[101] Der Frühjahrsfeldzug hatte nicht nur die germanischen Stämme zwischen Lippe und Main schwer getroffen, sondern auch zugleich dazu gedient, einen zweiten, größeren vorzubereiten, indem Aliso wieder hergestellt wurde. Während auf jenem Feldzug die beiden Hälften des römischen Heeres nur mittelbar zusammengewirkt hatten, sollte jetzt die ganze vereinigte römische Macht zermalmend erst auf einen der germanischen Stämme, die Bructerer, nördlich der Lippe, fallen, um sich dann gegen die Cherusker selbst zu wenden.
Germanicus setzte die kleinere Hälfte seines Heeres, vier Legionen, zu Schiffe und fuhr mit ihnen durch den Drusus-Kanal in die Nordsee und dann die Ems hinauf, um die Bructerer, wohnend auf beiden Seiten der oberen Ems, von Norden anzugreifen, während Caecina mit der anderen Hälfte der Legionen von Süden, von Vetera, von der Lippestraße aus vorging. Die Reiterei marschierte auf einer besonderen Straße durch das Gebiet der Friesen. Ein Grund, weshalb sie nicht mit den Legionen des Caecina vorging, ist nicht überliefert. Jedenfalls ergibt sich aus der Trennung, daß die Römer westlich der Ems einen Angriff noch nicht erwarteten.
Nach Raum und Zeit wäre es ja viel vorteilhafter gewesen, das ganze Heer in einigen parallelen Kolonnen von Vetera aus vorgehen zu lassen; denn da die Germanen die Schlacht im freien Felde nicht annahmen und sich auch nicht einklammer ließen, so hatte es keine wesentliche Wirkung, ob die Römer alle von einer oder von verschiedenen Seiten kamen. Der große Gewinn der geteilten Expedition aber war, daß Germanicus seinen Proviant zu Schiff mitbringen konnte. Wir werden annehmen dürfen, daß er, noch etwas von den Bructerern entfernt, etwa bei Meppen, am[101] Einfluß der Hase in die Ems, das Gros seiner Flotte mit den für den Rückweg nötigen Lebensmitteln, in einem befestigten Lager zurückließ und für den Vormarsch die Ems aufwärts nur eine Anzahl besonders flach gebauter Kähne mitnahm, die ihm den Proviant nachführten.
Nach Tacitus vereinigten sich nun die römischen Heere an der Ems; aber wir werden diese Vereinigung nur als ein Fühlungnehmen, nicht als ein wirkliches Zusammenschließen aufzufassen haben. Die wirkliche Vereinigung hätte dem Zweck des Krieges widersprochen. So lange man nicht Aussicht hatte, die Germanen zu einer Schlacht zu stellen, kam es nicht sowohl darauf an, die Truppen zusammenzuhalten, als im Gegenteil, sie auszubreiten, um einen möglichst breiten Landstrich absuchen, verwüsten und ausrauben zu können. Je größer der Landstrich, den man abkämmte, war, desto größer die Wahrscheinlichkeit, auch den geflüchteten Besitz des Feindes zu erbeuten; die Ausbreitung erweiterte nicht bloß, sondern potenzierte auch die Wirkung. Man mußte nur darauf achten, daß jede Kolonne stark genug blieb, selbständig einem Anfall der Germanen widerstehen zu können. Tacitus berichtet weiter, daß alles Land zwischen Lippe und Ems verwüstet wurde. Auch das haben wir wieder nicht so aufzufassen, als ob die Römer sich streng auf das Gebiet zwischen diesen beiden Flüssen beschränkt hätten, denn zuletzt an den Quellen ist der Landstrich kaum noch zwei Meilen breit. Tacitus' Quelle wird den Landstrich zwischen Lippe und Ems besonders genannt haben, da hier hauptsächlich die Wohnstätten der Bructerer lagen; zu ihrem Gebiet gehörten aber auch noch die nördlich daranstoßenden Waldgebiete und das Tal zwischen ihnen, in dem Osnabrück liegt. Auch diese Gegenden werden die Römer nach Möglichkeit abgesucht haben.
