|
Am 16. Juli 1846 um die Mittagsstunde bin ich zu Langenhorn, einem Dorf an der Westküste des Herzogtums Schleswig, meinen Eltern als ihr erstes Kind geboren. Ich blieb das einzige, drei jüngere Brüder starben bei der Geburt aus Mangel an ärztlicher Hilfe. Meine Eltern waren Bauern; der Hof, auf dem ich geboren und aufgewachsen bin, war kurz vorher von meinem Vater gekauft worden, sie haben ihn bis in die Mitte der 80er Jahre bewohnt. Bis dahin bin ich jedes Jahr auf kürzere oder längere Zeit dahin zurückgekehrt; ich hatte das Gefühl, hier meine eigentliche Heimat zu haben.
Beide Eltern waren von Herkunft Nordfriesen, daher die friesische Sprache auch meine Muttersprache ist. Sie gehörten aber beide nicht durch ihre Geburt der Gemeinde Langenhorn an: der Vater stammte von der Hallig Oland, die Mutter aus der eine Stunde nördlich gelegenen Gemeinde Enge. Beide brachten ein sehr bestimmt ausgeprägtes Eigenleben in das von ihnen begründete Haus mit. Ich will aus ihrer Vergangenheit und der Vorgeschichte der Familie einiges mitteilen. Die Wurzeln meines eigenen Daseins sind in diesen Boden eingesenkt.
Der Vater stammte aus einer Schifferfamilie, die auf den »Halligen«, kleinen uneingedeichten Inseln des Wattenmeeres an der Westküste Schleswigs, einheimisch war; ich kann sie an der Hand alter Aufzeichnungen bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts zurückverfolgen. Der älteste Vorfahre, von dem ich den Namen, allerdings nichts als diesen, erreichen kann, hieß Thoms Jansen und wohnte auf Nordmarsch. Hier wenigstens wurde ihm im Jahre 1679 ein Sohn, Frerck Thomsen, geboren, dessen Sohn war Paul Frercksen, geboren auf Ludenswarf-Langeneß in Jahre 1725, der Großvater meines Vaters, mit dem die Familiengeschichte erst deutliche Gestalt gewinnt. Ich besitze von ihm ein Quartheft mit handschriftlichen Aufzeichnungen in halberloschener Schrift über sein Leben, besonders über seine Seefahrten, in den Jahren 1740–1771, die ich auch habe drucken lassen (in der Zeitschrift für Schleswig-Holsteinische Geschichte Bd. 35, 1905). Ich teile daraus einiges mit, weil es in das Leben und Empfinden der Halligbewohner jener Zeit einen unmittelbaren Einblick gewährt.
Frerck Thomsen, der Vater von Paul Frercksen, verlor im Jahre 1728[2] mit seinem ältesten Sohn Jan auf einer Fahrt nach Norwegen in einem Novembersturm an der Jütischen Küste Schiff und Leben; zu Sönderhoe auf der Insel Fanö ist er begraben. Er hinterließ seine Witwe, Frau Poppe, mit fünf Kindern, vier Töchtern und einem Sohn, dem damals dreijährigen Paul. Als der kleine Paul ins fünfzehnte Jahr getreten war, da ergriff ihn das Verlangen, zur See zu gehen, mit solcher Gewalt, daß die Mutter, die auch ihn auf dem Meere zu verlieren fürchtete, vergebens ihn zu halten suchte. Er ging im Frühjahr 1740 mit dem Schiffsvolk nach Amsterdam und nahm dort als Kajütsjunge die Heuer auf einem Walfischfahrer, der nach Grönland segelte. Als es nun, so erzählt er in jenen Aufzeichnungen, nach dem kalten Norden zu ging, Sturm und Seekrankheit sich einstellten, und unter all dem fremden Volk, dessen Sprache er meist nicht einmal verstand, keine Seele um ihn sich kümmerte, da sei das Heimweh mit Macht über ihn gekommen und er habe oft in seinem Herzen geseufzt: O wäre ich noch bei der Mutter geblieben. Indessen, das ging auch wieder vorüber; die Fahrt ging im übrigen gut; und auch der Fang war gut: es gab zwei große Walfische. Als sie im September in Amsterdam wieder ans Land kamen, waren 47 fl. holländisch verdient. Und nun ging's heimwärts nach der Hallig. Vor dem Einlaufen in das Wattenmeer hatten sie noch einen schweren Sturm zu bestehen, der die drei kleinen Schiffe mit der Mannschaft fast verschlungen hätte; doch kamen sie glücklich binnen. Als man in Wyck ans Land steigt, ist gerade Jahrmarkt; und hier trifft der Sohn unversehens die Mutter, die von der Nes herübergekommen war: »wie herzinniglich wir beide uns miteinander freuten,« schreibt er in schweigender Erinnerung, »das kann hier nicht beschrieben werden.« Das war die erste Grönlandfahrt; ihr folgten noch zwei weitere in den nächsten Jahren.
