Fichte, Johann Gottlieb

[173] Fichte, Johann Gottlieb, geb. 19. Mai 1762 in Rammenau (Oberlausitz) als Sohn eines Bandwirkers. Er besuchte 1774-80 die Schule in Pforta, studierte in Jena, und Leipzig Theologie und gab Privatstunden. 1784-88 war er Hauslehrer in sächsischen Orten, 1788-90 in Zürich, wo er sich mit einer Nichte Klopstocks, Johanna Rahn, verlobte. 1790 gab er in Leipzig einem Studenten Unterricht in der Kantschen Philosophie, die ihn selbst von seinem anhänglichen Determinismus und Spinozismus abbrachte. 1791 ging er (von Warschau, wo er eine Erzieherstelle hätte bekommen sollen) nach Königsberg, wo er sich mit dem Manuskript seiner »Kritik: aller Offenbarung« Kant vorstellte, der ihn sehr wohlwollend, aufnahm und den Druck der Schrift vermittelte, die nach ihrem Erscheinen (1792, anonym) Kant selbst zugeschrieben[173] wurde. Kurze Zeit war F. Hauslehrer beim Grafen von Krokow bei Danzig, dann ging er (1793) wieder nach Zürich, wo er schriftstellerisch tätig war und 1793 heiratete. 1794 wurde er als Professor der Philosophie nach Jena (an Stelle von Reinhold) berufen und hatte dort eine große Hörerschaft. 1798 brachte Forbergs »Philos. Journal« einen Aufsatz Fichtes »Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung« im Anschluß an Forbergs Abhandlung »Über die Bestimmung des Begriffs der Religion«. Fichte bestimmte hier Gott als die »sittliche Weltordnung« und wurde nun des Atheismus beschuldigt. Er erhielt einen Verweis und wurde – da er erklärt hatte, im Falle eines solchen werde er seinen Abschied nehmen – entlassen. Er ging nun, 1799, nach Berlin, wo er öffentliche Vorlesungen hielt. 1805 erhielt er eine Professur in Erlangen, wo er aber nur ein Sommersemester las. 1806 hielt er Vorlesungen in Königsberg, 1807-8 in Berlin die »Reden an die deutsche Nation«. 1809 wurde er Professor an der neubegründeten Berliner Universität, deren Rektor er 1811 war. Er starb am 27. Januar 1814 an einem Nervenfieber, das er sich bei der Pflege seiner Frau zugezogen hatte. In. Fichtes Natur fehlt alles Weiche, Schmiegsame. Er war ein strenger, oft starrer, starrsinniger, aber höchst lauterer, ehrlicher Charakter, ein Willensmensch, dessen Denken ein Ausdruck seiner nach Aktivität und innerer Freiheit strebenden, die Geistes- und Willenskraft aufs höchste schätzenden Persönlichkeit ist. Er war ferner ein höchst national und patriotisch denkender Mann der unerschrocken seine Ideen verfocht und durch seine aufrüttelnde Energie stark und breit wirkte.

F. ist von Kant ausgegangen und hat dessen Kritizismus zu einem vollen: (»subjektiven« oder besser »ethischen«) Idealismus ausgestaltet, indem er das »Ding an sich« ganz streicht und Inhalt wie Form der Erfahrung aus dem »Ich« (dem allgemeinen, überindividuellen Subjekt) ableitet. Da nach Fichte das Primäre nicht das Sein, sondern das Tun, die Handlung ist, so ist seine Philosophie Aktualismus und Aktivismus; den Primat der »praktischen Vernunft« führt F. konsequent durch.

