Einleitung.

»Aber sage uns, liebes Tante Bechen,« – dahin hatten Kinderlippen und Liebesausdrücke meinen stolzen Namen gewandelt, – »also sage uns,« so rief eine muntere Kinderschar, »warum willst du denn mit dem langweiligen Personenzug fahren? Vier Stunden eher mußt du abreisen und kommst nur 11/2 Stunde früher in Berlin an, als mit dem Kurierzuge.«

Obgleich verschiedenen Alters, sonst oft verschiedener Meinung, waren hier alle einig, und in den Augen stand deutlich geschrieben, was zu sagen sie sich scheuten Na, alte Leute sind eben wunderlich! Mich störte weder der laut ausgesprochene, noch der auf den Gesichtern zu lesende Tadel, und ich sagte ruhig: »Die durch die frühere Ankunft gewonnene Zeit ist mir gerade viel wert. Fast fünf Monate bin ich von meinem kleinen Heim abwesend, und da komme ich gern zu früher Stunde an. Ich finde vielerlei zu ordnen, um einigermaßen die Gemütlichkeit in den so lange unbewohnten Räumen wiederherzustellen; da wird es auch trotz der frühen Ankunft spät, ehe ich alter Mensch zur Ruhe komme. Und dann – ihr denkt, es ist furchtbar, mit dem Personenzug zu fahren; wie werdet ihr erst staunen, wenn ihr hört, wie ich früher gereist bin.

Es war dieselbe Entfernung, von Friedeberg nach Berlin; statt Eisenbahn – Chaussee, und da bin ich zwei Nächte unterwegs[3] gewesen, erst den dritten Tag angekommen! Von der Hinreise ist mir die Erinnerung nicht mehr klar, sie muß also, den damaligen Verhältnissen entsprechend, ziemlich rasch, ohne besondere Schwierigkeiten gemacht sein. Euch freilich würde sie wie eine Schneckenpost vorkommen, wir aber waren befriedigt; denn mehr als ein Nachtquartier brachte sie sicher nicht, vielleicht sind wir auch mit wechselnden Postpferden die Nacht hindurch gefahren, und die Pferde aus Birkholz, langsam folgend, nach Berlin gegangen.

Es war Juni und Wollmarkt. Eure Urgroßeltern, Herr und Frau von Langenn-Steinkeller aus Birkholz, reisten mit zwei 8 und 10 Jahre alten Töchtern und mir dazu nach Berlin.

Dieser Markt war damals ein großes Ereignis, da die Wolle fast den bedeutendsten Teil der landwirtschaftlichen Einnahmen bildete. Die meisten Wirtschafts- und Luxuseinkäufe wurden dann gemacht, und die leeren Wollwagen brachten alles mit nach Hause. Diese mannigfachen Besorgungen nahmen natürlich mehrere Tage in Anspruch. Ich brachte diese Zeit im Hause meines Bruders zu. Wie aber alles schließlich ein Ende hat, so auch die Tage in Berlin. Wir rüsteten zum Aufbruch und die Familie teilte sich.

Eure Urgroßeltern und ihre älteste Tochter Clara, eure Großmutter, mit dem einen Wagen, den großen, älteren Pferden und dem alten Kutscher Karras, diesem Original, wie es nur jene Zeit aufweisen konnte, und von dem ich euch später erzählen werde, reisten nach Warmbrunn. Die jungen Pferde, ein junger Kutscher, Tante Lisbeth, die um wenige Jahre jüngere Schwester eurer Großmutter, und ich, wir fuhren unter dem Schutz des alten Schäfers Kruschke nach Birkholz zurück.[4]

Es mochte 12 Uhr mittags sein, als wir von dem Hotel de Portugal in der Burgstraße aufbrachen. Vor mir stand ein großer lederner Kober, sonst zu Lebensmitteln für die Reise bestimmt, jetzt mit harten Talern, dem Reste des Wollgeldes, gefüllt. Zum Glück war ich keine ängstliche Natur, sonst hätte ich mit klopfendem Herzen an Diebe und Mörder gedacht. So sorgte ich nicht darum, traute Kruschke, und es begann die Reise.