Ich verfolge nicht das Aufsteigen vom Jungen zum Matrosen, des Matrosen zum Steuermann; seit 1758 führte er selbständig als Kapitän ein Schiff, im Dienst Amsterdamer Reeder, meist seines dort etablierten Schwagers Nommen Pauls. Die Fahrten gingen gewöhnlich nach den norwegischen, finnischen, russischen und preußischen Häfen, hin meist mit Stückgütern, zurück mit Korn oder Holz. In der Regel wurden mehrere Fahrten im Jahr gemacht; die Schiffahrt beginnt Anfang April, meist schließt sie mit Oktober-November für das Jahr ab. Doch kamen auch Winterfahrten vor; auf einer solchen, die im Oktober 1760 von Amsterdam nach Petersburg angetreten wurde,[3] ging das Schiff, nachdem es schon mehrere schwere Stürme bestanden hatte, im Kattegatt verloren; es wurde in der Nacht vom 15. auf den 16. November am Vorgebirge Kullen auf den Grund getrieben, brach das Steuer und lief gleich voll Wasser. Mit Mühe rettete die Besatzung das Leben. Den ganzen Winter mußte der Kapitän bleiben, um von Schiff und Ladung zu retten, was zu retten war.
Nach mancher Fahrt und manchem ausgestandenen Ungemach, auch vielfältiger Krankheit, entschloß sich Paul Frercksen im Frühjahr 1772, zum erstenmal das Schiffsvolk ausfahren zu lassen, ohne selbst dabei zu sein. Er lebte seitdem auf der Hallig von dem kleinen Renteneinkommen, das ihm sein in 31 Jahren saurer Arbeit erworbenes Vermögen abwarf; es betrug, nach Ausweis des von ihm geführten Hausbuches, das ich noch besitze, im Jahre 1778 15603 Mark Kurant mit einem Zinsertrag von 653 Mark Lübsch (786 Reichsmark). Zu dem Einkommen, das der Matrose als Heuer, der Kapitän als Fracht usw. verdient hatte, war regelmäßig noch der Gewinn aus eigenem Handel gekommen, der öfters ziemlich bedeutend ausfiel; hieraus wird jenes Kapital hauptsächlich stammen, denn das Arbeitseinkommen, das für die 31 Jahre auf 5169 holländische Gulden berechnet wird, mußte natürlich zum großen Teil für den Unterhalt, namentlich während des Winters, verwendet werden.
Im Jahre 1757 hatte sich Paul Frercksen verheiratet, auch mit einer Poppe. Sie war im Jahre 1731 geboren als Tochter von Paul Ipsen (1685–1739), der selbst wieder ein Sohn des Schiffers Alte Ipke Paulsen war. Sie wohnte bei ihrer Mutter auf Oland. Weihnachten 1756 hatte er um sie angehalten: »Da mußte ich den ganzen Winter laufen, ehe ich den rechten Schluß erhielt, denn ihre beiden Brüder wohnten in Amsterdam und mußten auch ihre Meinung dazu schreiben.« Der Schluß fiel diesmal in der Tat recht aus, er hatte früher einmal von einer anderen »das Nein-Wort erhalten«. Im Oktober 1757 war Hochzeit, und er siedelte nun zu der Schwiegermutter nach Oland über. Im Frühjahr 1758 folgte die erste Trennung; sie sollte lange währen: das Schiff fror im Herbst bei Cronstadt ein und mußte den ganzen Winter im Eise liegen bleiben; erst im Juni 1759 kam er nach Amsterdam zurück: »ich fand allda mit großer Freude meine Frau (er hatte sie hinbestellt) bei Bruder Ipke Paulsen. Ich ließ mich ein neues Kleid machen, in Amsterdam zu tragen, und war recht in meinem guten Schicksal.« Aber das Glück ist von kurzer Dauer. Ende[4] Juli muß er wieder zu Schiff nach Petersburg: »wie ich nun wieder bei der Feuertonne kam, mußte meine Frau allda mit großer Betrübtheit am Lande sitzen. Da war mir grausamlich zumute.« Schifferleben! Im Jahre 1763 wurde ihm das dritte Kind geboren, es war das erste, das am Leben blieb: Frerck Paulsen, mein Großvater, dessen Namen ich trage.
Frerck Paulsen ist der erste in der Reihe, der nicht mehr zur See ging; er war schwach auf der Brust. Als junger Mann hatte er die Müllerei erlernt, hat sie aber in der Folge nicht getrieben, sondern als kleiner Landbesitzer und Rentner auf Oland gelebt. Das Vermögen der Familie erfuhr einen kleinen Zuwachs durch ein Erbteil, das ihr nach dem einen der beiden erwähnten Brüder der Mutter zufiel. Nommen und Ipke Paulsen hatten beide, nachdem sie erst zur See gefahren waren, in Amsterdam ihr Glück gemacht und sich dort verheiratet; Nommen war zu großem Reichtum an Schiffen und Landbesitz gekommen. Ipke starb kinderlos, und nach dem Tode seiner Witwe beerbten ihn die Geschwister. Ich erinnere mich noch, von meinem Vater gehört zu haben: sein Vater habe das Gut in Amsterdam abgeholt; er sei eben noch mit seinem Schiff binnen gekommen, gleich darauf sei der Krieg mit England ausgebrochen, und das Schiff wäre von Kapern weggenommen worden.
Frerck Paulsen verheiratete sich im Jahre 1799 mit Volig Christine, der ältesten Tochter des Schiffers und Küsters Ipke Petersen auf Oland (1747–1817) und seiner Frau Angens geb. Broders (1747–1829). Sie hatten noch drei Söhne, die alle zur See gingen und alle jung gestorben sind, zwei am gelben Fieber in Westindien. Von dem Briefwechsel der Eltern untereinander und mit den Kindern hat sich einiges erhalten; mehr aus den sonstigen Papieren des alten Küsters. Er muß ein sehr reges Innenleben geführt haben; das Religiöse bildet natürlich das durchschlagende Grundelement. Es haben sich eine Menge Aufzeichnungen tagebuchartigen Charakters erhalten, in denen er über seinen Seelenzustand reflektiert und Gott um Erleuchtung anruft. Mit dem Pastor von Oland hatten sich nämlich Differenzen mit Bezug auf Glauben und Lehre ergeben, die zu wiederholter Aussprache von seiner Seite führten, von denen wieder die Aufzeichnungen Kunde geben. Es kämpfte in ihm der angeborene Respekt vor dem geistlichen Amt mit der persönlichen Überzeugung, daß die Wege des Pastors vielfach Irrwege seien. Ein merkwürdiges Schriftstück ist bei den Papieren,[5] eine Eingabe an den König Christian VII., worin der Konflikt dargelegt und um Beilegung und Weisung gebeten wird. Ob sie jemals abgegangen ist, weiß ich nicht.