Indem die römischen Heere so das Land am Osning entlang durchzogen und bis an die Quellen der Ems und die Grenze der Bructerer kamen, gelangten sie in die Nähe des Varianischen Schlachtfeldes. Auch als Germanicus einige Monate vorher den Segest befreit hatte, war er diesem Platz schon sehr nahe gewesen, war aber doch nicht dahin gegangen, und man hat sich gewundert, daß er den Akt der Pietät nicht damals sofort vollzogen habe. Aber die Erklärung liegt nahe genug. Von Aliso bis an die Dörenschlucht[102] sind allerdings nur drei Meilen, und von der Teutoburg, der die Römer doch wahrscheinlich sehr nahe gewesen sind, als sie den Segest entsetzten, ist es nur eine Meile; aber um die Bestattung vollständig durchzuführen, mußte Germanicus bis an das Varianische Sommerlager an der Porta kommen. Das waren von Aliso, da man sich doch mit großer Vorsicht bewegen mußte, immerhin drei bis vier Märsche. Das Einsammeln der Gebeine und die feierliche Bestattung nahm mehrere Tage in Anspruch. Die ganze Expedition also war unter 10-12 Tagen nicht zu machen; das verlangte für ein großes Heer schon recht große Vorbereitungen. Vor allem aber wollte Germanicus nicht bloß im Fluge den Platz des Unheils besuchen, die Toten bestatten und umkehren, sondern die Handlung der Pietät in einen Feldzug einflechten, der auch als solcher durch seinen positiven Erfolg das Ansehen der Römer wieder herstellte und die Schande der Varianischen Niederlage auslöschte. Jetzt, nachdem er wieder an einem der beteiligten Völker ein großes Strafgericht vollzogen, sie wohl fast ganz aus ihrem Lande verjagt hatte, erschien er als der Sieger, gegen den die Germanen ihren heimischen Boden gar nicht mehr zu verteidigen wagten, auf der Stätte des Todes, bestattete die Reste der Gefallenen und errichtete ihnen einen Grabhügel.
Tacitus berichtet, daß, als man an der Grenze des Bructerer-Landes angekommen, Caecina vorangeschickt worden sei, um das Waldgebirge zu rekognoszieren und durch die Sümpfe und Moore Dämme und Brücken anzulegen. Diese Schilderung schließt keineswegs aus, daß ein Teil des römischen Heeres einfach auf der alten Straße von Aliso durch die Dörenschlucht gezogen ist, da die Senne, der Landstrich unmittelbar unter dem Teutoburger Walde, Heide und Moor, damals wahrscheinlich noch mooriger gewesen ist als heute und die Germanen die alten römischen Wegeanlagen zerstört haben werden. Nur ein Teil der Römer aber hat jedenfalls diesen Weg genommen; die nördliche Kolonne wird durch den Bielefelder Paß vorgegangen sein, wo mangels früherer Anlagen erst recht neue Arbeiten nötig waren. Man hat sogar in neuerer Zeit noch Spuren dieser Wegebauten des Caecina entdecken wollen.
Bis hierher hören wir nichts von der Tätigkeit Armins, und wenn Tacitus fortfährt, Germanicus sei nunmehr dem Arminius[103] uns Unwegsame gefolgt und habe ihm ein unentschiedenes Gefecht geliefert, so sagt uns auch das nicht viel, da er mit nichts die Richtung deutet, in der Armin gewichen und die Römer ihm gefolgt sind. Der einzige Anhalt, den wir haben, ist, daß Germanicus endlich sein Heer an die Ems zurückführt. Wären die Römer den Cheruskern über die Weser gefolgt, so hätte Germanicus gewiß nicht den Rückweg an die Ems genommen, sondern den viel