Die Philosophie ist ein Ausfluß der ganzen Persönlichkeit. »Was für eine Philosophie man wähle..., hängt davon ab, was man für ein Mensch ist.« Auch in dem theoretischen Teile hat sie es mit dem Handeln zu tun, wenn auch mit der rein geistigen, inneren Richtung desselben, mit der aber zugleich die Setzung des Äußeren, des Objekts, der Außenwelt verknüpft ist. Die Philosophie untersucht, was im Geiste an ursprünglichen »Tathandlungen« besteht und in welchem Zusammenhange sich diese entfalten. So ist sie »Erkenntnis, die sich selbst werden sieht, genetische Erkenntnis«, »Erkenntnis der gesamten Erkenntnis«. Sie ist Wissenschaftslehre. Diese ist »eine pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes«, die Ableitung alles Seine der Erscheinung aus dem Geiste, die Begründung des Wissens; ihre Aufgabe ist es, »das eine, allgemeine und absolute Wissen in seiner Entstehung zu sehen«. Vermittelst einer Art transzendentaler oder metaphysischer Psychologie wird der allgemeine Inhalt der Erfahrung und die Form derselben aus vorbewußten Prozessen des Geistes deduziert. So ist die Quelle der philosophischen Erkenntnis [174] die intellektuale Anschauung als »das unmittelbare Bewußtsein, daß ich handle und was ich handle; sie ist das, wodurch ich etwas weiß, weil ich es tue«. Die logische Methode, deren sich F. bedient, ist dialektisch (»synthetisch«); sie besteht in der Aufsuchung des Übereinstimmenden im Entgegengesetzten nach dem Schema: Thesis, Antithesis, Synthesis. Dogmatisch ist nach F. jede Philosophie, welche vom Sein, von Dingen ausgeht, also über das Ich hinausgeht. Die kritische (idealistische) Philosophie hingegen geht vom Ich aus, ist »immanent«, weil sie »alles in das Ich setzt«, alles aus dem Ich (Kants »transzendentaler Apperzeption«) ableitet, die Welt als Produkt geistiger Aktivität begreift.

Der Idealismus muß (wie schon Reinhold betont) alles aus einem einzigen Grundsatz ableiten; er geht nicht von Tatsachen aus, sondern von »Tathandlungen«, von absoluten »Setzungen« des Ichs, welches kein Ding, sondern »absolute Tätigkeit und nichts als Tätigkeit« ist. Dieses Ich ist das allen Einzel-Ichs gemeinsame, ihnen logisch vorangehende, das bewußte, intelligente Ich ebenso wie die Außenwelt erst in sich setzende reine, absolute, aktive, dem empirischen Bewußtsein vorangehende Ich, die »Ichheit«, das »absolute Subjekt«, dessen Sein bloß darin besteht, daß es sich selbst als seiend setzt. »So wie es sich setzt, ist es; und so, wie es ist, setzt es sich, und das loh ist demnach für das Ich schlechthin und notwendig.« Substanz ist das Ich nur als »den ganzen schlechthin bestimmten Umkreis aller Realitäten umfassend«. Es ist das »erste Prinzip aller Bewegung, alles Lebens, aller Tat und Begebenheit«. Als Subjekt hat es das Objekt zum Korrelat, so aber, daß das »Nicht-Ich« selbst schon ein Produkt der absoluten Ich-Tätigkeit ist und als unabhängig vom Ich nur erscheint. Das absolute Ich ist die Identität des Bewußtseienden und Bewußten, die allen gemeinsame Vernunft, die erst in dem Ich als Idee, dem idealen Ich (als Strebensziel) vollkommen realisiert ist.