Von dieser Seite her stammt nun, soviel ich sehe, auch die entschiedene Richtung auf das religiöse Innenleben, das in dem Hause meines Großvaters herrschte und von da der Familie vererbt ist. Bei Paul Frercksen kommt das Religiöse nur in der Form des Allgemein-Kirchlichen, ohne individuellen Ton vor. Bei dem Sohn ist in einer Aufzeichnung schon aus jugendlichen Jahren zuerst von erlebter Erweckung und Bekehrung die Rede. Ob solche Erlebnisse mit dem Küster zusammenführten oder ob sie schon von ihm angeregt worden sind, ist nicht ersichtlich. Sie bezeichnen aber den Grundton, auf den das Leben der Familie von da ab gestimmt war: Enthaltung von der Welt und ihren Freuden, entschiedene Richtung auf das Jenseitige als das allein wahre Leben. Die Erinnerung an Ipke Petersen war bei den Schwestern meines Vaters noch überaus lebendig, ich habe von ihnen seinen Namen oft gehört. Die Großmutter Angens ist noch mit dem Schwiegersohn nach Langenhorn übergesiedelt und hat ihn um einige Jahre überlebt.
Aus der Ehe Frerck Paulsens mit Volig Christine sind 8 Kinder hervorgegangen, 6 Töchter und 2 Söhne. Der älteste der Söhne, mein Vater Paul (Frerck) Paulsen, ist am 5. Oktober 1805 geboren, Onkel Ipke, das jüngste der Kinder, 1820. Der Vater hätte, wie die beiden vor ihm geborenen Schwestern, eigentlich den Namen Paul Frercksen führen sollen, er ist auch sein Lebenlang so genannt worden; offiziell aber war sein Name Paulsen; durch königliche Verordnung war nämlich kurz zuvor die Bestimmung getroffen worden, daß der Zuname nicht mehr wie bisher wechseln, sondern als ständiger Familienname bleiben solle. Er hat dann selbst die Einschiebung Frerck in den Namen durchgeführt, um durch den auf dem Festlande nicht gebräuchlichen Namen Verwechslungen vorzubeugen.
Das Leben des Hauses, in dem der Vater mit seinen 7 Geschwistern aufwuchs, bewegte sich im engsten Kreis, äußerlich und innerlich. Sein äußerer Rahmen war die kleine Hallig Oland (Ul-laun, das alte Land), damals vielleicht noch doppelt so groß als gegenwärtig; der Umfang mochte, wenn man sie am Rande umschritt, etwa 11/2 Stunden betragen. Auf dem flachen grünen, nur von Flutrinnen durchschnittenen Plan, der sich über den grauen Schlickboden des Wattenmeeres etwa 1–11/2 Meter erhebt, befanden sich damals noch zwei Werften, die Kirchwerft[6] mit etwa zehn Häusern, während auf der andern (de Püpp) etwa fünfzehn waren. Werften sind künstliche Erdhügel, die sich etwa 6–8 Meter über den Halligboden erheben. Auf ihnen liegen dicht zusammengedrängt die kleinen niedrigen Häuser; vielfach sind zwei oder drei unter einem fortlaufenden Strohdach vereinigt; die mehreren Türen und Schornsteine zeigen an, daß mehrere Familien hier ihre Wohnung und ihren Herd haben. Inmitten der Häuser liegt der kleine Süßwasserteich (Fäding), der von den Traufen mit Regenwasser gefüllt wird. Die zweimal täglich wiederkehrende Flut steigt im Sommer nicht allzu häufig über das Ufer; nur bei Springflut, wenn diese mit starkem Westwind zusammentrifft, wird die ganze Hallig überschwemmt, und bei starkem Sturm erreicht das Wasser wohl auch die Höhe der Werft, so daß die Häuser wie Schiffe auf dem Meere zu schwimmen scheinen. Ein Unglück ist's wenn es den Fäding füllt, aus dem der Bedarf an Trinkwasser für Menschen und Tiere entnommen wird: dann muß Wasser vom Festland geholt werden.
