[979] Tiersage. Kein anderes Volk hat eine so ausgebildete Tiersage entwickelt, wie das deutsche, und in ihm besonders der Stamm der Franken; ja im Mittelalter tritt das Tierepos in einer reichen Fülle von Dichtungen fast in Konkurrenz zum Heldenepos. Während nun Jakob Grimm in seinem Werke Reinhart Fuchs, Berlin 1834, diese Dichtung als ein urwüchsiges Produkt des germanischen Lebens und Gemütes anschaute, haben in neuerer Zeit andere Forscher das Tierepos aus der äsopischen Fabel vom kranken Löwen herleiten wollen, der auf den Rat eines Fuchses durch einen frischen Wolfsbalg geheilt wird; diese Fabel, sagen sie, sei aus Indien nach Griechenland, von da nach Italien und von da spätestens im achten Jahrhundert nach Deutschland gekommen. Um 940 sei sie einem kleinen von einem Mönche in Toul verfassten lateinischen Epos eingefügt worden, welches parabolisch in der Form einer Tiergeschichte die Flucht eines Mönches aus seinem Kloster erzählte; worauf später die Fabel durch viel andere erweitert und zu wahren Epen aufgeschwellt worden sei. Keller in Fleckeisens Jahrbüchern, Suppl. Bd. IV. Müllenhoff in Haupts Zeitschr. f.d.A. XVIII. S. 19. Dieser Ansicht steht vieles entgegen, die deutschen Namen der Tierhelden, das ursprüngliche Königtum des Bären, die auffallend starke Neigung des germanischen Stammes zur Mitempfindung und Betrachtung des Tierlebens,[979] die sich, abgesehen vom eigentlichen Tierepos, auch in zahlreichen Volksliedern, Tiermärchen, Kinderliedern u. dgl. abspiegelt. Auf dieser Ansicht fusst gegenwärtige Zusammenstellung, die sich auf die Abhandlung W. Wackernagels stützt: Von der Tiersage und den Dichtungen aus der Tiersage. Kleinere Schriften, II, 234326.
Der Mensch der Vorzeit sah in den Tieren ein halb übermenschliches Wesen und einen Stand näher den Göttern selbst; das zeigt das hohe Lebensalter, das man einzelnen Tieren znschrieb, dann die Rätselhaftigkeit ihres Todes, sobald sie von selbst ungewaltsam sterben, der Aufenthalt der Vögel hoch in freier Luft, die Art der Sprache, die dem Menschen nur unter besondern Umständen verständlich wird, der Glaube, dass eine übernatürliche Kraft Menschen in Tiergestalt verzaubere, und die Annahme einer Seelenwanderung, die auch dem Germanen nicht fremd war, sodann die Angehörigkeit einzelner Tiere an einzelne Gottheiten, ihre Bedeutung für Weissagung, die Anwendung von Namen edler Tiere, wie des Adlers, Raben, Wolfs, Bären, als Menschennamen (siehe den Art. Personennamen).
Wie nun das Götterepos und das Heldenepos die Götter und Helden in epische Handlung bringt, so das Tierepos seine Tiere. Und zwar sind es bloss die Tiere des Waldes, die sich der Herrschaft und Vertraulichkeit des Menschen entziehen, nicht die zahmen Haustiere; diese gehören als Begleiter des Menschen ins Menschenepos. Zum Tierhelden aber wurde die Tiergattung dadurch, dass man die letztere als Einzelwesen anschaute, das, wie der Mensch seinen persönlichen Eigennamen trägt und in seinen Handlungen lokalisiert, an einen heimatlichen Wohnort gebunden ist.