Der oberste Grundsatz alles menschlichen Wissens soll »diejenige Tathandlung ausdrücken, die... allem Bewußtsein zum Grunde liegt und allein es möglich macht«. Als Thesis nimmt F. den Satz: A ist A (A = A), welcher schlechthin, ohne allen weiteren Grund gewiß ist. Man schreibt sich damit das Vermögen zu, »etwas schlechthin zu setzen«. Gesetzt ist hier aber nicht, daß A sei, sondern: Wenn A ist, so ist B, also ein notwendiger Zusammenhang zwischen A und B. Und zwar wird er im Ich und durch das Ich gesetzt, d.h. es wird gesagt, daß im Ich etwas ist, was sich stets gleich ist, so daß man sagen kann Ich = Ich, Ich bin Ich. In diesem Satze ist das Ich schlechthin gesetzt (nicht, wie A, bedingt), er bedeutet soviel wie: Ich bin. Es ist Erklärungsgrund aller Tatsachen des empirischen Bewußtseins, daß vor allem Setzen im Ich vorher das Ich selbst gesetzt sei. Allem Urteilen liegt das: Ich bin zugrunde. Der reine Charakter des Geistes ist Tätigkeit; das Ich ist das Handelnde und zugleich sein Produkt. »Sich selbst setzen und Sein sind, vom Ich gebraucht, völlig gleich«. Ich bin daher schlechthin, weil ich bin. So ergibt sich, daß nicht der Satz A = A den Satz: Ich bin, sondern daß vielmehr dieser den ersteren begründet, denn dieser ergibt sich durch Abstraktion[175] vom Gehalt des ersteren. Abstrahiert man von der Handlungsart des Geistes, so hat man die Kategorie der Realität. Was durch das Setzen irgend eines Dinges gesetzt ist, ist in ihm Realität, ist sein Wesen. »Alles, was ist, ist nur insofern, als es im Ich gesetzt ist, und außer dem Ich ist nichts.« An der Hand des Satzes vom Widerspruch (Non-A nicht –A) weist F. das »Entgegensetzen« als Tathandlung auf. Das dem Ich Entgegengesetzte ist »Nicht-Ich« (Objekt). Dem Ich wird schlechthin entgegengesetzt ein Nicht-Ich. »Von allem, was dem Ich zukommt, muß kraft der bloßen Gegensetzung dem Nicht-Ich das Gegenteil zukommen«. Die Reflexion auf die.Form der Folgerung vom Entgegengesetzten auf das Nicht-Sein ergibt die Kategorie der Negation. Ich und Nicht-Ich sind beide »Produkte ursprünglicher Handlungen des Ich«. Sie schranken sich gegenseitig ein d.h. ihre Realität wird partiell aufgehoben: Ich und Nicht-Ich werden als teilbar gesetzt. Es ergibt sich: »Ich setze im Ich dem teilbaren Ich ein teilbares Nicht-Ich entgegen«. Die Reflexion auf die bloße Form der Vereinigung Entgegengesetzter durch den Begriff der Teilbarkeit ergibt den Satz des Grundes (A zum Teil = Non-A), aus dem die Kategorie der Bestimmung (Begrenzung, Limitation) folgt. Aus dieser Synthesis folgen alle anderen apriorischen Grundsätze und Kategorien. In ihm liegt zweierlei: l. »Das Ich setzt das Nicht-Ich als beschränkt durch das Ich« – die Grundlage der praktischen Wissenschaftslehre; 2. »Das Ich setzt sich selbst als beschränkt durch das Nich-Ich« – die Grundlage der theoretischen Wissenschaftslehre.

Die Kategorien entstehen (zugleich mit den Objekten) durch die Tathandlungen des Ichs. Aus der Verbindung von Tätigkeit und Leiden im Ich ergibt sich die Wechselbestimmung (bei Kant: Relation). Das Nicht-Ich hat nur Realität, sofern das Ich leidet (d.h. sich selbst beschränkt). Es wird hier dem Nicht-Ich Tätigkeit zugeschrieben, dieses gilt als Ursache und so haben wir die Kategorie der Wirksamkeit (Kausalität). Das Ich als umfassend alle Realitäten ist Substanz, nämlich insofern alle möglichen Handlungsweisen (Seinsweisen) in das Ich gesetzt werden. Das unendliche Ich ist Eins und Alles, da es an sich unendlich ist. »Leiden« ist nur ein geringeres Quantum der ins Unendliche gehenden Ich-Tätigkeit, die sich selbst begrenzt. Das Handeln ist nur dadurch begrenzt, daß es dem Ich ein Nicht-Ich entgegensetzen muß. Das Gesetz des Bewußtseins lautet: »Kein Subjekt, kein Objekt; kein Objekt, kein Subjekt«.

Die (unbewußt) die Anschauungsinhalte und deren Formen setzende Funktion ist die der (produktiven) Einbildungskraft, durch welche das Ich sich begrenzt. »Es kann nichts in den Verstand kommen, außer durch die Einbildungskraft.« Der Wechsel des Ichs, daß es sich endlich und unendlich zugleich setzt, ist das Vermögen der Einbildungskraft, welche zwischen Endlichem und Unendlichem in der Mitte schwebt. Für uns entsteht alle Realität durch die Einbildungskraft. Die Empfindung ist eine Handlung des Ichs, durch welche dieses etwas in sich aufgefundenes Fremdartiges in sich setzt. Die Anschauung ist die Zusammenfassung eines Mannigfaltigen. Sie erfolgt durch einen »Anstoß« auf die Tätigkeit des Ichs, die nach innen[176] getrieben und reflektiert wird, so daß das Angeschaute als Vorstellungsinhalt dem Ich gegenübersteht. Das Angeschaute als solches wird produziert. Das Anschauen ist ein Schweben der Einbildungskraft zwischen widerstreitenden Richtungen und wird erst durch den Verstand (die »durch Vernunft fixierte Einbildungskraft«) fixiert, womit erst Realität gesetzt ist, das Ideale zum Realen wird. Als »gegeben« erscheint das Reale, weil wir uns der Art seiner Produktion nicht bewußt werden. Der »Zwang« des Objektiven ist nur die »Unmöglichkeit der entgegengesetzten Tätigkeit« des Ichs. Als Ursache der Anschauung wird das als denkbar Beurteilte gedacht. Die Anschauungsformen (Raum und Zeit) entstehen zugleich mit dem Anschauungsinhalte und sind ideell wie dieser. Das vorstellende Ich ist Intelligenz; dies ist es aber nur in Beziehung auf das Nicht-Ich, da die Vorstellung nur durch einen »Anstoß« auf die Ich-Tätigkeit möglich ist. Erst die praktische Wissenschaftslehre erklärt diesen Anstoß. Der Grenzpunkt liegt, wohin in die Unendlichkeit ihn das Ich setzt. Das Ich ist endlich, weil es begrenzt sein soll. Es ist die Forderung der praktischen Vernunft, »daß alles mit dem Ich übereinstimmen, alle Realität durch das Ich schlechthin gesetzt sein solle«. Setzen einer Schranke und stete Erweiterung unserer Schranken ist unsere Aufgabe.

Das Ich setzt eine Außenwelt, um praktisch-sittlich wirken zu können. Die Außenwelt ist das »versinnlichte Material unserer Pflicht«. »Objekt und Sphäre meiner Pflicht«. »Weil das Ich sich im Selbstbewußtsein nur praktisch setzen kann, überhaupt aber nichts denn ein Endliches setzen kann, mithin zugleich eine Grenze seiner praktischen Tätigkeit setzen muß, darum muß es eine Welt außer sich setzen«.

Den Übergang zur Ethik bildet die Untersuchung des praktisch sich verhaltenden Ichs. Das Ich setzt sich als tätig und frei, inwiefern es ein Handeln oder Sein aus seinem Begriffe erklärt. Das Geistige im Ich, unmittelbar als Prinzip einer Wirksamkeit angeschaut, ist Wille, dessen Objektivation der Leib ist (vgl. Schopenhauer). Als wollend finde ich mich durch intellektuelle Anschauung. »Tendenz zur Selbsttätigkeit um der Selbsttätigkeit willen« ist das Wesen des Ichs; diese Tendenz ist ein Trieb. Das vernünftige Ich ist frei, autonom. Das Prinzip der Sittlichkeit ist der notwendige Gedanke der Intelligenz, »daß sie ihre Freiheit nach dem Begriffe der Selbständigkeit, schlechthin ohne Ausnahme, bestimmen sollte«. Endzweck alles sittlichen Handelns ist, »daß die Vernunft, und nur sie, in der Sinnenwelt herrsche«. »Alle physische Kraft soll der Vernunft untergeordnet werden.« Sittlichkeit soll in der Gemeinschaft vernünftiger Wesen herrschen. Das Sittliche ist Selbstzweck, da die Natur als solche nichtig und wertlos ist. So ist z.B. der menschliche Leib nur »ein Werkzeug zur Realisierung des Sittengesetzes in der Sinnenwelt«. Das Sittengesetz ist die Darstellung des reinen, absoluten Ich in der Individualität. Kultivierung der Sinnlichkeit ist ein sittliches Ziel. Die Pflicht gebietet unbedingt, ohne jede Rücksicht auf Glückseligkeit u. dgl. Das Leben ist Zweck nur um der Pflicht willen. »Mein empirisches Selbst ist nur Mittel zur Erreichung des Zwecks der Vernunft«; es ist nur ein »Werkzeug des Sittengesetzes«. Objekt des Sittengesetzes ist »die Vernunft überhaupt«.[177]

Das Ganze der vernünftigen Wesen ist die »Darstellung des reinen Ich«. Mein Grundtrieb ist die Übereinstimmung des wirklichen mit dem idealen Ich (Unterscheidung des »reinen« Triebes vom »Naturtrieb«). Das Gewissen ist »das unmittelbare Bewußtsein unserer bestimmten Pflicht«, das »Bewußtsein unserer höheren Natur und absoluten Freiheit«. Die allgemeinste ethische Forderung lautet: »Erfülle jedesmal deine Bestimmung!« (Forderung des sittlichen Triebes). Oder: »Handle stets nach bester Überzeugung von deiner Pflicht«, oder: »Handle nach deinem Gewissen«. Das ist das Prinzip der Moralität (Gesinnung), das formale Sittengesetz. Das Sittengesetz gebietet, »jedes Ding nach seinem Endzwecke zu behandeln«. Moralität aller vernünftigen Wesen ist Endzweck; wir sollen alle gleich handeln.

In seiner Rechts- und Staatslehre deduziert F. zuerst die Existenz von vernünftigen Individuen außer dem Ich. Ohne die Setzung freier, aktiver, vernünftiger Wesen, welche das Ich zur Selbstbestimmung veranlassen und mit ihm in Wechselwirkung stehen, kann sich das Ich als Vernunftwesen nicht denken. Deduziert wird das Rechtsverhältnis also aus dem Ich, aus der »reinen Form der Vernunft«, unabhängig von der Ethik, d.h. vom guten Willen. Es ist ein Verhältnis gegenseitiger Einschränkung freier Wesen. Das Recht ist Bedingung einer Gemeinschaft solcher Wesen, ist durch die Vernunft gefordert. Es gibt kein besonderes Natur- oder Vernunftrecht, sondern alles Recht ist seiner Idee nach Vernunftrecht. Der Zweck ist der Grund und Maßstab des Rechtes. Das allgemeine Rechtsgesetz lautet: »Ich muß das freie Wesen außer mir in allen Fällen anerkennen als ein solches, d.h. meine Freiheit durch den Begriff der Möglichkeit seiner Freiheit beschränken«. »Urrechte« sind die Ansprüche des Vernunftwesens auf Freiheit seines Leibes als Organs der sittlichen Pflichterfüllung und seines Eigentums. Zur gegenseitigen Sicherheit vereinigen sich die Individuen in einem gemeinsamen Willen und es entsteht der Staatsbürgervertrag. Der Staat ist »das Recht selbst, zu einer zwingenden Naturgewalt geworden«, er ist ein Organ der Vernunftverwirklichung, sein letztes Ziel ist die Sittlichkeit; er geht auf seine eigene Vernichtung aus: »Es ist der Zweck aller Regierung, die Regierung überflüssig zu machen«. Kontrolliert wird der Staat am besten durch »Ephoren«. Im »geschlossenen Handelsstaate«, welcher die Produktion, Güterverteilung, die Preise regelt, nur ein »Landesgeld« duldet, kurz möglichst selbständig ist, hat jeder das Recht auf Arbeit und Existenz, aber auch die Pflicht zur Arbeit (Staatssozialismus).

Damit sind wir bei der Sozial- und Geschichtsphilosophie F.s angelangt. Gesellschaft ist nach ihm die »Beziehung der vernünftigen Wiesen aufeinander«. Der soziale Trieb ist ein Grundtrieb des Menschen, dieser ist bestimmt, in der Gesellschaft zu leben, da er nur in dieser ganz Mensch ist. Das Leben im Staate ist ein Mittel zur »Gründung einer vollkommenen Gesellschaft«. »Wechselwirkung durch Freiheit« ist der Charakter der Gesellschaft. Durch sie entsteht die Vervollkommnung der Gattung; gemeinschaftliche Vervollkommnung ist unser Ziel in der Gesellschaft. Kultur als Gestaltung und Beherrschung äußerer und innerer Verhältnisse durch die Vernunft ist Endzweck des Menschen, dem er sich in der Geschichte immer mehr nähert.[178]

In ihr wirkt die Vernunft erst als Instinkt (Stand der Unschuld), dann ab, Autoritätszwang, es kommt zur Auflehnung gegen diese, bis endlich eine Synthese eintritt, bei der alles frei durch Vernunft organisiert wird, die Menschheit ihr Leben aktiv-bewußt, rationell-sittlich gestaltet. Endphase ist der Stand der »vollendeten Rechtfertigung und Heiligung«. Eine besondere Aufgabe hat in der Gesellschaft der Gelehrte, er ist der Vertreter der Vernunft, er widmet sein Leben der Idee. – Ideen zu einer National- und Sozialpädagogik führt F., unter dem Einfluß von Pestalozzi, in den »Reden an die deutsche Nation« aus. Nur durch innere Umwandlung kann das deutsche Volk wieder sich erheben, auf die Jugend muß man einwirken. Die Erziehung ist (wie nach Plato) eine Sache des Staates, der darauf zu sehen hat, daß die Jugend in geeigneten Anstalten sittlich und national erzogen wird. Eine »deutsche Nationalerziehung« tut not. Wichtig ist vor allem die Erziehung zu einem festen, nicht schwankenden Willen; denn der Wille ist die »Grundwurzel des Menschen selbst«. Die Liebe zum Guten als solchen muß zur Entfaltung gelangen. Die eigene Tätigkeit des Zöglings anzuregen, ist notwendig. Für die Förderung des Vernunftzwecks ist auch ästhetische Bildung höchst wirksam.

Auf dem Gebiete der Religionsphilosophie erklärt F. in der »Kritik aller Offenbarung« die Offenbarung als Erziehungsmittel für möglich. Sollen Wesen, deren Natur gegen das Sittengesetz teilweise widerstreitet, die Sittlichkeit nicht ganz verlieren, so mußte diese durch Offenbarung gefördert werden. In der Schrift, die ihm den Vorwurf des Atheismus zuzog (»Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltordnung«) bezeichnet F. Gott als die lebendige, aktive »moralische Weltordnung« (als »ordo ordinans«). Es bedarf keines ändern Gottes; Gott ist kein Ding, keine besondere Substanz. In der »Appellationsschrift« erklärt er, keineswegs Atheist zu sein; seine Gegner, welche nur ihre Wünsche personifizieren, für die also Gott nur »Geber des Genusses« sei, seien die eigentlichen Atheisten, religionslos. Später identifiziert er Gott mit dem unendlichen, absoluten Welt-Ich, der die Welt setzenden absoluten Vernunft, die reine Tätigkeit ist. Dann, in der Abhandlung »Über das Wesen des Gelehrten«, faßt er Gott als ein unendliches »Leben« auf, dessen Erscheinung die Welt ist. Das Sein ist »lebendig und in sich tätig«. Das Leben aus und durch sich ist »das Leben Gottes oder des Absoluten«. Dieses ist an und für sich »rein in sich selber verborgen«, es ist alles Sein, ist ohne Veränderung. Seine Äußerung, Darstellung, äußerliche Existenz ist die Welt. »Das göttliche Leben an sich ist eine durchaus in sich geschlossene Einheit, ohne alle Veränderlichkeit oder Wandel... In der Darstellung wird dasselbe... ein ins Unendliche sich fortentwickelndes und immer höher steigendes Leben in einem Zeitflusse, der kein Ende hat«. Die immer wieder zu überwindende Schranke des Lebens ist die Natur, ein totes, starres, in sich beschlossenes Dasein. Aus dem göttlichen Leben fließt das »Zeitleben«. Wo die göttliche Idee rein und ohne Beimischung des natürlichen Antriebes ein Leben gewinnt, da baut sie neue Welten auf (vgl. Eucken). Erst in der Erscheinung zerfällt das eine Leben in Individuen. Die Idee selbst verschafft sich im Menschen ein selbständiges und persönliches Leben und gestaltet vermöge [179] desselben die Welt nach sich. Dieses Leben der Idee stellt sich dar als Liebe, als Liebe zur Idee. Die Schrift »Anweisung zum seligen Leben« führt aus, wie das göttliche Leben im gottergebenen Menschen rein zur Äußerung gelangt, wie die Seligkeit in der Liebe besteht.

Unter dem Einflüsse Schellings hat F. später (von 1811 an) seine Lehre dahin modifiziert, daß er das göttliche Sein dem Wissen voranstellt. Das Sein ist, »Insichsein«, unveränderliches »Beruhen auf sich selbst, Absolutheit«. Alles ist Bild, Erscheinung des einen Seienden, Gottes. Das Wissen ist das Sehen des Seins durch ein Bild, die Erscheinung des Seins, die sich als Bild erfaßt und so in der Form des Ichs auftritt, für die es erst Dinge gibt.

Anhänger Fichtes sind Forberg, Niethammer, J. B. Schad, Mehmel u. a.; weitergebildet wurde seine Lehre durch Schelling und Hegel. Von den »Neukantianern« sind stark von Fichte beeinflußt Windelband, Rickert u. a. (»Neufichteaner«), aber auch Cohen, Natorp u. a. Ferner Wundt, Lipps u. a., besonders Eucken, J. Bergmann, Schellwien, F. Medicus, Münsterberg, teilweise I. H. Fichte, Fortlage, Harms u. a.

SCHRIFTEN: Aphorismen über Religion und Deismus, 1790. – Versuch einer Kritik aller Offenbarung, 1792; auch in d. Philos. Bibl., 1872. – Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas, 1793. – Beiträge zur Berichtigung der Urteile d. Publikums über d. französ. Revolution, 2. A. 1795. – Über den Begriff der Wissenschaftslehre, 1794. – Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, 1794; 2. A. 1802 (Hauptwerk). – Über die Bestimmung des Gelehrten, 1794; auch in der Univ.-Bibl. – Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre, 1795. – Grundlage des Naturrechts, 1796. – Erste Einleit. in d. Wissenschaftslehre usw. Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, 1797. – System der Sittenlehre, 1798. – Über d. Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltordnung, 1798. – Appellation an das Publikum gegen die Anklage des Atheismus, 1799. – Die Bestimmung des Menschen, 1800; auch in der Univ.-Bibl. – Der geschlossene Handelsstaat; 1800; auch in der Univ.-Bibl. – Darstellung der Wissenschaftslehre, 1801. – Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, 1806. – Anweisung zum seligen Leben, 1806. – Über das Wesen des Gelehrten 1806. – Reden an die deutsche Nation, 1808; auch in der Univ.-Bibl. – Die Tatsachen des Bewußtseins, 1810. – Staatslehre, 1813; erschienen 1820, u. a. – Sämtliche Werke, hrsg. von I. H, Fichte, 8 Bde., 1845-46. – Nachgelassene Schriften, 3 Bde., 1834. – Briefe, hrsg. von Weinhold, 1862. – J. G. F.s Leben und literar. Briefwechsel, hrsg. von I. H. Fichte, 1830; 2. A. 1862. – Werke in Auswahl, hrsg. von F. Medicus. – Vgl. J. H. LÖWE, Die Philosophie F.s, 1862. – K. FISCHER, Gesch. d. neueren Philos. VI. – W. KABITZ. Studien zur Entwicklungsgesch. d. Fichteschen Wissenschaftslehre, 1901. – E. LASK, F.s Idealismus u. d. Geschichte, 1902. – X. LÉON, La philosophie de Fichte, 1902. – MEDICUS, F., 1905.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 173-180.
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