Das Leben auf der Hallig ist damit gegeben. Ein Anbau des Bodens ist nicht möglich; wohl aber gewährt das kurze dichte, salzhaltige Gras des fruchtbaren Marschbodens Kühen und Schafen genügend Futter; die Fläche wird in jedem Jahr in zwei Hälften geteilt: Weide für den Sommer und Meedland, das für den Winter das nötige Heu liefert. Jedes Haus hat seinen bestimmten Anteil an der Gräsung und dem Meedland. Die Tiere bleiben im Sommer sich selbst überlassen, im Winter teilen sie mit den Menschen den engen Raum des Hauses, das in der Regel nur Vordiele, Wohnstube, Pesel, Küche und Stall enthält: für mehr ist weder Raum noch auch Bedarf; Heu und Feuerung werden auf dem Boden untergebracht. Die Feuerung besteht aus dem an der Sonne getrockneten und geformten Kuhmist. Pferde gibt es nicht; das Heu wird in großen Laken auf dem Kopf ins Haus getragen. Die Wirtschaft lag früher so gut wie ausschließlich in der Hand der Frauen: die Männer gingen vom 15. Jahr ab zur See; regelmäßig kam Ende März oder Anfang April ein Schiff oder auch mehrere nach Wyck und holte die ganze seetüchtige Mannschaft nach Amsterdam, die dann erst im Spätherbst oder Winter mit dem gewonnenen Verdienst nach Hause zurückkehrte. Korn oder Mehl und Kartoffeln mußten gekauft werden, ebenso der unentbehrliche Tee und Zucker. Wyck auf Föhr war der nächste, Husum der entferntere Markt, wo man seine Einkäufe machte. Im übrigen versorgte die Haushaltung sich selbst:[7] Milch, Butter, Käse, Fleisch, Wolle lieferte der Viehstand. Es wurde fleißig gebacken, außer den landesüblichen Schwarzbrot war stets auch allerlei Backwerk im Hause, das dem Besuch zur Tasse Tee vorgesetzt wurde. Tee war das jederzeit bereite Getränk, morgens und abends, vormittags und nachmittags; das Wasser ließ sich nur abgekocht genießen und andere Getränke gab es nicht, abgesehen von Spirituosen. Die Wolle wurde durch Hausarbeit, an der sich auch die Männer beteiligten, in Kleider und gestrickte Sachen verwandelt. So lebten die Halligbewohner einfach, aber nicht ärmlich, im ganzen auf gleichem Fuß. Der Einfachheit des äußeren Daseins entsprach die Gleichförmigkeit und Geschlossenheit des inneren Lebens. Der Kreis der Kinder, die in dem Hause des Großvaters aufwuchsen, war groß genug, um sich selber zu genügen; viel Umgang mit der Außenwelt gab es nicht, er wurde auch durch den herrschenden Geist des Hauses nicht begünstigt. Die Schule führte natürlich die Altersgenossen zusammen. Der Lehrer war ein alter ausgedienter Schiffer, der seine kleine Schar mit Strenge, ja mit Härte regierte: ich habe von den Tanten noch im späten Alter von seiner grimmigen Disziplin mit Bitterkeit reden hören. Übrigens wurde bei ihm etwas gelernt; an Schulbildung übertrafen die Halligbewohner überhaupt die Festlandbewohner. Auch innerhalb des Hauses war die Erziehung streng; wenn der Vater zu Hause war, mußte die Kindergesellschaft mäuschenstill über der Arbeit sitzen; freilich, wie wäre sonst in der engen Stube ein Auskommen gewesen? Ohne Zweifel hing die Neigung zu Einsamkeit und Schweigen, die meinem Vater mit seinen Geschwistern eigen war, auch mit dieser Jugendumgebung und Jugendgewöhnung zusammen.
Allerdings ist sie im Wesen der Friesen überhaupt angelegt. Im ganzen liebt er nicht viele Worte, wem die Zunge lose sitzt, der wird leicht für einen Spaßmacher angesehen und nicht ernst genommen. Scherz und Ausgelassenheit, sie kommen natürlich auch vor, aber wer etwas auf sich hält, nimmt sich in acht, sich darin gehen zu lassen. Gesang und Spiel fehlen vollständig; läßt sich irgendwo Gesang hören, so ist die Vermutung gerechtfertigt, daß man es mit Trunkenen zu tun hat. Der Genuß von Spirituosen bricht erst die Scheu nieder, sich in solcher Weise vor andern hören zu lassen. Den Inhalt des Lebens bilden die praktischen Dinge, die Angelegenheiten des Hauses und der Familie, des Berufs und Erwerbs. Das frohe Spiel ist dem Stammescharakter fremd. Dagegen ist Neigung zum Grübeln ihm nicht fremd;[8] sie wirft sich leicht auf religiöse Dinge und führt dann wohl zu tiefsinnig-melancholischem Wesen. Dem Hause des Großvaters ist, wie gesagt, hiervon wohl etwas durch den Schwiegervater Ipke Petersen zugeführt worden.