Träger oder Helden der Tiersage sind in erster Linie der Wolf und der Fuchs. Der Wolf heisst Isengrim = Eisenhelm (altnordisch grîma = Maske, Helm), der Fuchs Raginhart, Reinhart, d.h. Ratstark, der sich und andern immer Rat weiss; beides sind auch menschliche Namen. Ursprünglich ist der Wolf, obschon er immer durch den Fuchs zu Schaden kommt, doch als der heldenhaftere gedacht und nimmt die bevorzugtere Stellung ein, während der Fuchs erst neben und nach ihm steht. Über Wolf und Fuchs stand als König einst der Bär, Brûn; statt seiner ist erst später aus der äsopischen Fabel der Löwe eingeführt worden. Seinen Eigenschaften nach ist der Wolf alt, grau, greis, alter Gevatter, Oheim, stark, ungeschlacht, dick, plump, beschränkt, gierig, gefrässig, unersättlich, frech, schamlos, stolz, neidisch, grausam, wütig, Räuber, Mörder, ungetreu, alter verstockter Bösewicht, Teufel, Hahnrei, angeführt, besiegt; der Fuchs dagegen rot, frisch, jung, junger Gevatter, Neffe, schlank, glatt, schwach, fein, schlau, durchtrieben, listig, ränkevoll, Schleicher, Schmeichler, Schalk, Betrüger, Dieb, böse, boshaft, treulos, gottlos, teuflisch, lecker, geil, Taugenichts, Ehebrecher, verschlagen, vorsichtig, erfahren, beredt, Ratgeber, Meister und Sieger. Die übrigen Tiere haben für die Sage nur untergeordnete Bedeutung.
Die Motive der Handlung entsprechen dem niedrig tierischen Charakter der Helden und streifen daher ans Komische; namentlich der Fuchs ist ein arges Tier, da er nicht einmal das heilige Band der Gevatterschaft, ja der näheren Sippschaft (er ist einmal Isengrims Neffe) scheut. »Die Tiersage schliesst in sich den Gegensatz eines Starken, dem seine Thorheit alles Handeln in Leiden verkehrt, und eines Schwachen, der durch Klugheit alles Leiden in ein Handeln wendet zum eigenen Vorteil und zum Schaden[980] und bis zum Untergang des ihn bedrohenden Starken.«
Die Heimat der deutschen Tiersage ist Franken, im besonderen die Niederlande, das nördliche Frankreich und das westliche Deutschland, und es ist möglich, dass gerade dieser Stamm seine besondere in der merovingischen Zeit noch sehr rauhe Eigenart in den Eigenschaften des Wolfes und Fuchses wieder erkannte. Auch zeichnete sich Gallien schon im frühesten Mittelalter durch seine Vorliebe für die Tierfabel aus, deren Einfluss auf die Tiersage schon die Verdrängung des Bären durch den Löwen zeigt. Wirklich gehören auch die ältesten von fränkischen Schriftstellern aufgeschriebenen Tiergedichte mehr der Fabel als der Sage an. Die bedeutenderen Dichtungen der eigentlichen Tiersage sind folgende:
1. Die Ecbasis, aus dem 10. oder 11. Jahrhundert, lateinisch in Versen abgefasst; das Gedicht erzählt die Flucht eines Kalbes von seiner Herde; es gerät in die Gewalt des Wolfes und wird von diesem in seine Burg geschleppt. Diese wird hierauf im Auftrage des Königs Löwe und unter Anführung des Fuchses durch die übrigen Tiere belagert und erstiegen und der Wolf getötet. Ausgabe von E. Voigt, Ecb., das älteste Tierepos des Mittelalters. Strassburg, 1875. Vgl. Ebenders. Kleinere lateinische Denkmäler der Tiersage aus dem 12. bis 14. Jahrhundert. Strassburg 1878.
2. Isengrimus, lateinisches Gedicht des 11. oder 12. Jahrhunderts. Es erzählt zuerst die Heilung des kranken Löwen durch Umlegen des Felles, das auf Reinharts Rat dem Wolfe abgezogen worden ist, und sodann ein Ereignis aus früherer Lebenszeit des Wolfes, das der Fuchs erzählt: verschiedene Tiere nämlich, darunter Renardus, machen eine Pilgerfahrt; da sie in einer Waldherberge rasten, schleicht Isengrimus in räuberischer, mörderischer Absicht herzu, wird aber durch listige Vorkehrungen des Fuchses abgeschreckt.
3. Reinardus, lateinisches Gedicht des 12. Jahrhunderts, viel umfangreicher als die bisher genannten Gedichte, über 6000 Zeilen stark; zugleich das erste Gedicht der Tiersage, dessen Dichter »Nivardus«, ein im übrigen unbekannter Mann, sich genannt hat. Das Gedicht hat den Inhalt des Isengrimus zum Teil wörtlich in sich aufgenommen und zahlreiche andere Tierabenteuer dazu verbunden; im ganzen sind es dieser zwölf.
Mit Ausnahme des Isengrimus sind schon diese Dichtungen stark mit Satire durchzogen, und zwar ist diese teils persönlich, bezieht sich auf ganz bestimmte Zeitgenossen und Verhältnisse, auf bekannte und genannte Bischöfe und Äbte, teils bezieht sie sich auf den in dieser Periode ausgebrochenen Kampf zwischen Kaisertum und Papsttum, so zwar, dass die Verfasser, obwohl selber Geistliche, alle auf Seite des Reiches gegen die Kirche stehen, und obwohl selber Mönche, doch mit besonderer Vorliebe das Mönchstum persiflieren, namentlich das reformierte Mönchstum der Cistercienser, deren Hauptvertreter Bernhard von Clairvaux seinen Namen Bernardus dem Widder und dem Esel hat verleihen müssen.
4. Roman de Renart, umfasst 30362 Verse und zerfällt in 27 zum Teil sehr selbständige Stücke oder Branches (Zweige am Baum der Sage); die Dichtung ist nur sehr allmählich durch die Arbeit mehrerer entstanden und reicht von der zweiten Hälfte des 12. bis ins 14. Jahrhundert; von manchen Stücken werden die Dichter genannt. Der Inhalt ist teils dem Renardus, teils anderen schriftlichen und mündlichen[981] Quellen entnommen. Die reichere Ausführung zeigt die Einwirkungen der höfischen Epik, zu den Haupttieren ist ein zahlreiches Nebenpersonal gekommen, deren Namen meist französisch ist; der Löwe heisst hier zuerst Noble; die Satire ist dürftiger und matter geworden; ihr Hauptträger, bisher der Wolf, ist jetzt der Fuchs, und ihre Spitze nicht mehr gegen die Kirche, sondern gegen das Hofleben gerichtet. Nur beiläufig mögen noch zwei andere französische Tiergedichte des 13. und 14. Jahrhunderts erwähnt werden, die ganz in das Gebiet der satirischen Allegorie fallen: Le couronnemens Renart ist eine Satire gegen die Bettelmönche und Renart le nouvel eine solche gegen die Ritterorden.
5. Isengrîmes nôt von Heinrich dem Glîchezâre, Glîchesaere, Glîchsenaere, d.i. dem Heuchler, Gleissner, einem Elsässer. Seine Hauptquelle ist ein französisches Tierepos, das nicht mehr erhalten ist, sich aber in den französischen Namen und anderen Verhältnissen überall kundgibt. Man kann zwölf Abenteuer oder Branchen unterscheiden; auch hier richtet sich die Satire vornehmlich gegen den Hof. Von der ursprünglichen Gestalt sind nur Bruchstücke, das Ganze in einer Überarbeitung des 13. Jahrhunderts erhalten, die den Namen Reinhart Fuchs trägt. Andere Dichtungen dieser Art hat die Litteratur des deutschen Mittelalters nicht hervorgebracht; statt der Tiersage pflegte man auf deutschem Boden vielmehr die Tierfabel, die immerhin auch vereinzelte Züge der Sage in sich aufnahm.
6. Reinaert, ein flämisches Gedicht von Willem, aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, meist nach französischen Quellen bearbeitet. Zwar in überlieferter Weise satirisch gemeint, ist das Gedicht doch rein episch gehalten. Es ist das vorzüglichste Werk unter allen Tierepen und gehört überhaupt zu den besten dichterischen Erzeugnissen des Mittelalters. Es enthält die Anklage des Fuchses, die Vorladung desselben durch den Bären, den Kater und den Dachs, seine Lossprechung gegen das Gelübde einer Pilgerfahrt und seine Übelthaten gegen den Hasen und den Widder, also das, was den Inhalt des ersten Buches im Reinecke bildet; ein Abschluss mangelt. Eine lateinische Bearbeitung dieses Reinaert in Distichen von einem gewissen Baldwinus, Reynardus vulpes, wurde noch im 13. Jahrhundert verfasst und im 16. zu Utrecht gedruckt. Um 1300 erhielt der Reinaert von einem unbekannten Flaeming eine Fortsetzung, gleichfalls auf Grundlage französischer Dichtungen; diese wiederholt in störender Weise den älteren Reinaert, die Versammlung der Tiere, die Klage derselben über den Fuchs, sein Erscheinen bei Hofe, seine lügenhafte Erzählung von den Schätzen, alles nur breiter, gelehrter, mit äsopischen Fabeln durchstreut und sehr stark ins satirisch-didaktische, ja ins allegorische gezogen.
Der flämische Reinaert in seiner ganzen Ausdehnung wurde nun die Quelle zahlreicher Überarbeitungen. In holländischer Prosa erschien eine solche 1479 und 1495, aus deren Verkürzung ein jetzt noch in Holland vielgelesenes Volksbuch, Reinaert de vos, hervorging; ebendieselbe erschien in englischer (1481) und in französischer Übertragung 1566, die letztere als Regnier le renard. Neben der Auflösung in holländischer Prosa gab es aber vom alten Reinaert auch eine Übersetzung in holländische Verse, von deren Druck leider bloss sieben Blätter vorhanden sind; das Gedicht erscheint hier zuerst in Kapitel eingeteilt, deren jedes mit[982] einer vorausgeschickten prosaischen Inhaltsangabe und einer lehrhaften Nutzanwendung in Prosa versehen ist. Der Verfasser und Bearbeiter hies Hinrek van Alkmer.
7. Reinke de vos, in niederdeutscher Sprache zuerst 1498 zu Lübeck erschienen, wahrscheinlich zum Teil hervorgerufen durch die ein Jahr vorher ebendaselbst erschienene niederdeutsche Ausgabe von Sebastian Brant's Narrenschiff. Dieser Reinke de vos ist bloss eine niederdeutsche Übersetzung des holländischen Gedichtes von Heinrich van Alkmar. Die Ausgaben dieses Volksbuches zerfallen in zwei Klassen; deren erste bietet den Text mit der ursprünglichen Gestalt der Glosse, wohin u.a. die Ausgaben von Lübben, Oldenburg 1867, Hoffmann von Fallersleben, Breslau 1845 und 1852, und Schröder, Leipzig 1872 (die beiden letzteren ohne die Glossen) gehören; die zweite Klasse beginnt mit dem Rostocker Druck von 1539, wo die frühere Glosse durch eine weitläufige neue vom protestantischen Standpunkte ersetzt ist. Die ausserordentliche Seltenheit der ersten Ausgabe rührt daher, dass katholische und protestantische Geistliche das Buch eifrig verfolgten; man setzte es sogar auf den Index. Übertragen wurde endlich das Buch im Verlaufe des 16. und 17. Jahrhunderts ins Hochdeutsche, Französische, Dänische, Schwedische, Isländische, Englische, Holländische, Lateinische; diese letztere Übertragung unter dem Titel Speculum vitae aulicae siebenmal gedruckt. Die Bearbeitung Goethe's erschien 1794. Holzschnitte besass schon die holländische Ausarbeitung des Heinrich von Alkmar, wie fortan die späteren Ausgaben. Eigentümlich ist dabei die heraldisch-verzogene Manier, in der die Tiere, für diesen Zweck nicht unpassend, gehalten sind.
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