näheren Weg nach Aliso eingeschlagen, wo er sein Magazin hatte und die Truppen bequem auf der Lippestraße an den Rhein zurückführen konnte. Wir müssen deshalb annehmen, was bei den Germanen von vornherein das Wahrscheinlichere ist, daß sie sich nicht vor, sondern hinter den Römern gesammelt haben, als diese durch den Teutoburger Wald nach der Porta Westphalica zogen. Germanicus hat also, von der Porta aus sich wieder nach Westen[104] wendend, den Arminius im Wiehengebirge und Osning zu fassen gesucht; vermutlich rückte ein Teil der Römer zwischen den Gebirgszügen in der Richtung von Rehme auf Osnabrück, ein anderer nördlich vom Gebirge in der Richtung von Minden nach Bramsche vor. Von Aliso aus, als man sich diesem Platz auf dem Hermarsch genähert hatte, werden die Proviant-Kolonnen neu gefüllt und ergänzt worden sein, so daß man ein gut Stück ins Land hinein marschieren konnte. Arminius wußte sich jedoch den Römern zu entziehen, und so blieb Germanicus endlich, als die Proviant-Kolonnen leer wurden, nichts übrig, als den Rückmarsch anzutreten. Mit der einen Hälfte des Heeres zog er an die Ems und fuhr zu Schiff nach Hause; vermutlich war schon von dem Lager bei Meppen, sei es auf der Ems, sei es auf der Hase, dem Heere Verpflegung entgegengeschickt worden. Die Reiterei, die auf dem Hinmarsch durch das Land der Frisionen gekommen war – etwa auf dem Wege Emmerich-Rheine oder Arnheim-Lingen –, mußte jetzt wegen der Nähe der germanischen Hauptmacht den Zug des Germanicus bis zu dem Schiffslager begleiten und kehrte dann, da die Schiffe die Reiter nicht aufnehmen konnten und das Bourtanger Moor den direkten Weg nach Hause versperrte, dieses Hindernis nördlich umgehend, an der Meeresküste entlang an den Rhein zurück.43
Die andere Hälfte des römischen Heeres unter Taecina nahm, nachdem man sich getrennt hatte, den direkten Landweg nach Vetera. Jetzt war der Augen blick des Handelns für Arminius gekommen. Das Korps des Taecina mußte durch einen sehr gefährlichen Paß, einen Moordamm oder Bohlweg, der durch bewaldete Hügel hindurchführte und den vor einigen Jahren der römische Feldherr L. Domitius Ahenobarbus angelegt hatte. Man hat sich alle Mühe gegeben, diese langen Brücken, wie die Römer den Weg nannten, wieder aufzufinden, aber bisher ohne sicheren Erfolg. Es gibt der alten Bohlwege gar zu viele, und selbst in Westpreußen, wo die Römer nie hingekommen sind, hat man neuerdings solche Anlagen aufgedeckt. Nach dem strikten Wortlaut des Tacitus müßte man annehmen, daß das römische Heer bis an die Ems vereinigt marschiert ist und sich erst hier getrennt hat. Danach müßten die[105] langen Brücken also links der Ems, etwa bei Coesfeld, liegen. Aber Tacitus bietet, wie wir gesehen haben, für derartige strikte Interpretationen nicht die genügend feste Grundlage. Es scheint keineswegs ausgeschlossen, daß Caecina sich bereits viel früher von Germanicus getrennt und daß die langen Brücken bei Iburg44 südlich von Osnabrück liegen.
Sehr wesentlich für das kriegsgeschichtliche Verständnis ist diese topographische Frage nicht; wesentlich ist allein, das es Germanicus mit seinem ungeheuren Heer, 8 Legionen und Hilfstruppen, im ganzen wohl 50000 Mann, nicht gelungen war, die Germanen zu einer großen taktischen Entscheidung zu zwingen oder sie einzuschließen; daß aber nunmehr umgekehrt, als die Römer, durch die Verpflegungs-Rücksicht gezwungen, sich trennten und den Rückmarsch antraten, Arminius die richtige Stelle und den richtigen Moment fand, das eine der Teilkorps, den Caecina, anzugreifen. Nach dem Berichte der Römer selber brachte er ihn in die größte Bedrängnis und hätte ihm das Schicksal des Varus bereitet, wenn nicht die Disziplinlosigkeit und Beutegier der Germanen seinen Plan durchkreuzt hätten. Sie ließen sich durch einen anderen Cheruskerfürsten, Inguiomerus, einen Oheim Armins, bestimmen, das römische Lager zu stürmen, wurden dabei von Caecina, der als alter Kriegsmann wußte, was er zu tun hatte, und in dem richtigen Augenblick, wie Caesar bei Alesia, einen Ausfall machte, geschlagen und erlitten eine empfindliche Niederlage. Auch das römische Teilheer unter Germanicus auf der Flotte erlitt durch Sturm und Unwetter erhebliche Verluste, kam aber in der Hauptsache endlich doch, ebenso sie Caecina, glücklich nach Hause.