In diesen Verhältnissen lebte die Familie in tiefer Ruhe dahin, als ein schreckhaftes Naturereignis das Stilleben auf der Hallig unterbrach und zur Verpflanzung auf das Festland führte. Das war die verheerende Sturmflut, die im Winter 1825 über die Westküste dahinging. Sie bildete in der Erinnerung des Vaters und der Tanten das große Erlebnis, sie ist durch ihre Erzählungen auch mit meinen Kindheitserinnerungen eng verflochten. Es war im Februar, ein heftiger Südwest hatte die Springflut gegen die friesische Küste getrieben und den Wasserstand schon zu ungewöhnlicher Höhe gebracht. Nun sprang der Wind nach Nordwest um, und immer stärker zum Sturm anschwellend, staute er die Flut in der Nordseebucht auf; die Ebbezeit brachte kaum merkliches Fallen des Wassers. Da kam mit der Nacht die zweite Flut, das Wasser ergoß sich über die Werft und begann in die Häuser zu dringen. Man suchte sich durch Zustopfen aller Öffnungen zu wehren; vergebens, die Wellen schlugen bald Fenster und Türen ein, und man mußte sich auf den Hausboden flüchten. Es war eine lange furchtbare Nacht; in das Heulen des Sturmes und das Brausen des Meeres mischte sich das Jammern der Weiber, das Schreien der Kinder, das Brüllen der Kühe, die angebunden auf ihren Ställen standen. Bald schlugen die Wogen auch das Mauerwerk des Hauses ein, das Dach stand nur noch auf den in den Boden eingerammten Pfählen. Man mußte sich zu neuer Flucht entschließen: das Nachbarhaus, mit dem das eigene unter einem Dach vereinigt war, lag ein wenig höher und war dem Anprall des Meeres nicht so stark ausgesetzt: die Bretterwand, die die Hausböden trennte, wurde durchschlagen und Menschen und Habe hinübergerettet. Freilich, nur einiges eilig Aufgeraffte, wie es nächste Not erforderte oder die Unbesinnigkeit des Augenblicks in die Hand gegeben hatte, brachte man mit. Den Hausrat, die Kisten und Koffer mit lange gehüteten Schätzen mußte man auf den wilden Wassern umhertreiben sehen, bis sie zerschellten und ihren Inhalt verstreuten. Am jammervollsten war es, als die Kühe, endlich von ihrem Stand sich losreißend, eine nach der andern in die Wellen hinaustrieben und mit kläglichem Brüllen verschwanden: die Mutter habe diesen Eindruck gar nicht wieder verwinden können.[9]
Endlich ging auch diese Nacht zu Ende; die Männer, die an der Luke von Zeit zu Zeit den Stand des Wassers maßen, konnten erst das Aufhören des Steigens, dann ein langsames Sinken melden. Die Angst um das Leben ließ nach, noch ein paar Stunden, und man konnte den Zufluchtsort verlassen und heruntersteigen. Freilich, um nun erst den ganzen Jammer der Verwüstung im einzelnen zu sehen: das Haus zerstört, so daß es völlig neu hätte aufgebaut werden müssen, das Ingut überallhin zerstreut und vernichtet, Trümmer von Gerät, Kleider und Leinen aus zerbrochenen Kisten und Kasten da und dorthin getrieben, an Zäunen hangend, in den Fäding verschwemmt: tagelang habe mein Vater, so erzählten mir die Tanten, den von Seewasser gefüllten Teich ausgefischt und bald dies, bald das aus eigenem und fremdem Hausrat ans Licht gebracht. Die Spuren der Salzflut habe ich noch als Kind an vielen Sachen, namentlich an den Büchern, aber auch an Leinen und Holzwerk beobachtet.
Es galt nun einen Entschluß über die Zukunft fassen, er war bald entschieden: hier ist nicht mehr unseres Bleibens. Schon früher war die Frage der Übersiedelung auf das Festland erwogen worden, besonders seitdem der Großvater dort in Langenhorn halb wider Willen in den Besitz einer Landstelle gekommen war: er hatte Geld darauf stehen und mußte sie, sein Kapital zu retten, übernehmen. Mein Vater hatte sich schon mit dem Gedanken vertraut gemacht, Bauer zu werden. Er war den Sommer vorher ein halb Jahr in Marienkoog gewesen, um die Landwirtschaft zu lernen. Jetzt war der letzte Druck gegeben: die geretteten Sachen wurden in das große Boot gepackt, und die Familie verließ die alte Heimat der Vorfahren, dem »festen Wall« zusteuernd, wo sie den neuen Sitz schon bereit fand. Und so tiefes Grauen hatte in den Gemütern das letzte Erlebnis hinterlassen, daß keines der Geschwister jemals wieder den Fuß auf die Hallig gesetzt hat: nein, nein, hier ist es besser, sagten sie wohl, wenn ich als Junge einmal einen Besuch auf Oland, das vom Seedeich aus deutlich vor Augen lag, in Anregung brachte.
Frerck Paulsen hat die Flut und die Umpflanzung nur um ein Jahr überlebt; er starb 1826 im Alter von 63 Jahren und ist auf dem Langenhorner Kirchhof als der erste begraben worden. Da die Mutter Volig Christine überhaupt sich nicht durch Kraft und Umsicht auszeichnete und besonders in den neuen Verhältnissen völlig fremd war, so ergab es sich von selbst, daß mein Vater, obwohl erst 20jährig, das[10] eigentliche Familienhaupt wurde: er übernahm die Führung des Haushalts, die Verwaltung des Vermögens und auch die Erziehung und Leitung der jüngeren Geschwister. Seine Sorge und Tätigkeit ist ihm mit unbedingtem Vertrauen und grenzenloser Anhänglichkeit von ihnen gedankt worden: es gab für sie auf Erden keine höhere Autorität als Bruder Paul, was er sagte, das galt unbedingt. Meine Mutter pflegte wohl einmal halb im Scherz zu sagen: er sei von den Schwestern grenzenlos verwöhnt worden.
Zwanzig Jahre haben die Geschwister unter dem Schutz des Vaters zusammengelebt. Im Jahre 1845 verließ er das Haus, in dem sie heimisch geworden waren; der jüngere Bruder schien nun ihn dort ersetzen zu können. Er heiratete und gründete sein eigenes Haus.
