Kirchgang.

[122] »Sind Sie denn schon in der Kirche gewesen?« fragte mich eines Tages der Geistliche.

Ich mußte verneinen.

»Möchten Sie denn nicht gern einmal mitgehen?« fuhr er fort.

»Das wohl!« erwiderte ich. »Man hat mich nie dazu aufgefordert.«

»Unsere Aufseherinnen sind darin zu saumselig. Sie hätten selbst darnach fragen sollen,« meinte er.

Offen gesagt hatte ich in meiner apathischen Stimmung noch garnicht daran gedacht. Jetzt regte die Frage des Pfarrers mein Interesse an. Ich[122] wollte gern eine Gefängniskirche, von denen ich soviel gehört und gelesen hatte, aus eigener Anschauung kennen lernen.

»Darf ich nicht einmal mit zur Kirche gehen«? fragte ich noch am selben Tage die Aufseherin.

»So ohne weiteres geht das nicht, weil Sie Komplizen haben. Da muß ich mich erst erkundigen, ob der Andere geht,« wurde mir zur Antwort.

Verwundert schwieg ich, und die Angelegenheit schien damit für die Beamtin einstweilen erledigt. Ich ließ sie aber, einmal angeregt, nicht wieder in Vergessenheit kommen, erkundigte mich vielmehr bald darnach beim Geistlichen, was es damit für eine Bewandtnis habe.

»Haben Sie denn Komplizen?« fragte er.

Und als ich erwiderte, daß nur ein Mann in meiner Strafsache mit inhaftiert sei, sagte er: »Das ist ganz gleich. Da dürfen Sie freilich nicht gleichzeitig zur Kirche gehen. Aber da müssen die Aufseherinnen eben nachfragen,« setzte er hinzu. »Die sind eben zu nachlässig. Ich werde mich selbst darum kümmern. Sie sind nun schon wochenlang da. Der B. wird doch sicher nicht jeden Sonntag zur Kirche gehen.«

Der Pastor erklärte mir noch, daß und warum es streng untersagt sei, daß Komplizen gleichzeitig den Gottesdienst besuchen.

»Es muß immer so eingerichtet werden, daß[123] einen Sonntag dieser, den andern jener zur Kirche geht,« schloß er.

»Wenn nun aber mehrere Komplizen sind?« fragte ich.

»Dann können sie eben gar nicht gehen. Das läßt sich nicht ändern,« meinte er.

»Das ist ihnen wohl nicht lieb?«

»Allerdings nicht. Denn auch die, die draußen nicht zur Kirche gehen, hier lassen sie sich's nur ungern nehmen.«

»Einmal saß ein Einbrecher-Konsortium hier,« erzählte er weiter. »Es waren sechs junge Männer, einer immer verwogener als der andere. Der eine davon bat mich dringend, an einem Sonntag mit zur Kirche gehen zu dürfen. Natürlich mußte ich es ihm abschlagen. Da wurde er grob.«

»Sie wollen ein Pastor sein,« schimpfte er, »und verhindern die Leute in die Kirche zu gehen, statt daß Sie sie dazu anhalten. »Ein schöner Pfarrer!« höhnte er.«

»Das war aber unverschämt! Ließen Sie sich das gefallen?« fragte ich.

»Nein, ich habe es gemeldet. Er kam in die schwarze Zelle.«

»Die schwarze Zelle? Was ist denn das?« fragte ich interessiert.[124]

»Kümmern Sie sich nicht darum. Sie kommen nicht hinein,« antwortete er.

Ich habe mich aber später doch an anderer Stelle näher darüber zu informieren gesucht. –

Der Geistliche hatte versprochen, dafür zu sorgen, daß ich zur Kirche gehen dürfte, und er hielt Wort. Schon am nächsten Sonnabend sagte mir die Aufseherin:

»Sie können morgen mit zur Kirche gehen.«

Ueber diesen Bescheid hocherfreut, sah ich der Verwirklichung meines Wunsches mit großer Spannung entgegen.

Der Sonntag kam. Wir Kirchgängerinnen standen in Reih und Glied im unteren Korridor bereit. Es gewährte einen eigentümlichen Anblick, all diese verschiedenen Gesichter zu sehen, wie sie mehr oder weniger andächtig, mehr oder weniger zerknirscht oder betrübt, Alle gleich gekleidet, wie Soldaten uniformiert, im gestreiften Leinenkittel, die unförmige schwarze Tuchjacke darüber und mit einer blauleinenen Schürze zusammengehalten an der Wand entlang standen. Während aber einige bitterlich weinten und schluchzten, andere blöde und stumpfsinnig, oder doch ernst und betrübt vor sich niederblickten, schauten wieder andere sehr heiter drein, suchten auch wohl sich umsehend mit den Nachbarinnen ein Gespräch zu beginnen. Erstere sowohl wie letztere wurden scharf getadelt.[125]

»Sie ungezogenes Ding! Wissen Sie nicht, wie Sie sich zu betragen haben, wenn Sie zur Kirche gehen? Sie nehme ich nicht wieder mit.«

So schalt die in der Kirche diensthabende Aufseherin eine gar zu Unterhaltungsbedürftige.