Durch die König- und Frankfurterstraße, zum Frankfurter Tor hinaus, immer langsam, um die jungen Pferde zu schonen, ging es die einförmige Chaussee entlang.

Nachdem einmal vor dem Krug in Tasdorf gehalten und den Pferden etwas Futter gegeben war, der Kutscher und Kruschke eine leibliche Erquickung eingenommen, ihr Gemüt noch mehr am gemütlichen Schnack erholt hatten, ging es in demselben Tempo weiter. Die Ruhe hatte wohl 1 Stunde gedauert, es standen ja noch am Krug viele der heimkehrenden Wollwagen; die Lenker derselben und die begleitenden Schäfer mußten doch in Gemütsruhe ihre Erlebnisse aus der Residenz austauschen. Wir saßen inzwischen im Wagen und waren von Geschrei hin und her und Tabaksdampf, von nicht gerade feinster Sorte, umgeben.

Müncheberg, damals die Trennung der Chausseen nach Preußen und Schlesien, war der nächste Haltepunkt, die Unruhe dort fast noch größer, als in Tasdorf, die Unterhaltung jedenfalls lebhafter und länger. Kruschke redete uns zu, eine Tasse Kaffee zu trinken und brachte sie an den Wagen. Echter Mokka war es gerade nicht, aber für die durch Staub und Hitze trockenen Kehlen und Lippen immerhin eine kleine Erquickung.

Das Ziel der Tagereise war nicht mehr fern: in Selow[5] sollten wir über Nacht bleiben und kamen nach 8 Uhr dort im ersten Hotel an. Mancher Dorfkrug ist jetzt besser. Ein dürftiges Abendbrot war bald verzehrt, und nicht ahnend, was uns noch bevorstünde, sahen wir vom Fenster aus dem Bau einer Ehrenpforte zu, durch die am nächsten Tage Friedrich Wilhelm IV. fahren sollte, der als Kronprinz im Jahre 1839 mit seiner Gemahlin eine Reise nach Ostpreußen machte.

Nachdem dann Kruschke den Schatzkasten vor mein Bett gestellt hatte, legten wir uns nieder, aber an Schlafen war nicht zu denken; das Zimmern und Hämmern an der Ehrenpforte ging die ganze Nacht hindurch, und halb Selow staunte, schwatzend und lachend, die werdende Herrlichkeit an.

So empfanden wir es wie eine Wohltat, als wir am frühen Morgen weiterfuhren. Nach einigen Stunden kamen wir an Küstrin vorüber.

Die Kühle des Morgens machte keine Rast dort nötig, und so fuhren wir im gemütlichen Schritt bis Vietz. Dort wurde die in Küstrin versäumte Rast nachgeholt; denn 4 Stunden sollten die Pferde ruhen und fressen.

Unsere bescheidene Mahlzeit wurde schnell eingenommen. Im Zimmer des Kruges war es höchst ungemütlich Fliegen in unsagbarer Menge, dazu Bier und Tabaksduft, also wandelten wir hinaus. Vietz war damals noch nicht stadtähnlich wie jetzt, und so hatten wir nur die Wahl zwischen kahler Chaussee und fliegendem Sande. Dieser zog uns noch mehr an, wie jene, wir konnten uns doch hinlegen und allerhand Kunstwerke, wie Backöfen und Wälle errichten, an denen Lisbeth Vergnügen und Zeitvertreib hatte.

Nachdem Pferde, Kutscher und Kruschke vom Mittagsschlaf[6] genug hatten, fuhren wir weiter. Landsberg a. d. Warthe war unser nächstes Ziel.