Er war ein reifer, in jeder Hinsicht fertiger Mann, als er in die Ehe trat. Ich bin ihm in seinem vierzigsten Lebensjahr als sein erster Sohn geboren worden; als älterer, gesetzter Mann steht er vor mir in der Erinnerung; sein Haar hatte er früh verloren, daher er noch etwas älter aussah als er war. Dabei war er in vollkommener Kraft und Rüstigkeit, bis in sein spätestes Alter ist ihm körperliche Gesundheit und Kraft treu geblieben. Auch geistig war er ein Mann von ungewöhnlicher Rüstigkeit. Das nordfriesische Wesen war in ihm in typischer Erscheinung dargestellt. Bedächtigkeit und Umsicht machten den Grundcharakter aus; klare Besonnenheit in der Überlegung und feste Energie in der Durchführung des gefaßten Entschlusses gehörten zu seinem Wesen. Sein würdevolles Gesicht hatte den Ausdruck ruhigen Ernstes, die hellen blauen, aufleuchtenden Augen brachten einen Zug von freundlicher Milde hinein: ich sehe ihn noch, wie er mir so, wenn ich später heimkehrend das Elternhaus besuchte, mit ausgestreckter Rechten entgegenkam. In der Rede war er zurückhaltend. Auch wenn er nicht seinen Schweigetag hatte, und es waren ihrer nicht wenige im Jahr, machte er nicht viel Worte. Der Inhalt der Rede war eigentlich niemals die Offenbarung persönlichen Wesens und Empfindens. Von seinem Eigensten und Innersten zu reden hatte er Scheu; das Objektive ist Gegenstand der Unterhaltung, das andere macht man mit sich selber ab. Auch dies ist ein Zug, der einigermaßen zum friesischen Charakter gehört: er meidet Intimität, und nicht bloß mit den Fernerstehenden, sondern auch mit den Nächsten; eine gewisse Zurückhaltung, die auch als Kälte erscheinen kann, bildet eine Seite seines Naturells. Dabei fehlt es nicht an Tiefe der Empfindung, aber sie scheut sich an[11] die Oberfläche zu kommen. Sie fehlte auch dem Vater nicht, aber er zeigte sie kaum jemals; ich erinnere mich keiner Zärtlichkeitserweisung oder Liebkosung von seiner Seite, es sei denn, daß er mir als Kind einmal die Hand auf den Kopf legte. Ebensowenig trug er Sorge oder Kummer auf der Zunge oder stellte sie auf dem Gesicht zur Schau, auch wenn sie ihm tief ins Gemüt gingen; er verschloß die Dinge im Schrein der Brust und verarbeitete sie still in sich. So beherrschte er auch den Zorn, obwohl einige Neigung zu plötzlicher Erregung in seinem Temperament lag; Fremde werden kaum etwas davon gemerkt haben. Harte oder heftige Worte habe ich aus seinem Munde kaum gehört, es sei denn einmal über offenbare Unbilligkeit, deren Zeuge er war.
So war der Vater. Wenn er mit seinem festen, gewichtigen Schritt die Dorfstraße entlang am Sonntag früh zur Kirche ging oder am Nachmittag zu den Verwandten, dann blickte ich nicht ohne einigen Stolz auf ihn: ein Mann, dessen Ja und Nein galt, wo er sprach.
Von erheblich anderer Art war Herkunft, Naturell und Bildung meiner Mutter Christine, geb. Ketelsen. Sie stammte aus der Nachbargemeinde Enge, wo ihre Vorfahren, soweit ich von ihnen weiß, als kleine Bauern seßhaft waren. Da das Schreiben bei diesen nicht, wie bei den Schiffern der Inseln, zum Beruf gehört und darum nicht in die Lebensgewohnheiten übergegangen ist, so reicht meine Kunde hier eigentlich nicht weiter als bis zu den Großeltern, die ich beide noch von Angesicht gekannt habe. So habe ich an den Familien von Vater und Mutter die lebendige Darstellung der Tatsache, daß die Schrift allein das Gedächtnis über die zweite Generation hinaus erhält. In den Verhältnissen des großstädtischen Lebens, mit seinem beständigen Wechsel der Wohnung und des Aufenthalts, wird es oft kaum noch die Erinnerung an die Großeltern in schattenhaften Umrissen erhalten.
Meine Großeltern besaßen und bewirtschafteten eine kleine Bauernstelle »auf dem Sande«, der Boden war zur größeren Hälfte leidliches Ackerland, zur kleineren Weide und Wiese in der Flußmarsch der Scholmerau. Ein Pferd wurde gehalten, bei schwererer Arbeit, so beim Pflügen, wurde mit einem Nachbar, der in der gleichen Lage war, zusammengespannt. Sie hatten die kleine Stelle am Anfang des Jahrhunderts bei damals ziemlich guter Zeit zu verhältnismäßig hohem Preise gekauft; dann kamen die schlimmen Jahre des Niedergangs der Landwirtschaft, und da war denn allersorgfältigste Beschränkung in[12] den Ausgaben geboten, um die Stelle halten und die drückenden Abgaben zahlen zu können. Erst als in den dreißiger Jahren die Kinder heranwuchsen und die Zeiten allmählich sich zu heben begannen, wich der Druck. Der Großvater, Andreas mit Namen, hatte wohl aus der Zeit der Not etwas Herbes in seinem Wesen behalten; harte Arbeit hatte ihn ziemlich früh auch körperlich gebeugt; dazu hatte ein Schlaganfall ihm eine Lähmung der einen Gesichtshälfte zurückgelassen, so daß er eine schwarze Binde vor dem einen Auge trug. Die Großmutter Lene, übrigens eine Cousine ihres Mannes, war eine freundliche alte Frau, die ihren ersten Enkel zärtlich liebte. Meine letzte Erinnerung an sie sieht sie auf dem Krankenbett; ich war geschickt worden, mich nach ihrem Befinden zu erkundigen; sie sah mich mit halbwachem Bewußtsein am Fenster sitzen, eine besorgte irreredende Frage nach mir war das letzte Wort, das ich von ihr gehört habe.
Von den fünf Kindern sind drei zu Jahren gekommen. Der älteste Sohn, der von klein auf krank gewesen war, starb um die 20; er war die beständige Extrasorge und Mühe seiner Mutter zu ihren übrigen Arbeiten und Sorgen gewesen. Jahrelang bettlägerig, hatte er sich, da er die Schule überhaupt nicht besuchen konnte, nicht nur selbst Lesen und Schreiben gelehrt, sondern auch im Zeichnen sich eine gar nicht geringe Fertigkeit erworben; ein Bilderbuch, das er wohl für die Geschwister gemacht hatte, ist auch noch viel in meinen Kinderhänden gewesen. Der jüngste Bruder starb mit 5 Jahren an Scharlach, von meiner Mutter, die damals ein 12jähriges Mädchen war, wie sie mir oft erzählt hat, lange bis zur Untröstlichkeit betrauert.
Meine Mutter ist im Jahre 1818 geboren, zwei Jahre nach dem Bruder Ketel, sechs Jahre vor der Schwester Agathe Margarethe. Sie besaß ein sehr lebhaftes und fröhliches Temperament und eine nicht gewöhnliche geistige Regsamkeit; sie faßte leicht und lebhaft auf und hielt mit ihrem Urteil nicht zurück. Was die Schule des kleinen Dorfes, eine Nebenschule, die von einem Präparanden verwaltet wurde, ihr bot, war äußerst dürftig. Trotzdem hat sie sich ganz aus eigenem Vermögen eine sehr achtbare Leichtigkeit schriftlicher Mitteilung gewonnen. Ihr Interessenkreis war ursprünglich ein weiter, er hat sich dann mehr und mehr auf das Gebiet des Religiösen und der religiösen Schriftwelt gesammelt. Sie hatte viel Sinn für Kunst in jeder Gestalt; sie zeichnete, ohne jemals Unterricht erhalten zu haben, nicht ohne Geschick; sie sang gern und sicher ihre Choralmelodien, die einzigen, die[13] sie je gehört hat; sie liebte es, auch selbst Verse zu machen, natürlich nach dem Muster ihrer Lieblingsgesänge. So schmückte sie auch ihr Haus: ich erinnere mich noch wohl der Ausstattung unsrer Wohnstube mit Bildern, damals eine beinahe unerhörte Neuerung; es waren fünf große Holzschnitte aus der Passionsgeschichte, die sie kaufte und rahmen ließ. Sie liebte ihre Blumen, die Fenster entbehrten nie des Schmuckes; ebenso ihren Garten: sie legte ihn so schön an, als es ihre Mittel möglich machten, und hatte große Freude daran.
Das große Erlebnis der Mutter war ihre Erweckung und Bekehrung. Am Anfang der Zwanzig war es über sie gekommen, nachdem sie bis dahin mit der Welt ehrbar und fröhlich gelebt hatte. Ein neuer Prediger, Iwersen mit Namen, war nach Enge gekommen. Der alte P. Hasberg war ein Mann des Lebens und Lebenlassens gewesen, der auch im Wirtshaus gern verkehrte. Eines Abends hatte er es verlassen, ein Geldstück auf den Tisch werfend mit der Aufforderung, es munter zu vertrinken; auf dem Weg nach Hause war er tot zu Boden gefallen. Der Nachfolger war ein junger Mann voll leidenschaftlichen Eifers, seinen neuen Glauben, den neu gewonnenen alten Christenglauben, nicht bloß zu predigen, sondern im Leben und Empfinden der einzelnen Seelen lebendig zu machen. Es war die große Bewegung der neuen tieferen Religiosität gegenüber dem alten Rationalismus, die in unserem Lande zuerst durch Cl. Harms in Kiel machtvoll zur Geltung gebracht worden war: vermutlich war Iwersen als Student von seiner Predigt ergriffen worden. So ziehen die großen Weltbewegungen der Geschichte ihre Ringe bis in die letzten Dörfer und Hütten.
Die Mutter war ergriffen von diesen neuen Tönen. Mit der ihr eigenen Lebendigkeit erfaßte sie die Sache. Wenn es so ist, sagte sie sich, wie der Mann predigt, dann ist es notwendig, dein Leben auf ganz andern Fuß zu stellen. Und mehr und mehr wurde es ihr zur tiefsten Gewißheit: er hat wahrlich recht, das Leben hätte keinen Sinn, wenn es nicht über die Erde hinauswiese. Ist aber das ewige Leben das wahre Leben, dann ist es notwendig, darauf den Sinn zu richten und diese zeitlichen Dinge geringzuachten, um die ewigen Güter zu gewinnen. So geschah es, daß sie sich von alten Beziehungen löste und alte Neigungen fahren ließ, um ganz dem Neuen, Großen zu leben, das ihre Seele erfüllte. Und darin hat sie sich nicht irremachen lassen, so befremdlich es anderen vorkommen mochte. Auch die Geschwister gelang es ihr, auf ihre Seite herüberzuziehen: der Ernst und die Energie[14] des neuen Lebens in ihr war groß, daß es in jener ersten Zeit etwas Unwiderstehliches gehabt haben muß. Es ist ihr übrigens ihr Leben lang um ihre Heiligung großer Ernst gewesen. Ein zartes Gewissen begleitete sie auf allen ihren Schritten mit sicherer Bezeichnung des ihr Gemäßen. Zu Pastor Iwersen ergaben sich natürlich bald auch persönliche Beziehungen; sie war ihm wohl die erste Seele, die er gewonnen. Er blieb übrigens nicht lange in Enge; er kam bald nach Angeln (Neukirchen), wohin ihm die Schwester Agathe Margarete, die nach dem Tode seiner Frau als Pflegerin des von ihr zurückgelassenen Kindes in seinen Dienst eingetreten war, folgte. Nach einigen Jahren starb auch er, sein Andenken ist aber bei der Mutter lebendig geblieben, ich habe seinen Namen von ihr nie ohne dankbare Verehrung nennen hören. Sie suchte auch mich von klein auf mit ihrer Gesinnung und ihrem Glauben zu erfüllen und erzählte darum gern davon, wie sie selbst den Weg des Friedens gefunden habe; wie sie denn überhaupt viel mehr als der Vater bereit war, von ihren inneren Erlebnissen zu sprechen. So wenig er von seinem religiösen Innenleben sprach, so sehr war sie jederzeit geneigt, die Gelegenheit zu ergreifen, davon zu reden und für ihren Glauben Seelen zu gewinnen. Auch die Bekanntschaft mit dem Vater ist durch die Gemeinschaft des religiösen Lebens vermittelt worden. Durch eine der »Stillen im Lande«, einen Schuhmacher in Bredstedt, so ist mir lange nach dem Tode der Eltern von der Tante erzählt worden, sei seine Aufmerksamkeit zuerst auf meine Mutter gelenkt worden. Vaters Schwester Naëmi Johanna, die öfters nach Enge zu Pastor Iwersen in die Kirche ging, habe dann ihre nähere Bekanntschaft gemacht. Und das Ende sei gewesen, daß eines Tages der Vater nach dem Sande gekommen sei und bei den Eltern um die Hand der Tochter angehalten habe. Sie selbst sei gerade nicht zu Hause gewesen; auf die Mitteilung des Geschehenen habe sie zuerst eine etwas schnippische Antwort gegeben, schließlich aber doch gestattet, daß er wiederkomme und ihm dann ihre Zusage gegeben. Am 20. Juli 1845 wurde Hochzeit gefeiert. Der Bund fürs Leben ist für beide Teile glücklich gewesen. Zwar hat es auch an Schwierigkeiten nicht ganz gefehlt; Lebhaftigkeit der Gefühlsäußerung war dem Vater überhaupt nicht eigen, und so mag es auch der Gatte an den kleinen Zärtlichkeiten und Aufmerksamkeiten haben ermangeln lassen, wie sie von dem Liebenden erwartet werden. Die Mutter war aus dem Elternhause an ein etwas wärmeres Klima gewöhnt, als es in dem[15] neuen Hause aufkommen wollte; so rechtschaffen und gütig der Vater im großen war, so leicht konnte es ihm geschehen, über kleine Wünsche oder Abneigungen des andern sich mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit hinwegzusetzen: darauf kommt's ja doch nicht an. Er wußte nicht, wieviel leichter oft eine große Einschränkung oder Entsagung ertragen wird, als eine kleine Gleichgültigkeit. Mir sind diese Dinge sehr allmählich erst zum Bewußtsein gekommen. Als Kind habe ich gar nichts davon gemerkt; Streit zwischen den Eltern kam nicht vor, Unstimmigkeiten wurden nicht in meiner Gegenwart ausgeglichen. Eintracht und gegenseitige Achtung, das war es, was ich allein sah; vor allem war die Mutter darin unbedingt sicher, dem Kinde Achtung vor dem Vater und seinem Willen als dem selbstverständlich berechtigten einzuprägen. Übrigens entsprach dies auch ganz und gar ihrer Empfindung; sie empfand vor dem Vater und seiner Einsicht und Tüchtigkeit unbedingte Achtung. War sie einmal gekränkt, so wußte sie für ein freies Wort zur rechten Zeit Eingang zu gewinnen; die Gemeinsamkeit ihrer religiösen Lebensstimmung gab ihrem Wort Form und Wirksamkeit. Fehlte es dem Verhältnis ein wenig an der Innigkeit des persönlichen Füreinanderseins, wie es durch größere natürliche Lebhaftigkeit des Gefühls oder feinere Kultur des Innenlebens gegeben wird, so fehlte es ihm zu keiner Zeit an gegenseitiger wahrer Achtung; hierauf beruht der tiefe Friede, der den Grundton in meinem elterlichen Hause ausmachte. Zorn und Zank gab es nicht; und auch über einer inneren Verstimmung ließ die Mutter die Sonne des Tages, die sie hervorgerufen hatte, nicht untergehen.
Soviel von den Eltern und Vorfahren. Von beiden habe ich ein Erbteil mitbekommen; vielleicht darf ich es wagen, mit den Worten Goethes ein jedes zu bezeichnen:
Vom Vater hab ich die Statur
Des Lebens ernstes Führen,
Vom Mütterchen die Frohnatur
Und Lust zum Fabulieren.
Mit dem Fabulieren freilich ist's nicht weit her; doch ist die größere Lebhaftigkeit des Empfindens und Mitteilens gewiß mütterliches Erbe. Und des Vaters Statur sieht, wer ihn gekannt hat, mir von ferne an.
Buchempfehlung
Anders als in seinen früheren, naturalistischen Stücken, widmet sich Schnitzler in seinem einsamen Weg dem sozialpsychologischen Problem menschlicher Kommunikation. Die Schicksale der Familie des Kunstprofessors Wegrat, des alten Malers Julian Fichtner und des sterbenskranken Dichters Stephan von Sala sind in Wien um 1900 tragisch miteinander verwoben und enden schließlich alle in der Einsamkeit.
70 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro