gewiß nicht umstoßen; er müßte denn beweisen können, daß die Wolfarth einzeler Menschen und der Gesellschaften überhaupt nicht auf Tugend und Rechtschaffenheit, sondern auf Witz und lachende Phantasie zu gründen sey.

1 Herr Schultze aus Lüneburg. Nachdem er hier von Herrn Rirnberger in der musikalischen Setzkunst unterrichtet worden, begab er sich in Dienste einer polnischen Fürstin, wodurch er Gelegenheit bekam, durch Reisen nach Frankreich und Italien sich eine gute Kenntniß des gegenwärtigen Zustandes der Musik in diesen Ländern zu erwerben, die berühmtesten Virtuosen zu hören, und dadurch seine Einsicht in die Kunst zu erweitern.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. I1-III3.
Lizenz:
Faksimiles:
1 | 3