1. Das Kastell in monte Tauno, das Germanicus, nach Tacitus, Ann. I, 56, erbaute, ehe er gegen die Chatten auszog, war die Erneuerung einer alten Anlage des Drusus. Nun berichtet Dio 54, 33, in demselben Satz, in dem er den Bau von Aliso erzählt, Drusus habe ein anderes Kastell bei den Chatten am Rhein erbaut (ἐν Χάττοις πάρ᾽ αὐτῳ τᾳ Ρήνῳ). Die Vermutung liegt nahe, daß dies eben das Kastell ist, das Germanicus wiederherstellte, aber dann müßte es, falls Dio nicht irrt, am Rhein liegen. Man hat deshalb neuerdings auf Hofheim, zwei Meilen[106] von Mainz, in der Richtung auf Höchst, etwas nördlich des Main, geraten, wo Spuren einer sehr alten römischen Anlage aufgedeckt sind. Ist das richtig, so hätte die Anlage, so nahe der Hauptfestung, keine besondere Bedeutung gehabt, aber eben deshalb wäre sie auch wohl nicht in den Quellen erwähnt worden. Man kann auch nicht einmal sagen, daß Hofheim am Rhein liege. Dem Wortlaut nach müßten wir Dios Notiz auf einen Brückenkopf, wie etwa Kastell, beziehen.
Ich möchte jedoch eine andere Auslegung vorziehen. Vergessen wir doch nicht, daß Dio eine mehrfach abgeleitete Quelle ist. Es ist durchaus möglich, daß er in seiner Vorlage gefunden hat, Drusus habe, nachdem er von dem Lippe-Feldzug, wo er Aliso baute, an den Rhein zurückgekehrt war, auch bei den Chatten ein Kastell gebaut. Daraus mag Dio dann kurzweg gemacht haben, er habe am Rhein ein Kastell gebaut. Schließlich ist ja auch die Identität dieses Kastells mit dem von Germanicus hergestellten nur eine Vermutung.
Daß tatsächlich Friedberg die fragliche Anlage ist, findet durch die Ausgrabungen insofern eine gewisse Bestätigung, als gerade hier besonders alte, auf die Augusteische Zeit weisende Reliquien gefunden worden sind, Münzen aus der Zeit des Augustus, Scherben mit dem Stempel des Töpfers Atejus, der in jener Zeit arbeitete, ein Schwertscheidenbeschlag aus einer Fabrik in Baden in der Schweiz, die ebenfalls in der ersten Hälfte des Jahrhunderts blühte. Vgl. den Vortrag von ED. ANTHES in den Protokollen d. Gen.-Versamml. d. Gesamt-Verb. d. deutsch. Gesch.-Vereine. 1900. S. 65 ff.
Ist Friedberg der gesuchte Platz gewesen, so erhebt sich die Frage, weshalb die Römer nicht wie an der Lippe noch weiter die Wetter hinauf soweit wie möglich ins Land vorgegangen sind. Verschiedene Gründe mögen zusammengewirkt haben, ganz besonders aber dürfte in Betracht kommen, daß auf dieser Straße doch immer nur Expeditionen gemacht wurden und gemacht werden sollten, während der Weg, auf dem man weiter, auf dem man den eigentlichen großen Krieg führen wollte, die Lippestraße war. Von hier kam man ins Wesergebiet, wo man zur Kooperation mit der Flotte gelangte und, gestützt auf diese, weiter an die Elbe. Hier also war man genötigt, so weit als es irgend möglich war, vorzugehen und die Schwierigkeit etwa erforderlicher Entsatzoperationen in Kauf zu nehmen. In der Wetterau erleichterte man die Aufgabe, indem man mit dem vorgeschobenen Posten der Basis näher blieb.
2. Auf dem Zuge gegen die Chatten i. J. 15 kam Germanicus, nach Tacitus ann. I, 56, an die Adrana (Eder), wo junge Mannschaft der Germanen, nachdem sie durch den Fluß geschwommen, vergeblich die Römer am Brückenschlagen zu verhindern suchte. Während man den Vorgang sonst in die Gegend von Fritzlar versetzte, hat Knoke45 ihn in die[107] Gegend von Kassel an die Fulda verlegt; die Eder habe für das Schwimmmanöver nicht genug Wasser, und die Römer hätten vielleicht die Eder als den Hauptfluß angesehen und auch die untere Fulda mit diesem Namen bezeichnet. Hiergegen läßt sich einwenden, daß die Eder ein Fluß ist, der sein Wasser schnell abführt, also zeitweilig sehr hohen Wasserstand hat. Das Frühjahr war, sie Tacitus hinzufügt, ungewöhnlich trocken, aber es ist nach seiner Erzählung denkbar, daß der Regen, den man erwartete, noch vor dem Gefecht an der Eder wirklich eingetreten war.
Schließlich aber liegt doch wohl einfach eine römische Übertreibung vor. Der Sinn ist, daß »quod imbecillum aetate ac sexu« in die Hand der Römer gefallen und nur die juventus sich durch Schwimmen gerettet habe. Wir dürfen ruhig annehmen, daß der Fluß nicht verhinderte, daß auch von dem imbecillum der Chatten viel entkam.
3. Die Entsetzung des Segest erzählt Tacitus (ann. I, 57) so, daß man auch meinen kann, sie sei auf dem Wege in der Richtung von Mainz zur Eder erfolgt. Nicht lange nach der Rückkehr der Römer an den Rhein, sagt er, seien die Boten des Segest gekommen, und dem Germanicus sei es der Mühe wert gewesen, umzukehren. »Germanicum pretium fuit, convertere agmen«. Nachdem wir es uns klar gemacht haben, was für ein Stück Arbeit es war, mit einem Heer von Mainz an die Eder zu marschieren, ist es nicht mehr nötig, zu beweisen, daß Germanicus diesen Weg nicht sofort noch einmal gemacht haben kann. Selbst wenn die Burg des Segestes an der Diemel gelegen haben sollte, konnten die Römer ihm nicht in einem improvisierten Feldzug von Mainz aus Ersatz bringen. Germanicus hat also nicht die bisher von ihm persönlich geführte Armeeabteilung, sondern die des Caecina, die ja an der Lippe entlang operiert hatte, noch einmal umkehren lassen. Die in dem wiederaufgebauten Aliso lagernden Vorräte ermöglichten es dem Feldherrn, eine solche Bewegung ohne weitere Umstände anzuordnen.
KOEPP, »Die Römer in Deutschland« (1905), S. 34, glaubt die Möglichkeit, daß Germanicus auf der Straße von Mainz aus den Entsatz des Segestes ausgeführt habe auf die Weise retten zu können, daß er annimmt, das römische Heer sei noch nicht bis an den Rhein zurückgekehrt gewesen, sondern habe, nur gerade umgekehrt sich noch etwa an der Eder befunden, während die Burg des Segestes an der Diemel lag. So sei also der Weg, der zur Entsetzung dieser Burg zu machen war, vielleicht nur halb so weit gewesen, als der Rückzug nach Mainz. Von einer Unmöglichkeit der Expedition könne man also nicht sprechen, und der Wortlaut der Erzählung des Tacitus zeige, daß das Heer des Germanicus und nicht des Caecina die Befreiung ausgeführt hätte. Das römische Heer mußte aber doch nicht bloß auf dem Hinmarsch, sondern auch auf dem Rückmarsch etwas zu essen haben, der Marsch an die Diemel hätte also 50% mehr Proviant erfordert, als für den ursprünglichen Feldzug berechnet war, ganz[108] abgesehen davon, daß es höchst unwahrscheinlich ist, daß das Gebiet der Cherusker sich bis an die Diemel erstreckte. Wer die Bedeutung des Moments der Verpflegung für die römischen Heere in den germanischen Feldzügen überhaupt anders einschätzt als ich, der mag auch an die Expedition des Germanicus zum Entsatz des Segest über die Eder glauben, wer aber, wie Koepp, prinzipiell die entscheidende Wichtigkeit des Verpflegungsmoments erkannt und anerkannt hat, der kann auch an dieser Stelle den Wortlaut der taciteischen Erzählung nicht festhalten.
In vortrefflicher Weise hat KESSLER, Die Tradition über Germanicus (vergl. Kap. 6, Excurs 5) durch Quellenanalyse die Erklärung dafür gegeben, wie die Unklarheit bei Tacitus entstanden ist.[109]
Buchempfehlung
Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.
106 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro