17. Kapitel

[156] Fortsetzung des Vorigen: »Zeichnen« im Sinne der Seelensprache


Aus der im vorigen Kapitel enthaltenen Schilderung wird der Leser den Eindruck gewonnen haben, daß die Prüfungen, die mir durch den Denkzwang auferlegt worden sind, das Maß der Anforderungen, die sonst an das menschliche Leistungsvermögen und an die menschliche Geduld gestellt zu werden pflegen, in vielen Beziehungen weit hinter sich gelassen haben. Um ganz wahr zu sein, habe ich aber hinzuzufügen, daß dabei auf der andern Seite doch auch manche Erscheinungen hervorgetreten sind, in denen wenigstens zu gewissen Zeiten eine Art von Ausgleich für die mir widerfahrene Unbill gefunden werden durfte. Abgesehen von den Aufschlüssen über übersinnliche Dinge, die mir im Laufe der Jahre zu Theil geworden sind und die ich jetzt um kein Gold der Erde mehr aus meinen Erinnerungen streichen möchte, habe ich hier hauptsächlich die geistig anregende Wirkung im Auge, die der Denkzwang auf mich geübt hat. Gerade das zusammenhanglose Hineinwerfen der das Kausalitätsverhältniß oder irgendwelche andere Beziehung ausdrückenden Konjunktionen in meine Nerven (»warum nur«, »warum weil«, »warum weil ich«, »es sei denn«, »wenigstens« u.s.w.) hat mich zum Nachdenken über viele Dinge genöthigt, an denen der Mensch sonst achtlos vorüberzugehen pflegt und dadurch zur Vertiefung meines Denkens beigetragen. Jede Vornahme irgend einer menschlichen Thätigkeit in meiner Nähe, die ich sehe, jede Naturbetrachtung im Garten oder von meinem Fenster aus regt gewisse Gedanken in mir an; höre ich dann in zeitlichem Anschlusse an diese Gedankenentwickelung ein in meine Nerven hineingesprochenes »Warum nur« oder »warum weil«, so bin ich dadurch genöthigt oder mindestens in ungleich höherem Grade, als andere Menschen veranlaßt, über den Grund oder Zweck der betreffenden Erscheinungen nachzudenken.

Um einige Beispiele aus ganz gewöhnlichen Vorkommnissen zu entnehmen, sei erwähnt, daß gerade in den Tagen, während ich diese Zeilen niederschreibe, ein neues Haus im Anstaltsgarten erbaut und in einem der dem meinigen benachbarten Zimmer ein Ofen umgesetzt wird. Sehe ich den betreffenden Arbeiten zu, so kommt natürlich unwillkürlich der Gedanke: der Mann oder die mehreren Arbeiter machen jetzt Dies oder Jenes; wird nun gleichzeitig mit der Entstehung dieses Gedankens ein »warum nur« oder »warum weil« in meine Nerven hineingesprochen, so bin ich dadurch in einer nur schwer abweisbaren Weise[157] genöthigt, mir über Grund und Zweck jeder einzelnen Hantirung Rechenschaft zu geben. Aehnliches hat sich im Laufe der Jahre natürlich tausendfach ereignet; namentlich werden durch das Lesen von Büchern und Zeitungen immer neue Gedanken angeregt. Die gleichzeitig stattfindende Nöthigung, mir für jeden Vorgang, für jede Empfindung und für jede Gedankenvorstellung das Kausalitätsverhältniß zum Bewußtsein zu bringen, hat mich nach und nach in Betreff fast aller Naturerscheinungen, in Betreff fast aller Aeußerungen der menschlichen Thätigkeit in Kunst, Wissenschaft u.s.w. zur Einsicht in das Wesen der Dinge geführt, als sie derjenige zu erlangen pflegt, der wie die meisten Menschen es nicht der Mühe werth erachtet, über die gewöhnlichen Erfahrungen des täglichen Lebens nachzudenken. In vielen Fällen, namentlich bei Empfindungsvorgängen ist es gar nicht leicht, auf die Frage nach dem Grunde (»Warum nur«) eine passende, den menschlichen Geist befriedigende Antwort zu finden, ja in den meisten dieser Fälle, z.B. für die Sätze »Diese Rose riecht schön«, oder »Dieses Gedicht hat eine herrliche poetische Sprache«, oder »Dies ist ein vortreffliches Gemälde«, oder »Dieses Musikstück ist überaus melodiös« müßte eigentlich die Frage nach einem besonderen Grunde selbst als inept empfunden werden. Gleichwohl wird die Frage durch die Stimmen nun einmal in mir angeregt und dadurch für mich ein Anstoß zur Denkthätigkeit gegeben, dem ich mich, da das fortwährende Denken zu mühsam wird, wie gesagt, erst nach und nach wenigstens theilweise zu entziehen gelernt habe. Derjenige, der an eine göttliche Weltenschöpfung glaubt, kann natürlich als letzte Ursache aller Dinge und alles Geschehens den Grund anführen, »weil Gott die Welt geschaffen hat.« Zwischen dieser Thatsache und den einzelnen Erscheinungsvorgängen des Lebens liegt aber eine unendliche Zahl von Mittelgliedern, deren sich wenigstens theilweise bewußt zu werden in vielen Fällen ein hervorragendes Interesse gewährt. Besonders viel habe ich mich, angeregt durch den Denkzwang, mit etymologischen Fragen beschäftigt, die auch schon früher in gesunden Tagen mein Interesse in Anspruch genommen haben.

Am Schlusse dieser Ausführung möge noch ein Beispiel Platz finden, das vielleicht zu besserer Veranschaulichung des Gesagten beitragen kann. Ich wähle einen sehr einfachen Vorgang, nämlich den, daß mir ein mir bekannter Mensch Namens Schneider begegnet. Sehe ich den Betreffenden, so entsteht natürlich unwillkürlich der Gedanke, »Der Mann heißt Schneider« oder »Das ist Herr Schneider.« Nach der Bildung dieses Gedankens ertönt nun also etwa in meinen Nerven ein »Warum nur« oder »Warum weil«. Würde eine solche Frage in diesem Zusammenhang im gewöhnlichen menschlichen Verkehr von einem Menschen an den Anderen gerichtet werden, so würde die Antwort wahrscheinlich lauten: »Warum! Was ist das für eine törichte Frage, der Mann heißt nun einmal eben Schneider.« In dieser Weise einfach abwehrend aber können oder konnten wenigstens meine Nerven sich den[158] betreffenden Fragen gegenüber in der Regel nicht verhalten. Ihre Ruhe ist durch die einmal aufgeworfene Frage, warum der Mann Herr Schneider sei oder Herr Schneider heiße, aufgestört. Die in diesem Fall gewiß sehr sonderbare Frage nach dem Grunde beschäftigt sie in Folge dessen – namentlich bei ihrer öfteren Wiederholung – unwillkürlich auf so lange, bis es etwa gelingt, eine andere Ablenkung für das Denken zu gewinnen. So werden denn meine Nerven vielleicht zunächst auf die Antwort geführt: Ja, der Mann heißt eben Schneider, weil sein Vater auch Schneider geheißen hat. Bei dieser trivialen Antwort vermögen jedoch meine Nerven keine wirkliche Beruhigung zu finden. Es schließt sich daher ein weiterer Denkprozeß an über die Gründe, warum überhaupt Namensbezeichnungen unter Menschen eingeführt sind, über die Formen, in denen sie bei verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten aufgetreten sind und über die verschiedenen Beziehungen (Stand, Abstammung, besondere körperliche Eigenschaften usw.), denen sie vorzugsweise entlehnt sind. Auf diese Weise wird eine höchst einfache Wahrnehmung unter dem Drucke des Denkzwangs zum Ausgangspunkte einer sehr umfänglichen Gedankenarbeit, die in den meisten Fällen nicht ganz ohne Früchte bleibt.

Eine weitere interessante Erscheinung, die mit dem Strahlenverkehr, der Ursache des Denkzwangs, zusammenhängt, ist das sogenannte »Zeichnen«, dessen ich bereits in Kap. XI flüchtig Erwähnung gethan habe. Wahrscheinlich weiß kein Mensch außer mir und ist es namentlich auch der Wissenschaft unbekannt, daß der Mensch alle Erinnerungen, die in seinem Gedächtnisse noch haften, vermöge der den Nerven davon verbliebenen Eindrücke, gewissermaßen wie Bilder in seinem Kopfe mit sich herumträgt. Diese Bilder sind in meinem Falle, wo die Beleuchtung des inneren Nervensystems durch Strahlen geliefert wird, einer willkürlichen Reproduktion fähig, in der eben das Wesen des Zeichnens besteht. Oder wie ich den Gedanken früher (in meiner kleinen Studie XLIX vom 29. Oktober 1898) in anderer Form ausgedrückt habe:

»Das Zeichnen (im Sinne der Seelensprache) ist der bewußte Gebrauch der menschlichen Einbildungskraft zum Zwecke der Hervorbringung von Bildern (und zwar vorwiegend Erinnerungsbildern) im Kopfe, die dann von Strahlen eingesehen werden.«1 – Ich vermag von allen[159] Erinnerungen aus meinem Leben, von Personen, Thieren und Pflanzen, von sonstigen Natur- und Gebrauchsgegenständen aller Art durch lebhafte Vorstellung derselben Bilder zu schaffen mit der Wirkung, daß dieselben in meinem Kopfe oder auch je nach meiner Absicht außerhalb desselben, sowohl für meine eigenen Nerven, als für die mit denselben in Verbindung stehenden Strahlen da, wo ich die betreffenden Dinge wahrgenommen wissen will, sichtbar werden. Ich vermag das mit Wettererscheinungen und anderen Vorgängen zu thun; ich kann es beispielsweise blitzen oder regnen lassen – eine besonders wirksame Zeichnung, da alle Wettererscheinungen und namentlich der Blitz den Strahlen als Aeußerungen der göttlichen Wundergewalt gelten; ich kann etwa ein Haus unterhalb der Fenster meiner Wohnung brennen lassen usw. usw., Alles natürlich nur in meiner Vorstellung, so jedoch, daß die Strahlen, wie es mir scheint, davon den Eindruck haben, als ob die betreffenden Gegenstände und Erscheinungen wirklich vorhanden wären. Ich kann mich selbst an anderer Stelle, als wo ich mich wirklich befinde, z.B. etwa während ich am Klavier sitze, gleichzeitig als in weiblichem Aufputz im Nebenzimmer vor dem Spiegel stehend »zeichnen«; ich kann, was aus den in Kap. XIII angegebenen Gründen von großer Wichtigkeit für mich ist, wenn ich in der Nacht im Bette liege, mir selbst und den Strahlen den Eindruck verschaffen, daß mein Körper mit weiblichen Brüsten und weiblichem Geschlechtstheil ausgestattet sei. Das Zeichnen eines weiblichen Hinteren an meinen Körper – honny soit qui mal y pense – ist mir so zur Gewohnheit geworden, daß ich dies beim Bücken jedesmal fast unwillkürlich thue. Das »Zeichnen« in der vorstehend entwickelten Bedeutung glaube ich hiernach mit Recht im gewissen Sinne ein umgekehrtes Wundern nennen zu dürfen. Gerade so wie durch Strahlen namentlich in Träumen gewisse Bilder, die man zu sehen wünscht, auf mein Nervensystem geworfen werden, bin ich umgekehrt in der Lage, den Strahlen meinerseits Bilder vorzuführen, deren Eindruck ich diesen zu verschaffen beabsichtige.

Es kann sich kaum ein Mensch, der nicht alles erlebte was ich durchzumachen gehabt habe, eine Vorstellung davon machen, in wie vielen Beziehungen die Fähigkeit des »Zeichnens« für mich von Werth geworden ist. In der unendlichen Oede meines sonst so einförmigen Lebens, in den geistigen Martern, die mir durch das blödsinnige Stimmengewäsch[160] bereitet wurden, ist sie oft, fast täglich und stündlich, ein wahrhafter Trost und eine wahrhafte Erquickung für mich gewesen. Wie große Freude hat es mir gemacht, von allen meinen Reiseerinnerungen die landschaftlichen Eindrücke meinem geistigen Auge wieder vorführen zu können und zwar manchmal – bei günstigem Verhalten der Strahlen – in so überraschender Naturtreue und Farbenpracht, daß ich selbst und wohl auch die Strahlen nahezu denselben Eindruck hatten, als ob die betreffenden Landschaften da, wo ich sie gesehen wissen wollte, auch wirklich vorhanden wären.

In dem Augenblicke, wo ich diese Zeilen niederschreibe, mache ich – gleichsam als Probe – den Versuch, die Gestalt des Matterhorns am Horizont erscheinen zu lassen – da wo in Natur etwa die schöne Höhe bei Dittersbach vorhanden ist – und überzeuge mich, daß dies sowohl bei geschlossenen, als bei offenen Augen bis zu einem gewissen Grade gelingt. In ähnlicher Weise habe ich im Laufe der Jahre unzählige Male die Gestalten mir bekannter Personen in mein Zimmer hereintretend, in dem Garten spazierengehend oder wo ich sie sonst gesehen wissen wollte, »gezeichnet«2 oder Abbildungen, die ich irgendwo gesehen hatte, namentlich humoristische aus den Fliegenden Blättern usw. in meiner Nähe verkörpert. In schlaflosen Nächten habe ich mich oft dem Wunderspuk der Strahlen gegenüber gewissermaßen dadurch revanchirt, daß ich auch meinerseits alle möglichen Gestalten, ernste und heitere, sinnlich aufregende oder schreckhafte, in meinem Schlafzimmer oder in der Zelle, aufmarschieren ließ; die mir auf diese Weise verschaffte Unterhaltung war ein sehr wesentliches Mittel, um die sonst manchmal kaum erträgliche Langeweile zu überwinden. Das Klavierspielen pflege ich sehr häufig mit entsprechenden Zeichnungen zu begleiten, namentlich beim Spielen aus Klavierauszügen sozusagen eine ganze Aufführung der betreffenden Oper oder einzelner Theile derselben zu veranstalten, indem ich den Gang der Handlung, die auftretenden Personen, die Szenerie u.s.w. meinem geistigen Auge – manchmal in überraschender Deutlichkeit – vorführe. Da ich es vorzugsweise mit gewunderten Vögeln zu thun habe, so mache ich es mir nicht selten zum Vergnügen, diesen das Bild ihrer eigenen Erscheinung etwa scherzhafter Weise in der Art, daß sie von einer Katze aufgefressen werden, in meinem Kopfe aufzuzeigen usw. usw. Natürlich ist das »Zeichnen« in dem entwickelten Sinne mit einem ziemlich erheblichen Grade geistiger Anstrengung verbunden, es setzt daher eine mindestens leidliche Beschaffenheit des Kopfes und dementsprechende gute Laune voraus; sind diese Vorbedingungen vorhanden, so ist die dadurch erzeugte Freude namentlich bei möglichst getreuem Gelingen der beabsichtigten Bilder zuweilen eine recht große. Neben dem bloßen Unterhaltungszwecke hat aber das »Zeichnen« für mich auch noch eine[161] andere, kaum minder wesentliche Bedeutung. Das Sehen von Bildern wirkt, wie bereits in Kap. XI bemerkt worden ist, reinigend auf die Strahlen, sie gehen dann ohne die ihnen sonst anhaftende zerstörende Schärfe bei mir ein. Ebendeshalb sucht man auch in der Regel die durch meine Zeichnungen entstehenden Bilder durch entsprechende Gegenwunder zu verwischen; indessen behaupte ich auch hierbei meistens den Sieg, d.h. die von mir beabsichtigten Bilder bleiben bei Einsetzung meines entschiedenen Willens für mich und die Strahlen sichtbar, wennschon sie dabei häufig undeutlicher werden oder nur in verblaßter Form auftreten. Beim Klavierspielen bin ich nicht selten zum gleichzeitigen Zeichnen auch aus dem Grunde veranlaßt, daß ich nur auf diese Weise ein wenigstens annähernd korrektes Spielen ermöglichen kann, indem vermöge der mir dadurch verschafften Gunst der Strahlen die sonst eintretenden störenden Wunder eine gewisse Einschränkung erfahren.

Als einer nicht unwichtigen Begleiterscheinung des Denkzwanges habe ich endlich noch des Umstandes zu gedenken, daß alle Geräusche, die ich vernehme, namentlich solche von einer gewissen längeren Dauer, wie das Rasseln der Eisenbahnzüge, das Schnurren der Kettendampfer, die Musik etwaiger Konzerte u.s.w., die von den Stimmen in meinen Kopf hineingesprochenen Worte, sowie diejenigen Worte, in die ich meine Gedanken selbständig mit entsprechender Nervenschwingung formulire, zu sprechen scheinen.

Es handelt sich hier, im Gegensatz zu der Sprache der Sonne und der gewunderten Vögel, natürlich nur um ein subjektives Gefühl: der Klang der gesprochenen oder von mir entwickelten Worte theilt sich eben von selbst den von mir gleichzeitig empfangenen Gehörseindrücken der Eisenbahnen, Kettendampfer, knarrenden Stiefel u.s.w. mit; es fällt mir nicht ein, zu behaupten, daß die Eisenbahnen, Kettendampfer u.s.w. wirklich sprechen, wie dies bei der Sonne und den Vögeln der Fall ist. Die Erscheinung wird aber gerade an den Strahlen besonders lästig empfunden, da diese in den weltentfernten Regionen, die früher ihren Aufenthalt bildeten, wie schon früher (Kap. VII Seite 64) erwähnt, die heiligste Ruhe gewöhnt waren und von allen Geräuschen schreckhaft berührt werden. Die Sätze »wenn nur die verfluchten Eisenbahnen zu sprechen aufhörten«, »wenn nur die verfluchten Kettendampfer zu sprechen aufhörten« u.s.w. gehörten daher lange Zeit hindurch zu den stehenden Redensarten. Natürlich hatte der Gebrauch dieser Redensarten nicht den mindesten praktischen Erfolg. Die Vorstellung, als ob man, um irgend einen Uebelstand zu beseitigen, nur recht oft den Wunsch der Beseitigung in Worten auszudrücken brauche, scheint aber überhaupt in der Eigenthümlichkeit des Seelencharakters begründet zu sein. So wird auch mir, wenn man mir z.B. ein heißes Gesicht oder kalte Füße wundert, fortwährend zugemuthet, daß ich laut sagen soll: »wenn nur die verfluchte Hitze aufhörte« oder »wenn ich nur nicht an die Füße fröre,« während ich als praktischer[162] Mensch es selbstverständlich vorziehe, mir statt dessen das Gesicht kalt zu waschen oder die Füße durch Reibung zu erwärmen. Die Frage, ob jene Eigenthümlichkeit des Seelencharakters als eine Schwäche desselben zu bezeichnen sei, will mit großer Vorsicht beantwortet sein: Seelen waren nun einmal nach ihren weltordnungsmäßigen Daseinsbedingungen nur zum Genießen, nicht, wie der Mensch oder andere Geschöpfe der Erde, zu einem Handeln im praktischen Leben berufen. Für mich würde das Sprechen der Eisenbahnen und sonstigen Geräusche an und für sich eine ziemlich gleichgültige Erscheinung sein; von Bedeutung ist sie nur insofern für mich geworden, als sie sich in meiner Hand zu einem nicht zu unterschätzenden Machtmittel gegenüber den Gedankenfälschungen der Strahlen gestaltet hat. Da ich wenigstens auf kürzere Zeit bei Anspannung meiner Willensenergie die Schwingungen meiner Nerven nach Belieben unter Fernhaltung aller von außen her verursachten Schwingungen einrichten kann, so »beherrsche ich alle Geräusche,« wie der Ausdruck lautet, auf gewisse Zeit und bin also in der Lage, solange Eisenbahnen, Kettendampfer usw. vorbeifahren, gewisse Formen des Nichtsdenkungsgedankens den Strahlen aufzuzwingen und damit meinen Nerven vorübergehend Ruhe zu verschaffen.

1

Vielleicht interessirt es, auch den Fortgang der obenerwähnten »kleinen Studie«, der vom Zeichnen im menschlichen Sinne handelt, kennen zu lernen; ich lasse denselben daher nachstehend folgen:

Das Zeichnen im menschlichen Sinne ist das Darstellen irgendwelcher Gegenstände auf einer Fläche (im Gegensatz von körperlicher, plastischer Darstellung) farblos (im Gegensatz zur Malerei; oder man kann auch sagen das Malen ist ein Zeichnen in Farben),

und zwar entweder bloßes Abzeichnen (nach der Natur Zeichnen) d.h. Wiedergabe von Gegenständen, die in der Außenwelt wirklich gesehen worden sind, wobei dann also die menschliche Einbildungskraft außer Spiel bleibt,

oder ein Schaffen von Bildern in der Außenwelt noch nicht vorhandender Gegenstände, entweder zu rein künstlerischen Zwecken (Darstellung des Schönen, um sich und andere Menschen zu erfreuen) oder zu oraktischen Zwecken, d.h. um diesen Bildern entsprechende Gegenstände dann wirklich herzustellen (Modell, Bauskizze u.s.w.),

letzterenfalls also ein Walten der Einbildungskraft (Phantasie von φαινομαι; das deutsche Wort läßt den Begriff des »etwas in den Kopf oder das menschliche Bewußtsein Hineinbildens,« was außerhalb nicht vorhanden ist, deutlich erkennen, daher auch als Aeußerung einer krankhaften Einbildungskraft das »Sicheinbilden« (Vorgaukeln) von Dingen (Hoffnungen u.s.w.), die sich nicht verwirklichen lassen, als Motiven eines unzweckmäßigen, verkehrten Handelns.

Die Stylistik dieser kleinen Studie läßt natürlich etwas zu wünschen übrig, da ich, als ich die betreffenden Niederschriften machte, nicht entfernt daran gedacht habe, daß ich jemals den Wunsch hegen könnte, ihren Inhalt auch zur Kenntniß anderer Menschen zu bringen.

2

Ich lasse z.B. – ganz gleich ob bei Tage oder bei Nacht – Napoleon oder Friedrich den Großen durch mein Zimmer hindurchgehen, den Kaiser Wilhelm I. im Krönungsornate aus meinem Kleiderschranke heraustreten u.s.w. u.s.w.

Quelle:
Schreber, Daniel Paul: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. Bürgerliche Wahnwelt um Neunzehnhundert. Wiesbaden 1973, S. 163.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken.
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken: nebst Nachträgen und einem Anhang über die Frage:
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Die Serapionsbrüder

Die Serapionsbrüder

Als Hoffmanns Verleger Reimer ihn 1818 zu einem dritten Erzählzyklus - nach den Fantasie- und den Nachtstücken - animiert, entscheidet sich der Autor, die Sammlung in eine Rahmenhandlung zu kleiden, die seiner Lebenswelt entlehnt ist. In den Jahren von 1814 bis 1818 traf sich E.T.A. Hoffmann regelmäßig mit literarischen Freunden, zu denen u.a. Fouqué und Chamisso gehörten, zu sogenannten Seraphinen-Abenden. Daraus entwickelt er die Serapionsbrüder, die sich gegenseitig als vermeintliche Autoren ihre Erzählungen vortragen und dabei dem serapiontischen Prinzip folgen, jede Form von Nachahmungspoetik und jeden sogenannten Realismus zu unterlassen, sondern allein das im Inneren des Künstlers geschaute Bild durch die Kunst der Poesie der Außenwelt zu zeigen. Der Zyklus enthält unter anderen diese Erzählungen: Rat Krespel, Die Fermate, Der Dichter und der Komponist, Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde, Der Artushof, Die Bergwerke zu Falun, Nußknacker und Mausekönig, Der Kampf der Sänger, Die Automate, Doge und Dogaresse, Meister Martin der Küfner und seine Gesellen, Das fremde Kind, Der unheimliche Gast, Das Fräulein von Scuderi, Spieler-Glück, Der Baron von B., Signor Formica

746 Seiten, 24.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon