III

[92] In dieser Situation trieb die Wochenblattspartei, wie sie auch genannt wurde, ein merkwürdiges Doppelspiel. Ich erinnere mich der umfangreichen Denkschriften, welche die Herren unter sich austauschten und durch deren Mittheilung sie mitunter auch mich für ihre Sache zu gewinnen suchten. Darin war als ein Ziel aufgestellt, nach dem Preußen als Vorkämpfer Europas zu streben hätte, die Zerstücklung Rußlands, der Verlust der Ostseeprovinzen mit Einschluß von Petersburg an Preußen und Schweden, des Gesammtgebiets der Republik Polen in ihrer größten Ausdehnung und die Zersetzung des Ueberrestes durch Theilung zwischen Groß- und Klein-Russen, abgesehen davon, daß fast die Mehrheit der Klein-Russen schon dem Maximalgebiet der Republik Polen gehört hatte. Zur Rechtfertigung dieses Programmes wurde mit Vorliebe die Theorie des Freiherrn von Haxthausen-Abbenburg (Studien über die inneren Zustände Rußlands) benutzt, daß die drei Zonen mit ihren einander ergänzenden Producten den hundert Millionen Russen, wenn sie vereinigt blieben, das Uebergewicht über Europa sichern müßten.

Aus dieser Theorie wurde die Nothwendigkeit der Pflege des natürlichen Bündnisses mit England entwickelt, mit dunklen Andeutungen, daß England, wenn Preußen ihm mit seiner Armee gegen Rußland diene, seinerseits die preußische Politik in dem Sinne, den man damals den »Gothaer« nannte, fördern würde. Von der angeblichen öffentlichen Meinung des englischen Volkes im Bunde bald mit dem Prinzen Albert, welcher dem Könige und dem Prinzen von Preußen unerbetene Lectionen ertheilte, bald mit Lord Palmerston, der im November 1851 gegen eine Deputation radicaler Vorstädter England als den einsichtigen Secundanten (judicious bottleholder) jedes für seine Freiheit kämpfenden Volkes bezeichnete und später in Flugschriften den Prinzen Albert als den gefährlichsten Gegner seiner befreienden Anstrengungen denunciren ließ, von diesen Hülfen wurde die Gestaltung der deutschen Zustände mit Sicherheit vorhergesagt, welche später von der Armee des Königs Wilhelm auf den Schlachtfeldern erkämpft worden ist. Die Frage, ob Palmerston oder ein andrer englischer Minister[92] geneigt sein würde, Arm in Arm mit dem gothaisirenden Liberalismus und mit der Fronde am preußischen Hofe Europa zu einem ungleichen Kampfe herauszufordern und englische Interessen auf dem Altar der deutschen Einheitsbestrebungen zu opfern, – die weitere Frage, ob England dazu ohne andern continentalen Beistand als den einer in coburgische Wege geleiteten preußischen Politik im Stande sein würde – diese Fragen bis an's Ende durchzudenken, fühlte Niemand den Beruf, am allerwenigsten die Fürsprecher derartiger Experimente. Die Phrase und die Bereitwilligkeit, im Partei-Interesse jede Dummheit hinzunehmen, deckte alle Lücken in dem windigen Bau der damaligen westmächtlichen Hofnebenpolitik. Mit diesen kindischen Utopien spielten sich die zweifellos klugen Köpfe der Bethmann-Hollweg'schen Partei als Staatsmänner aus, hielten es für möglich, den Körper von sechzig Millionen Groß-Russen in der europäischen Zukunft als ein caput mortuum zu behandeln, welches man nach Belieben mißhandeln könne, ohne daraus einen sichern Bundesgenossen jedes zukünftigen Feindes von Preußen zu machen und ohne Preußen in jedem französischen Kriege zur Rückendeckung gegen Polen zu nöthigen, da eine Polen befriedigende Auseinandersetzung in den Provinzen Preußen und Posen und selbst noch in Schlesien unmöglich ist, ohne den Bestand Preußens aufzulösen. Diese Politiker hielten sich damals nicht nur für weise, sondern wurden in der liberalen Presse als solche verehrt.

Von den Leistungen des preußischen Wochenblatts ist mir unter andern eine in der Erinnerung geblieben, ein Memoir, das angeblich unter dem Kaiser Nicolaus in dem Auswärtigen Amte in Petersburg behufs Unterweisung des Thronfolgers ausgearbeitet war und die in dem apokryphen, ungefähr um das Jahr 1810 in Paris entstandenen Testamente Peters des Großen niedergelegten Grundzüge der russischen Politik auf die Gegenwart anwendet und Rußland mit einer gegen alle Staaten gerichteten Minirarbeit zum Zwecke der Weltherrschaft beschäftigt erscheinen läßt. Es ist mir später mitgetheilt worden, daß dieses in die ausländische, namentlich die englische Presse übergegangene Elaborat von Constantin Frantz geliefert war.

Während Goltz und seine Berliner Genossen ihre Sache mit einem gewissen Geschick betrieben, von welchem der erwähnte Artikel eine Probe ist, war Bunsen, Gesandter in London, so unvorsichtig, im April 1854 dem Minister Manteuffel eine lange Denkschrift einzusenden, welche die Herstellung Polens, die Ausdehnung[93] Oesterreichs bis in die Krim, die Versetzung der Ernestinischen Linie auf den sächsischen Königsthron und dergleichen mehr forderte und die Mitwirkung Preußens für dieses Programm empfahl. Gleichzeitig hatte er nach Berlin gemeldet, die englische Regierung würde mit der Erwerbung der Elbherzogthümer durch Preußen einverstanden sein, wenn letzteres sich den Westmächten anschließen wolle, und in London hatte er zu verstehn gegeben, daß die preußische Regierung dazu unter der bezeichneten Gegenleistung bereit sei. Zu beiden Erklärungen war er nicht ermächtigt. Das war denn doch dem Könige, als er dahinter kam, zu viel, so sehr er Bunsen liebte. Er ließ ihn durch Manteuffel anweisen, einen langen Urlaub zu nehmen, der dann in den Ruhestand überging. In der von der Familie herausgegebenen Biographie Bunsen's ist jene Denkschrift, mit Weglassung der ärgsten Stellen, aber ohne Andeutung von Lücken, abgedruckt und die amtliche Correspondenz, welche mit der Beurlaubung endigte, in einseitiger Färbung wiedergegeben. Ein im Jahre 1882 in die Presse gelangter Brief des Prinzen Albert an den Freiherrn von Stockmar, in welchem »der Sturz Bunsens« aus einer russischen Intrige erklärt und das Verhalten des Königs sehr abfällig beurtheilt wird, gab Veranlassung, den vollständigen Text der Denkschrift und, immer noch mit Schonung, den wahren Hergang der Sache nach den Akten zu veröffentlichen (»Deutsche Revue« 1882, S. 152 ff.).

In die Pläne der Ausschlachtung Rußlands hatte man den Prinzen von Preußen nicht eingeweiht. Wie es gelungen, ihn für eine Wendung gegen Rußland zu gewinnen, ihn, der vor 1848 seine Bedenken gegen die liberale und nationale Politik des Königs nur in den Schranken brüderlicher Rücksicht und Unterordnung geltend gemacht hatte, zu einer ziemlich activen Opposition gegen die Regierungspolitik zu bewegen, trat in einer Unterredung hervor, welche ich mit ihm in einer der Krisen hatte, in welchen mich der König zum Beistande gegen Manteuffel nach Berlin berufen hatte. Ich wurde gleich nach meiner Ankunft zu dem Prinzen befohlen, der mir in einer durch seine Umgebung erzeugten Gemüthserregung den Wunsch aussprach, ich solle dem Könige im westmächtlichen und antirussischen Sinne zureden. Er sagte: »Sie sehen sich hier zwei streitenden Systemen gegenüber, von denen das eine durch Manteuffel, das andre, russenfreundliche, durch Gerlach und den Grafen Münster in Petersburg vertreten ist. Sie kommen frisch hierher, sind vom Könige gewissermaßen als Schiedsmann berufen. Ihre Meinung wird daher den Ausschlag geben, und ich beschwöre[94] Sie, sprechen Sie sich so aus, wie es nicht nur die europäische Situation, sondern auch ein richtiges Freundesinteresse für Rußland erfordert. Rußland ruft ganz Europa gegen sich auf und wird schließlich unterliegen.« – »Alle diese prächtigen Truppen,« – es war dies nach den für die Russen nachtheiligen Schlachten vor Sebastopol – »alle unsre Freunde, die dort geblieben sind,« – er nannte mehrere – würden noch leben, wenn wir richtig eingegriffen und Rußland zum Frieden gezwungen hätten. Es würde damit enden, daß Rußland, unser alter Freund und Bundesgenosse, vernichtet oder in gefährlicher Weise geschädigt würde. Unsre, von der Vorsehung gegebene Aufgabe sei es, den Frieden diktatorisch herbeizuführen und unsern Freund auch gegen seinen Willen zu retten.

In dieser Form etwa hatten Goltz, Albert Pourtales und Usedom in ihrer auf den Sturz Manteuffel's berechneten Politik die Preußen gegen Rußland zugedachte Rolle dem Prinzen annehmbar gemacht, wobei die Abneigung der Prinzeß, seiner Gemahlin, gegen Rußland ihnen behülflich gewesen sein wird.

Um ihn aus diesem Gedankenkreise loszumachen, stellte ich ihm vor, daß wir absolut keinen eignen Kriegsgrund gegen Rußland hätten und kein Interesse an der orientalischen Frage, das einen Krieg mit Rußland oder auch nur das Opfer unsrer langjährigen guten Beziehungen zu Rußland rechtfertigen könnte; im Gegentheil, jeder siegreiche Krieg gegen Rußland unter unsrer nachbarlichen Betheiligung belade uns nicht nur mit dem dauernden Revanchegefühl Rußlands, das wir ohne eignen Kriegsgrund angefallen, sondern zugleich mit einer sehr bedenklichen Aufgabe, nämlich die polnische Frage in einer für Preußen erträglichen Form zu lösen. Wenn eigne Interessen keinesfalls für, eher gegen einen Bruch mit Rußland sprächen, so würden wir den bisherigen Freund und immerwährenden Nachbarn, ohne daß wir provocirt wären, entweder aus Furcht vor Frankreich oder im Liebesdienste Englands und Oesterreichs angreifen. Wir würden die Rolle eines indischen Vasallenfürsten übernehmen, der im englischen Patronat englische Kriege zu führen hat, oder die des York'schen Corps beim Ausmarsch zum Kriege 1812, wo die damals berechtigte Furcht vor Frankreich uns zu dessen gehorsamem Bundesgenossen zwangsweis gemacht hatte.

Den Prinzen verletzte mein Ausdruck, mit zorniger Röthe unterbrach er mich mit den Worten: »Von Vasallen und Furcht ist hier gar keine Rede.« Er brach aber die Unterredung nicht ab. Wer einmal sein Vertrauen hatte und in seiner Gnade stand, konnte ihm[95] gegenüber sehr frei von der Leber sprechen, sogar heftig werden. Ich nahm an, daß es mir nicht gelungen sei, die Auffassung, der sich der Prinz unter häuslichem, englischem und Bethmann-Hollweg'schem Einfluß ehrlich überlassen hatte, zu erschüttern. Gegen den Einfluß der letzteren Partei wäre ich auch bei ihm wohl durchdrungen, aber gegen den der Frau Prinzessin konnte ich nicht aufkommen.

Während des Krimkriegs und, wenn ich mich recht erinnere, aus Anlaß desselben wurde ein lange betriebener Depeschendiebstahl ruchbar. Ein verarmter Polizeiagent, der vor Jahren seine Geschicklichkeit dadurch bewiesen hatte, daß er, während der Graf Bresson französischer Gesandter in Berlin war, Nachts durch die Spree geschwommen, in die Villa des Grafen in Moabit eingebrochen war und seine Papiere abgeschrieben hatte, wurde von dem Minister Manteuffel dazu angestellt, sich durch bestochene Diener Zugang zu den Mappen zu verschaffen, in welchen die eingegangenen Depeschen und die durch deren Lesung veranlaßte Correspondenz zwischen dem Könige, Gerlach und Niebuhr hin und her ging, und von dem Inhalte derselben Abschrift zu nehmen. Von Manteuffel mit preußischer Sparsamkeit bezahlt, suchte er nach weiterer Verwerthung seiner Bemühungen und fand eine solche zunächst bei der französischen Gesandtschaft, dann auch bei andern Leuten.

Zu den Kunden des Agenten gehörte auch der Polizeipräsident von Hinkeldey. Derselbe kam eines Tages zu dem General von Gerlach mit der Abschrift eines Briefes, in welchem dieser an Jemanden, wahrscheinlich an Niebuhr, geschrieben hatte: »Nun der König mit hohem Besuch in Coblenz sei, hätten sich die und die, darunter Hinkeldey, dorthin begeben: die Bibel sage, wo das Aas ist, da sammeln sich die Adler; jetzt könne man sagen, wo der Adler ist, da sammelt sich das Aas.« Hinkeldey stellte den General zur Rede und antwortete auf des Generals Frage, wie er zu diesem Briefe komme: »Der Brief kostet mich 30 Thaler.« – »Wie verschwenderisch!« erwiderte Gerlach, »für 30 Thaler hätte ich Ihnen zehn solche Briefe geschrieben!«

Quelle:
Bismarck, Otto Eduard Leopold: Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart 1959, S. 92-96.
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