Chiron

[707] CHIRON, ónis, Gr. Χειρων, ωνος, ( Tab. VIII.)

1 §. Namen. Diesen soll er von χεὶρ, χειρὸς, die Hand, haben weil er nämlich ein guter Chirurgus, oder Wundarzt zu seiner Zeit gewesen, und folglich die Hände insonderheit zu seiner Kunst mit gebrauchet hat. Voss. Etymol. in. Chirurgus, s. p. 152.

2 §. Aeltern. Sein Vater war Saturnus, seine Mutter aber Philyra, Apollod. lib. I. c. 2. §. 4. und zwar verwandelte sich Saturn, aus Furcht vor seiner Gemahlinn, der Rhea, in ein Pferd, als er mit der Philyra seine Händel hatte, und jene ihn dabey überraschete. Apollon. ap. Nat. Com. lib. IV. c. 12. Als nun Philyra nach der Zeit ihres Sohnes ungewöhnliche Gestalt sah, so härmete sie sich dermaßen darüber, daß sie endlich in eine Linde verwandelt wurde. Hygin. Fab. 138. Indessen geben doch einige den Ixion so wohl für seinen, als der andern Centauren Vater an. Suidas ap. Nat. Com. l. c.

3 §. Wesen und Tod. Er war gebachter Maßen ein Centaurus, das ist, halb ein Mensch und halb ein Pferd. Apollod. lib. I. c. 2. §. 4. Allein, dabey doch so ein guter Medicus, Ptol. Hephæst. lib. I. p. 306. Musicus, Boetius ap. Nat. Com. lib. IV. c. 12. und Astronomus, Staphylus ap. eumd. l. c. daß er den Herkules, Aeskulapius, Jason, Achilles, und fast alle junge Prinzen seiner Zeit in den ihnen nöthigen Wissenschaften unterwies, wie denn noch außer diesen Cephalus, Melanio, Nestor, Amphiaraus, Peleus, Telamo, Meleager, Theseus, Hippolytus, Palamedes, Menestheus, Ulysses, Diomedes, Kastor und Pollux, Machaon und Podalirius, Antilochus und selbst Aeneas seine Schüler gewesen seyn sollen. Xenoph de venat. in init. p. 972. Opp. Man gab ihm den Namen eines [707] Weisen; und er soll der erste gewesen seyn, welcher das ganze menschliche Geschlecht gelehret habe, der Gerechtigkeit gemäß zu leben, indem er demselben die Stärke des Eidschwures, die freudigen oder Dankopfer und die himmlischen Zeichen gezeiget habe. Clem. Alex. Strom. L. I. p. 306. 332. Man hat aus diesen letzten Worten zu erweisen gesuchet, daß er einen Kalender für die Argonauten gemacht. Newton in brev. Chron. p. 20. Tom. III. Opp. Es ist aber hinlänglich dargethan worden, daß solches ganz ungegründet sey. Banier Erl. der Götterl. IV B. 480 S. Er übete seine Schüler vornehmlich in den mancherley Arten der Jagd, und zog sie zu dem Kriegeswesen. Er lehrete sie die für jede Wunde dienlichen Mittel, unterrichtete sie in der Musik, den Gesetzen und Rechten. Philostrat. Heroic. c. IX. p. 707. Man sieht ihn noch auf einem sehr schönen alten Gemälde, wie er den jungen Achilles auf der Leyer spielen lehret, welcher vor ihm steht, ganz nackend ist, außer daß er einen kurzen Mantel, der auf der rechten Schulter zusammen geheftet ist, den Rücken hinunter hängen, und Solen unter die Füße gebunden hat. Die Leyer scheint ihm umgebunden zu seyn, und er mit der linken Hand darauf zu spielen, da indessen Chiron, welcher lauf seinen Hinterbeinen sitzt, und ihn zwischen seinen Vorderbeinen hält, in der rechten Hand das Plectrum hat, und ihm damit die Saiten zu berühren zeiget. Statt des Mantels hat Chiron eine Thierhaut um, welche unter dem Halse zugeschürzet ist, und sein Kopf ist mit Zweigen umwunden, welche man von dem Kraute Centaurea oder Chironion zu seyn glaubet, dessen Kräfte er entdecket hat, wiewohl sie doch auch von Ephene seyn können, womit die Centauren sich zu bekränzen pflegeten. Le pitture d'Ercol. T. I. tav. VIII. Aehnliche Vorstellungen sieht man auch auf einigen Gemmen. Lipperts Dactyl. II Taus. 136. 137. n. Dem Bacchus oder Dionysus zeigete er dabey die Art zu schmausen, wie auch seine Bacchationen und die Opfer [708] anzustellen. Ptol. Hephæst. lib. IV. p. 131. Er war hiernächst ein so guter Freund des Peleus, daß er ihm nicht nur die Thetis zur Gemahlinn verschaffete; sondern auch die Leute zu bereden wußte, daß die Götter selbst auf dessen Hochzeit zugegen seyn würden, indem er aus der Astrologie ersah, daß um die Zeit derselben ungemeine Stürme und Platzregen kommen würden, in welchen sie von dem Himmel herunter steigen sollten. Staphyl. op. Schol. Apol lon. L. IV. 816. Bey dem allen mußte er seines Theils endlich doch selbst eines gar schmerzlichen Todes sterben. Denn als Herkules dereinst bey ihm einkehrete, so fiel diesem ein Pfeil aus dem Köcher, und dem Chiron in den Fuß, indem sie solche besahen. Hygin. Poet. Astron. L. II. c. 38. Weil dieser Pfeil nun in dem Blute der lernäischen Schlange eingetunket war, so empfand er nicht nur den allerentsetzlichsten Schmerz davon, sondern es konnte die Wunde auch auf keine Art wieder geheilet werden. Hierzu kam, daß er unsterblich war, indem er von einem dergleichen Vater war gezeuget worden. Er bath daher endlich selbst den Jupiter aufs inständigste, daß er ihn nur möchte sterben lassen, welches er auch von ihm erhielt. Acusilaus & Cratinus ap. Nat. Com. l. c. itemque Eratosth. Cataster. 40. Jedoch geben auch einige vor, daß er sich nicht solcher Wunde wegen, sondern weil er des langen Lebens sonst satt gewesen, den Tod von den Göttern erbethen habe. Mnesagoras ap. Nat. Com. l. c. Denn die Wunde soll er durch das Kraut Centaurea wieder geheilet haben, welches daher von ihm Chironion genannt worden. Serv. ad Virg. Georg. IV. v. 270.

4 §. Gemahlinn und Kinder. Erstere war die Chariklo, Schol. Apollon. L. I. v. 554. eine Nymphe, mit welcher er die Ocyroe zeugete, allein an dieser auch die Widerwärtigkeit erlebete, daß sie vor seinen Augen in ein Pferd verwandelt wurde. Ovid. Metam. lib. II. v. 635. Wie aber diese Ociroe einige auch Evippen, Pollux lib. IV. Segm. 141. [709] oder nur Hippen nennen: Cyrill. & alii ap. Kuhn. ad Poll. l. c. also soll er auch mit einer Philyra die Endeis, und mit der Pisidice, einer Nymphe, den Chariklus gezeuget haben. Nat. Com. lib. IV. c. 12. Man giebt ihm gleichfalls die Thetis zur Tochter, welche sich mit dem Peleus verheurathete. Dict. Cret. L. VI. c. 7.

5 §. Verehrung. Wegen seiner Frömmigkeit, Gerechtigkeit und andern Tugenden, wie nicht weniger, daß er wider sein Verschulden so eines schmerzlichen Todes sterben mußte, versetzete ihn Jupiter endlich selbst an den Himmel, woselbst dessen Bild in dem nordlichen Theile also zu sehen ist, daß er in der Hand ein kleines Thier hält, welches er auf einem nahe dabey stehenden Altare opfern zu wollen scheint. Eratosth. Cataster. 40. Die Magnesier verehreten ihn in so fern göttlich, daß sie ihm die Erstlinge ihrer Früchte opferten. Plutarch. Sympos. III. Quæst. 1.