Wir kehrten dort bei lieben Bekannten ein, verlebten einen sehr gemütlichen Abend, und unsere Nachtruhe wurde nicht durch den Bau von Ehrenpforten gestört, dafür aber unser Auge am nächsten Morgen um so mehr erfreut durch die festlichen Zurüstungen, die für das durchreisende Kronprinzenpaar getroffen waren. Wir gingen durch alle Straßen und verstanden den Stolz, mit dem die Landsberger auf ihre Leistungen sahen.

Am Posthof sollte umgespannt werden, dort wandelten schon einige weiße Jungfrauen, die den Empfang verherrlichen sollten. Nicht »Goldschmidts«, wohl aber Postmeisters Töchterlein sollte im Kreise anderer, gleich ihr Weißgewaschener, eine Rede halten. Die Wahl mochte wohl schwer gefallen sein, hatte Postmeister Krause doch 18 Kinder, und überwiegenden Töchtersegen.

Wie einfach war das alles gegen jetzt – aber die Leute hatten viel Freude. Durch das Wechseln der Pferde, die Reise der hohen Herrschaften auf der Chaussee, wurden viele Städte berührt, und auch die kleinste wollte dem zukünftigen Landesvater Ehre erweisen und der lieblichen Kronprinzeß Blumen streuen.

Daß man sich, wenn es keine Blumen gab, auch zu helfen wußte, bringt mir eine ähnliche Gelegenheit in Erinnerung, bei der ich selbst eine Rolle spielte. Das russische Kaiserpaar, der schöne, stolz aussehende Nikolaus, mit seiner Gemahlin, Prinzeß Charlotte von Preußen, hatten in Lauchstädt bei Herrn von Brand zu Mittag gegessen und wollten nun am Abend in Berlin eintreffen.

Das Herrscherpaar berührte hierbei Friedeberg; der kurze[7] Aufenthalt vor dem dortigen Postgebäude durfte nicht ohne Begrüßung vorübergehen. Es war im Frühjahr, und weder Blumen noch grüne Zweige zur Stelle – da griff man kurz entschlossen zu einem profanen Auskunftsmittel – man streute Spinat!

Ich war ausersehen, der Kaiserin ein Bukett Rosen und Maiblumen, die im Birkholzer Gewächshaus erblüht waren, zu überreichen. Nicht im obligaten weißen Kleide, sondern in hellblauem, das zu meinen blonden Locken gar nicht schlecht stand. Die Wagen waren dicht von schaulustigen Friedebergern umgeben, doch gelang es zwei Offizieren der dortigen Garnison, mir Platz zu schaffen, und so kam ich zur Kaiserin. Sie nahm die Blumen freundlich dankend an, zog einige Maiglöckchen heraus und sagte: »Bringen Sie diese meiner Tochter im nächsten Wagen.« Es war dies die spätere Herzogin von Nassau, damals 14 Jahre alt. Sie starb früh, und ihr zu Ehren ist später die russische Kapelle in Wiesbaden errichtet worden. Die Prinzeß frug, von wem die Blumen kämen, und als ich ihr darüber Bescheid gesagt und kaum zurückgetreten war, zogen die Pferde an, von blasenden Postillonen getrieben, und fort ging es in Eile. – Den Spinat hat wohl kein kaiserliches Auge gesehen. Schade, daß nicht Andersen ihn erblickt, er hätte ein hübsches Märchen darüber schreiben können.

Aber nun zurück nach Landsberg, wo wir das kronprinzliche Paar nicht erwarteten, es aber mit den schnellen Postpferden auf der Chaussee an uns vorüberfahren sahen.

Wir kamen, immer hübsch langsam voran, endlich um Mittag über Altenfließ, wo die Chaussee aufhörte, an unserem Reiseziel Birkholz an und wurden dort fast wie Nansen, als er von der Nordpolexpedition heimkehrte, begrüßt. Es war ja auch[8] etwas, worüber man staunen mußte drei Tage unterwegs! – und jetzt findet ihr schon 4 Stunden zuviel.«


Als ich hiervon erzählte, entspann sich folgende Unterhaltung: »Tante Bechen, man möchte fast glauben, du habest nach der Sintflut gelebt, so wunderbar klingen deine Erzählungen,« rief eine Stimme, deren Besitzer die ersten Studien in der biblischen Geschichte machte, und da ihm diese Behauptung nachträglich selbst etwas kühn erschien, fügte er hinzu: »Aber 100 Jahre mußt du doch alt sein, und den alten Fritz hast du sicher noch gesehen.« Ein großes Gelächter unterbrach den jugendlichen Sprecher, »100 Jahre soll Tante Bechen alt sein, und wenn selbst das, der alte Fritz ist doch schon länger tot.« »Laß gut sein, kleiner Mann,« tröstete ich den Geknickten, »ich bin fast 30 Jahre nach dem Tode des alten Fritz geboren, den habe ich nicht mehr gekannt, aber wohl hat ihn eine liebe alte Freundin von mir gesehen. Sie war 1768 im September geboren und starb 1867 im November, also im hundertsten Jahre.

Oft erzählte sie, daß der König, der seinen gewöhnlichen Wohnsitz in Potsdam hatte, zu den Besichtigungen der Truppen nach Berlin gekommen sei. Dann riet man hin und her, ob er in das Hallische oder das Potsdamer Tor hineinkommen würde. Chaussee war von keiner Seite, also der Weg über Teltow nicht sandiger, als der über Zehlendorf.

Die Berliner sind dann, wie zu einer Landpartie, vor beide Tore gepilgert, je nachdem es einem jeden wahrscheinlich schien, daß der König den Weg nehmen würde. Ein Teil war dann jedesmal enttäuscht, denn durch ein Tor kam der König nur, nicht, wie einst ein berühmter Taschenspieler, durch alle zugleich.[9]

Zu Pferde kam er immer; die damals so schwerfälligen Wagen benutzte er nur zu größeren Reisen; auf so geringe Entfernung brachte ihn sein getreues Roß, der alte, in Sanssouci unter einer Steinplatte ruhende Schimmel schneller zum Ziel.«

»Bist du denn auch noch in solch altem Wagen gefahren?« hieß es nun. »In ähnlichen wohl und langsam genug.« »Bitte, erzähle uns noch von Reisen, die du gemacht, von Dingen, die du erlebt hast, da ist gewiß viel Spaßiges dabei.« »Gewiß wird es euch so erscheinen, aber bedenkt einmal, wie lange Zeit wohl dazu gehören würde, wollte ich euch auch nur annähernd erzählen, was ich dabei Interessantes gesehen habe. Über 95 Jahre vergingen, um es zu erleben. Wollt ihr's wirklich hören, so ist's besser, ich schreibe es für euch auf.«


Freilich, anders ist die Welt und das Leben in ihr jetzt, und doch war damals vieles besser; man lebte ruhiger, und die Menschen überreizten ihre Nerven nicht, wie heutzutage; sie waren genügsamer.

Jetzt reisen Kinder nach Italien und jammern, wenn sie groß sind, daß sie nicht in den Mond reisen können. Damals sah man den, der in Italien gewesen, als eine Art Wundertier an. In jeder Gesellschaft war er gern gesehen; denn er konnte erzählen, was fast allen neu war. Ja, glaubt es mir, jede Zeit hat ihr Gutes, wenn wir es nur verstehen und genießen lernen.[10]

Quelle:
Bismarck, Hedwig von: Erinnerungen aus dem Leben einer 95jährigen. Halle 151913, S. 3-11.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Erinnerungen aus dem Leben einer 95jährigen
Erinnerungen aus dem Leben einer 95-jährigen: Nachdruck Der Originalausgabe Von 1913 In Frakturschrift

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