»Warum heulen Sie denn so?« tadelte sie eine schmerzvoll Weinende. »Das hätten sie früher bedenken sollen, ehe Sie so was machten. Jetzt nützt das doch nichts mehr.«

Endlich wurde das Zeichen zum »Abrücken« gegeben. Wir marschierten in Abständen eine nach der anderen die Treppe hinauf über Gänge nach der Gefängniskirche. Auf allen Gängen und Treppen aber, besonders bei den Ausgängen und Treppenbogen standen wachthabende Vorgesetzte und ließen die Leute an sich vorbeidefilieren. An der Treppe, wo von der anderen Seite die männlichen Gefangenen vor uns einmarschiert waren, standen Aufseher der Männerabteilung Wache.

Jetzt betraten wir eine nach der anderen den letzten Vorraum. Man hatte uns zuvor bedeutet, unsere Gesangbücher in den Zellen zurückzulassen. Hier standen zwei Aufseher bereit und reichten einer jeden ein Gesangbuch, die in Massen auf einer Tafel aufgestapelt lagen.

Nun noch ein paar Stufen hinunter ins Gotteshaus. Wenn ich aber sagen sollte, daß der erste[126] Eindruck auf mich ein überwältigender gewesen wäre, dann müßte ich die Unwahrheit berichten. Im Gegenteil glaubte ich zunächst noch gar nicht, mich in der Kirche zu befinden. Mit Erstaunen und Befremden gewahrte ich die Holzverkästelung, die den Hauptraum einnahm und sich in unschöner Weise jeder Umschau hinderlich in den Weg stellte. Bald sollte ich den Zweck dieser sonderbaren Einrichtung, sowie ihr Inneres kennen lernen.

Der Aufsichtsbeamte, der auch hier Wache hielt, bedeutete jede Ankommende, in einen Quergang einzutreten. Hier schloß er die Tür einer der Einzelzellen auf, in der wir dann eingesperrt wurden. Diese Zellen befinden sich zwar dicht aneinander, doch ist jeder Insasse durch die abschließenden dicken Holzwände von dem anderen streng gesondert, den er weder sehen, noch hören kann. Die vorderen Kirchzellen nehmen die Männer, die hinteren die Frauen ein.

Eine solche Kirchzelle ist gerade so groß, daß ein Mensch bequem darin sitzen oder stehen kann. Der Breite nach wird sie fast gänzlich von einer Holzbank eingenommen, nach oben ist sie offen. Sobald sich der Gefangene niedergesetzt hat, wird die Türe abgeschlossen, so daß der Insasse nicht selbständig hinauskann.

Auch mich hatte man natürlich in einer solchen[127] abgesonderten Zelle untergebracht. Darin saß ich nun und schaute mich vergeblich nach einer Kanzel um. Auf einer Empore, die links und rechts von uniformierten Aufsehern und Gerichtsdienern flankiert war, sah man eine kleine Orgel mit ziemlich unscheinbarem Prospekt. Neben der Orgel, in der Mitte der Empore war eine Art Lesepult angebracht, der Platz des Predigers, der ihm als Kanzel dienen mußte. Ein kleiner, einfach, aber würdig gehaltener Altar war zwar vorhanden, ich bekam ihn jedoch erst später zu Gesicht. Aus den hinteren Kirchzellen hatte man außer den Emporen der Aufsichtsbeamten nur kahle Rückwände vor sich. Ein keineswegs trostreicher Anblick.

Die Gottesdienstordnung ist in der Hauptsache die selbe wie draußen in der Freiheit. Der ältere Geistliche hielt eine ergreifende Karfreitagspredigt, die in solcher Umgebung doppelt die Seelen bewegen mußte.

Nachdem der Chorgesang verstummt, das Schlußgebet gesprochen war, änderte sich plötzlich wieder das weihevolle Bild. Die uniformierten Beamten verließen säbelklirrend die Empore. Man hörte das hastige Schließen der Einzelzellen über uns, die der Empore gegenüber gleichfalls von männlichen Gefangenen besetzt waren, deren geräuschvolles Abrücken man deutlich vernehmen konnte. Bald wurden auch[128] unsere Zellen eine nach der anderen aufgeschlossen. Die führende Aufseherin, die während des Gottesdienstes, den meisten unsichtbar in einem der Gänge sitzt, erschien wieder, um uns zurückzugeleiten. In der Kirche ist ihr Amt nicht schwer, da die männlichen Beamten von der Empore aus alles übersehen und ausschließlich den Wachtdienst besorgen. Sie gehen in voller Gala-Uniform, während die Aufseherin in der gewöhnlichen Tracht, allerdings ohne die sonst übliche weiße Schürze erscheint. Nur zwei der Beamtinnen pflegten zu diesen Kirchgängen schwarze Glacéhandschuhe anzuziehen.

Nach allem muß ich sagen, daß die Gottesdienste in der Gefängniskirche zu D. wohl in hohem Grade mein Interesse erweckt, weit weniger dagegen einen feierlichen Eindruck auf mich hervorgebracht haben. Dazu waren, trotz mancher wirklich ergreifenden Predigt die umgebenden Verhältnisse keineswegs angetan.

Quelle:
Hoff, Marie: Neun Monate in Untersuchungshaft. Erlebnisse und Erfahrungen, Dresden, Leipzig 1909, S. 122-129.
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