[282] Isis, (Aegypt. M.), die wichtigste, mit Osiris, der bald ihr Bruder, bald ihr Vater, bald ihr Gemahl, bald ihr Sohn heisst, unzertrennlich verbundene, und mit ihm am Allgemeinsten verehrte Göttin der alten Aegypter. In diesem Götterpaare tritt das eigenthümliche Wesen der ägyptischen Volksreligion am ausgeprägtesten hervor. Nach den jetzt entzifferten Schriften auf altägyptischen Denkmalen fällt die bestimmte Ausbildung der diese beiden Wesen betreffenden Mythen etwa in's zwölfte bis dreizehnte Jahrhundert v. Chr., folglich, da die Cultur Aegyptens sicher über das Jahr 4000 v. Chr. zurückreicht, in eine verhältnissmässig späte Zeit. Ursprünglich war I. nichts Anderes, als die Personification der fruchtbaren Erde, Osiris die der Erde durch Vermittelung des Nil einverleibte Zeugungskraft der Sonne. Daran knüpfte sich nun, da die alten ägyptischen Quellen, wie es scheint, sehr beschränkt waren, die willkürliche, bald mehr historisch, bald mehr philosophisch umdeutende Behandlung der Griechen an. So erzählt Diodor: »Zuerst herrschten Saturn und Rhea in Aegypten; ihre Kinder waren Osiris, I., Typhon, Apollon und Venus. Osiris bedeutet so viel als Bacchus, und I. beinahe dasselbe, was Ceres. Osiris vermählte sich mit I., er wurde Thronfolger und machte viele wohlthätige Einrichtungen für das gesellschaftliche Leben. - Er schaffte zuerst die Sitte, Menschenfleisch zu essen, ab, nachdem I. die Gerste und den Weizen entdeckt, welche im Lande wild wuchsen, ohne dass man sich derselben bediente; und da Osiris die Behandlungsart dieser Früchte erfand, so gewöhnten sich alle gern an eine andere Nahrung, weil sie die neuen Speisen angenehm fanden. Für die Entdeckung jener Früchte soll ein Gebrauch zeugen, der sich in Aegypten aus der alten Zeit herübergetragen hat; noch jetzt nämlich rufen die Bewohner des Landes in der Ernte die I. an, indem sie die ersten geschnittenen Aehren niederlegen, und, neben der Garbe stehend, sich an die Brust schlagen. In einigen Städten trägt man bei dem Aufzug am I.-Fest unter andern auch Stengel von Weizen und Gerste umher, zum Andenken an die erste Entdeckung der Früchte durch die kunstreiche Göttin. Auch Gesetze hat I. gegeben, damit die Menschen einander Recht widerfahren liessen, und der gesetzlosen Willkür und Gewalt durch die Furcht vor der Strafe gesteuert würde; darum heisst auch bei den alten Griechen Ceres die Gesetzgeberin.« - Derselbe erzählt ferner, dass Osiris mit einem Heere nach Asien gezogen, seiner Gattin I. die oberste Gewalt übertragen, und ihr in Mercur einen Rathgeber an die Seite gestellt; da er nun nicht zurückkehrte, weil er von Typhon ermordet worden, suchte sie seinen Mord mit Hülfe ihres Sohnes ⇒ Horus zu rächen: sie tödtete Typhon und seine Genossen, und wurde Königin von Aegypten. »Die Schlacht fiel am Ufer des Flusses vor, in der Nähe eines Dorfes, welches jetzt Antäum heisst. I. fand nun alle Theile des Leichnams auf, ausser dem Phallus. Die Begräbnissstätte ihres Gemahls wollte sie geheim halten, und doch unter allen Einwohnern von Aegypten verehrt wissen; diesen Zweck erreichte sie auf folgende Weise: Um jeden der gefundenen Theile liess sie einen ganzen Menschenkörper aus Wachs bilden, an Grösse dem Osiris gleich; dann berief sie die Priester, je nach ihren Zünften, und liess sie alle schwören, Niemand zu offenbaren, was ihnen anvertraut würde; jeder einzelnen Zunft aber sagte sie insbesondere, ihr allein werde die Bestattung des Leichnams übergeben; sie erinnerte sie an die Wohlthaten des Osiris, und forderte sie auf, seinen Leichnam in ihrer Heimath zu begraben, und ihm als Gott zu verehren, auch sollten sie ein bei ihnen einheimisches Thier, welches sie wollten, heiligen, und das, so lange es lebte, ehren, wie sie zuvor den Osiris geehrt, nach seinem Tode aber es ebenso feierlich wie ihn bestatten. - Damit die Priester schon um ihres Vortheils willen die verlangte Gottesverehrung besorgten, gab ihnen I. den dritten Theil des Landes zum Dienste der Götter und zu den heiligen Gebräuchen. Die Priester thaten wie I. gewollt, und daher auch kommt es, dass sie alle noch glauben, dass bei ihnen allein der wahre Osiris begraben sei. - I. schwur, keine Ehe mehr einzugehen; sie blieb Königin ihre ganze Lebenszeit, und ihre Regierung war höchst gerecht und für die Unterthanen wohlthätig. Auch der I. wurde, nachdem sie dem Kreise der Menschen entrückt war, göttliche Verehrung zu Theil; begraben wurde sie zu Memphis, wo man noch gegenwärtig (ungefähr 50 Jahre v. Chr.) ihr Grabmal im heiligen Hain des Vulcan zeigt.« - Plutarch fügt zu diesen Angaben Diodors hinzu: »Rhea ward mit dem Sonnengotte vermählt, und gebar, von ihm und Andern erzeugt, Saturn und Mercur, worüber erzürnt, ihr Gatte sie verfluchte, dass sie weder in einem Jahr noch in einem Monat gebären sollte. Diesen Fluch löste [282] Mercurs List: er spielte mit dem Monde im Brett, und gewann demselben von jedem Erscheinen über der Erdfläche den siebenzigsten Theil ab, diess macht in 360 Tagen grade 5 ganze Tage und 10/70. Diese 5 Tage schaltete Mercur nun je am Ende eines Jahres ein, und so konnte Rhea gebären, und zwar gebar sie am ersten Tage Osiris, am zweiten Arueris, Söhne des Sonnen-Gottes, am dritten Typhon, Sohn des Saturn, am vierten I., Tochter des Mercur, am fünften Nephthys, auch von Saturn.« Nun folgt die Vermählung des Osiris mit I., der Heereszug des Erstern, die Herrschaft des Letztern, der Mord des Typhon an ihrem Gatten u.s.w. Osiris ward von Typhon in einen Kasten gepackt und in den Nil geworfen; dieser trug die Bürde in das Meer, bis nach Byblus in Phönicien, wo der Kasten auf einem jungen Baum sich niederliess, in den er so einwuchs, dass man ihn nicht mehr sah, worauf zufällig aus demselben eine Säule für den Palast des Königs gemacht wurde, die Osiris' Leiche umschloss. I. schiffte nun in Trauerkleidern umher, den Gatten suchend, und erfuhr dabei, dass derselbe vor seinem Zuge sich zu seiner andern Schwester Nephthys gesellt, wovon sie durch den Lotuskranz überzeugt ward, den Osiris bei der Geliebten zurückgelassen. Nephthys hatte aus Furcht vor Typhon, ihrem Gatten, das Kind ausgesetzt, I. nahm sich desselben an, und erzog es unter dem Namen Anubis, sich in demselben einen getreuen Freund erwerbend. Sie hatte unterdessen gehört, wohin der Kasten mit dem Leichnam des Gatten gekommen sei, eilte dahin, erwarb sich die Gunst der Königin, ward ihres Kindes Amme, und wollte es unsterblich machen, indem sie es Nachts in's Feuer legte, um das Irdische von demselben hinwegzubrennen, wobei die Mutter sie störte, dem Kinde die Unsterblichkeit raubte, aber auch die Entdeckung der Göttin veranlasste, die nun um die Säule bat, welche ihres Geliebten Hülle umschloss, die sie dann herausholte, das Holz der Königsfamilie zurücklassend, die es in einem Tempel verwahrte, woselbst es hoch verehrt wurde. - I. begab sich nun mit dem Sarge nach Buto in Aegypten zu ihrem Sohne Horus, doch Typhon fand den Sarg auf, erkannte den balsamirten Körper und raubte denselben der Unglücklichen; nun sollte sie ihn nicht wieder finden, darum zerriss er ihn in viele Stücke und streute dieselben in den Nilsümpfen umher; allein I. befuhr dieselben in einem Nachen aus Papyrus, und fand alle Theile bis auf den Phallus, an dessen Stelle sie ein anderes Glied aus Feigenholz machen liess, welches nun als Symbol der zeugenden Naturkraft Gegenstand der höchsten Verehrung ward. Die Liebe der Gattin bewog Osiris, aus jener Welt zurückzukehren; er unterrichtete Horus in der Kriegskunst, vermöge deren es ihm gelang, den Typhon zu besiegen, er zeugte als Verstorbener mit seiner Gattin den Harpocrates, und wirkte durch seinen Rath überall wohlthätig ein; doch vermochte er nicht zu hindern, dass Horus sich gegen die Mutter gröblich verging, indem er ihr voll Zorn die Krone vom Haupte riss, weil sie dem durch Horus gefangenen Typhon das Leben schenkte. Mercur aber setzte ihr an deren Stelle einen Kuhschädel auf, mit welchem wir sie hier abgebildet sehen. - Die Begriffe der I., als rein göttliches Wesen gedacht, haben sich zu einer fast unendlichen Mannigfaltigkeit gegliedert. Durch den Einfluss des syrischen Gestirn-Dienstes wurde sie zur Mondsgöttin; die Kuhhörner, die ihr zum Kopfschmuck gedient hatten, weil das fruchtbare Rind Symbol des fruchtbaren Nil-Landes war, deutete man nun als Hörner des Mondes. Als Erdgöttin wurde sie Göttin der Unterwelt, theils heilbringende, theils verderbliche. Nach der Gründung von Alexandria wird sie Beherrscherin des Meeres und der Schifffahrt: dann aber auch Beherrscherin des sittlichen Lebens, Gründerin des Staates und der Religion, Gesetzgeberin, Göttin der Ehe, aber auch der ungeregelten Geschlechtslust, daher ihre Tempel später oft Stätten der Unzucht waren; endlich bei den neupythagoreischen Philosophen die ganze unter der Sonne liegende Welt, die absolute Ursächlichkeit, die Alles gebärende Urnacht. In Aegypten war ihr berühmtester Tempel in Sais, wo ihre mächtige colossale Figur ganz verschleiert, inmitten einer grossen Rotunda, stand; der Schleier war, gleich der Figur, von Stein, und weit ausgebreitet um dieselbe hergelegt; das Bild trug die Inschrift: »ich bin, was da war, was ist und was sein wird; meinen Schleier hat noch kein Sterblicher gehoben.« Durch die Ptolemäer, die griechischen Könige Aegyptens nach Alexander, verbreitete sich ihr Dienst über die ganze griechische Welt, nach dem Entstehen des römischen Weltreichs über alle Provinzen des letztern, wie man denn auch in Rottenburg am Neckar Reste eines I.-Tempels ausgegraben hat. Ihre Statuen trugen häufig das Sistrum, eine metallene Klapper, mit welcher sie einst den Typhon vertrieben hatte, und dieser Begebenheit wegen ward ihr grosses Fest sehr lärmend begangen. - In Rom artete ihr Dienst wiederholt in grobe Unordnungen aus; doch stand derselbe zu andern Zeiten wieder so hoch in Ehren, dass Kaiser, wie Domitian, Caracalla, Commodus, I.-Priester wurden, ihre Tempel sich mit Weihgeschenken füllten, und für hundert von ihrem Dienst Zurückgescheuchte sich tausend neue Diener derselben wieder fanden.
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