6 §. Eigentliche Historie. Einige wollen zwar zweifeln, daß jemals ein Chiron gewesen, Barth. ad Stat. Achill. II. v. 373. welches in so weit wohl seine Richtigkeit hat, wenn er halb ein Mensch und halb ein Pferd gewesen seyn soll, weil es dergleichen Geschöpfe freylich niemals gegeben hat. Palæph. ad Stat. Achill. II. v. 373. Daß es aber nicht einen guten Chirurgus gegeben, der vieles in der Botanik erfunden, Plin. H. N. lib. VII. c. 56. & Hygin. Fab. 274. und auch den Namen Chiron selbst von seinen Curen mit den Händen empfangen, so wie ihn die Chirurgi noch daher haben, Nat. Com. lib. IV. c. 12. ist nichts unglaubliches. So kann er auch wohl, wenn er seine Patienten besuchet hat, sich eines Pferdes bedienet haben, und zu ihnen geritten seyn, daß man ihn nach damaligen Zeiten, da vielleicht die Reiterey noch nicht so gemein gewesen, für einen Centaur angesehen; oder man hat ihn deswegen für dergleichen gehalten, weil er von Nation ein Thessalier gewesen, Daniel Cleric. ap. Fabric. Biblioth. Gr. lib. I. c. 3. §. 3. oder auch, weil er von der Pferdearzney ein Werk unter [710] dem Titel, Ἱππιατρικὸν, geschrieben. Suid. ap. eumd. l. c. Da er sich ordentlicher Weise in einer großen Höhle am Berge Pelion, in Thessalien, aufgehalten haben soll, Orph. Argon. v. 376. so kann er wohl nur seine Wohnung daselbst gehabt haben, die vielleicht so an den Berg angebauet gewesen, daß wer in dieselbe hinein gekommen, geglaubet, es sey eine Höhle des besagten Berges, zu geschweigen, daß die Poeten ein ordentliches Wohnhaus für eine Höhle angeben können. Daß er aber übrigens Ὑποθήκας δι' ἐπῶν πρὸς Ἀχιλλέα, erwähntes Ἱππιατρικὸν und dergleichen mehr geschrieben, wovon noch etwas vorhanden seyn soll, wird billig in Zweifel gezogen. Fabric. l. c. & §. seq.

7 §. Anderweitige Deutung. Er war halb ein Pferd, und halb ein Mensch, weil dergleichen Misgeburten Früchte einer dergleichen Geilheit seyn sollen, als sein Vater gegen die Philyra bezeugete. Masen. Specul. ver. occ. c. XXIII. n. 2. Wenn er insonderheit ein guter Arzt gewesen seyn soll, so wird er für einen Sohn des Saturns und der Philpra, als unsterblicher Aeltern ausgegeben, weil die Medicin von keinem bloßen Menschen genugsam begriffen werden kann. Er starb aber endlich selbst noch, weil die Wissenschaften, wenn sie aufs höchste gekommen, insgemein wieder in Abnahme gerathen, und gleichsam ersterben. Er wurde nach seinem Tode mit unter die Sterne versetzet, um die Dankbarkeit zu bemerken, welche man wohlverdienten Leuten schuldig ist, wie auch, daß Gott redlicher und frommer Leute Kreuz und Noth nicht allein endige, sondern ihnen dafür einen ewigen Ruhm und Glückseligkeit zugestehe. Man giebt ihn für Saturns Sohn aus, weil zur Erlernung der Medicin nothwendig eine geraume Zeit erfordert wird, welche Saturn bemerket; seine Mutter aber heißt Philyra, gleichsam von φίλη, Freundinn, und πεῖρα, Erfahrung, weil diese zur Arzeneykunst nöthig ist; und Ocyroe war seine Tochter, weil eine Wunde um so viel geschwinder heilet, je geschwinder (ὠκέως), [711] die bösen Feuchtigkeiten ihren Abfluß, (ῥοὴν) nehmen, wobey er denn für ein Pferd und Menschen zugleich ausgegeben wird, weil die Arzeneykunst so wohl für das Vieh, als die Menschen, seyn soll. Nat. Com. lib. IV. c. 12.

Quelle:
Hederich, Benjamin: Gründliches mythologisches Lexikon. Leipzig 1770., Sp. 707-712.
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