Malebranche, Nicolas

[447] Malebranche, Nicolas, geb. 1638 in Paris, Mitglied der Kongregation des Oratoriums, gest. 1715, angeblich infolge der Aufregung, in die ihn seine Unterredung mit Berkeley versetzte.

M., der von Augustinus beeinflußt ist, geht in seinem, auf Versöhnung von Philosophie und Religion bedachten, zur Mystik neigenden Philosophieren von Lehren Descartes aus und bildet zunächst dessen Auffassung des Verhältnisses von Geist und Körper im Sinne des Okkasionalismus weiter. Die Idee eines endlichen Geistes zeigt nichts davon, daß er einen Körper zu bewegen vermag; auch kann der Körper nicht auf den Geist einwirken, ja es gibt auch keine direkte Kausalität von Körper zu Körper, sondern jedes Geschehen ist nur Anlaß (»occasio«) für das Auftreten eines anderen, wobei die einzige wahre Ursache und Kraft Gott ist: »Il n'y a donc qu'un seul vrai Dieu et qu'une seule cause, qui soit véritablement cause, et l'on ne doit pas s'imaginer que ce qui précède un effet en soit la véritable cause«. Gott wirkt in allem. durch Gelegenheitsursachen (Anlässe): »Omnis actio proprie talis i.e. omnis exertio virium non ad creaturas, sed ad solum Deum pertinet. Deus autem per entia creata non agit nisi ex systemate quodam causarum occasionalium.« »Deus solus re vera causa est eorum omnium quae sunt vel fiunt; creaturae autem non sunt nisi causae occasionales.« Gott wirkt aber nur gemäß den allgemeinen Gesetzen seines ewigen Wesens (»ex legibus universalibus aeternae suae essentiae«). Die Dinge wirken nur vermittelst Gott (»concursu Dei«).

M. baut nun diese Lehre zu einem Panentheismus auf, nach welchem die Welt in Gott ist und wir alles vermittelst der Ideen in Gott erkennen. So wie es kein Wirken ohne Gott gibt, so vermag der Geist nicht ohne Erleuchtung durch Gott zu erkennen, der auch die Zustände des Bewußtseins mit denen des Körpers in Übereinstimmung bringt. Die Erkenntnis ist kein Produkt der Sinne, denn diese, die zur Lebenserhaltung da sind, sind nur subjektive Auffassungen der Beziehungen des Alls der Dinge zu uns (»relationes unius cuiusdemque extensionis tou infiniti ad nostrum intellectum«). Die Empfindungen sind nur Anlässe zur wahren Erkenntnis, diese erfolgt durch die Ideen, die unmittelbaren Objekte des Geistes (»obiectum immediatum mentis ipsi proximum, dum aliquid percipit«). Gegenstand der Ideen ist die Ausdehnung des Unendlichen, Intelligiblen, Unveränderlichen, aus dessen Anschauung wir alle äußere und innere Erkenntnis gewinnen, die, da das Unendliche Gott ist, in Gott erfolgt: »Obiectum omnium idearum est extensio tou infiniti, intelligibilis, immutabilis et incommensurabilis, ex cuius intuitu formamus, quidquid adspicimus sive intra sive extra nos. Vere itaque et non sine fundamento asserimus, hanc intuitionem... fieri in ipso Deo«. In den Anschauungen der Ideen in Gott besteht das Wissen.

In Gott sind alle endlichen Geister sowohl als auch die Ideen der Körper[447] enthalten; Gott ist der »Ort der Geister« (»lieu des esprits«), die »intelligible Welt«, in welcher diese leben und schauen. Gott ist mit allen Geistern innig verbunden (»intime unitus«), als das »Leben aller Geister« (»anima omnium spirituum«). Er erkennt, in sich alle Dinge, indem er seine Vollkommenheiten (Ideen) schaut, welche die Urbilder der Dinge sind. Gott ist alles, weil er unendlich ist, alles umfaßt. Die Seelen schaut Gott unmittelbar, die Körper aber vermittelst ihrer Ideen in ihm (»per imagines seu ideas in ipso Deo«), als Modifikationen des Unendlichen. Unser Erkennen ist ein Teilhaben am göttlichen Schauen (»participatio substantiae divinae«), wir erkennen die Dinge in Gott, in dem deren Ideen enthalten sind, die wir als allgemeine Bestimmtheiten a priori, vor der Erfahrung erfassen: »Spiritus creati, quaecunque vident et cognoscunt, in Deo cognoscunt, in quo continentur...: unde etiam liquet, quomodo possideamus quandam notitiam generalem (anticipatam) de omnibus entibus, antequam adhuc eorundem experientiam fecerimus.« Unsere Seele selbst erkennen wir, wenn auch nicht adäquat, unmittelbar durch die innere Wahrnehmung ihrer Tätigkeiten; fremde Seelen per analogiam. Notwendige Wahrheiten sind die durch ihre Natur unveränderlichen und die durch den göttlichen Willen gesetzten Wahrheiten, alle anderen sind »kontingent«. Notwendig sind die mathematischen, logisch-metaphysischen, moralischen Wahrheiten.

Wie unser Erkennen ist auch unser Wille auf Gott gerichtet und wir wollen einen Teil dessen, was Gott will. Aller Wille ist auf das höchste Gut gerichtet, auch noch der verirrte Wille. In der bewußten und ständigen Liebe zu Gott und dessen Weltordnung, in der richtigen Schätzung der Dinge besteht die Tugend (»virtus consistit in amore habituali et praedominante ordinis immutabilis ex cognitione Dei intellectuali procedente«; vgl. Spinoza). Das Höchste ist die Vereinigung mit Gott; durch Überwindung der Sinnlichkeit und der Fesseln des Leibes nähert man sich ihr, aber erst der Tod kann sie ganz bringen.

Anhänger M.s sind B. Lamy, F. Lamy, Thomassin, de Mairan, de Lanion, Lefort de Morinière, Fénelon u. a. Ähnlich lehrt Giovenale. Von M. beeinflußt ist Collier, teilweise auch Berkeley.

SCHRIFTEN: De la recherche de la vérité 1675, 1712, 1880; lateinisch 1685; deutsch 1776-80 (Hauptwerk). – Conversations métaphysiques et chrétiennes, 1677. Traité da la nature et de la grace, 1680. – Traité de la morale, 1684; deutsch 1831. – Méditations métaphysiques et chrétiennes, 1684. – Entretiens sur la métaphysique et sur la religion, 1688. – Traité de l'amour de Dieu, 1697. – Oeuvres, 1712, 1842, 1853 f., 1859-1871. – Vgl. OLLÉ-LAPRUNE, La philosophie de M., 1870-72. – A. KELLER, Das Kausalitätsproblem bei M. und Hume, 1899. – NOVARO, D. Philos. des M., 1893.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 447-448.
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