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Wohl dem, der eine glückliche Jugend hatte. Kein Frost, kein Sturm des späteren Lebens kann die Wärme verscheuchen, welche die Sonnenstrahlen einer frohen Kindheit in die menschliche Seele gesenkt haben. Solch eine Jugend ward mir und meinen Schwestern zuteil, und dafür wissen wir unsern Eltern ewigen Dank. Zu heiteren, wahren Menschen uns zu erziehen, war ihr Grundsatz. Mürrische Gesichter durften sich nicht sehen lassen. Wenn meine Schwestern mit schriftlichen Arbeiten sich zu plagen hatten, draußen aber die Sonne herauslockte, wurde ich schnell zu den Eltern geschickt: »Papa,« rief ich, »ich bin ganz allein, habe niemanden zum Spielen! Können die Schwestern nicht in den Garten kommen?« Gleich darauf tobten wir zu fünfen im Garten. Meiner Mutter, die ganz nach den Gesetzen des ancien régime erzogen war, wurden manchmal auf diese Weise die Erziehungsprinzipien von meinem Vater durchkreuzt; doch ihre geniale Natur fand sich schließlich auch in diese Erschütterungen ihrer Pläne. Selbst nachmittägliche Gänge zum Konditor – der höchste Genuß waren uns solche in Venedig zu dem berühmten Lavena – selbst diese ließ sie geschehen, wenn sie merkte, daß es meinem Vater Freude machte, uns mit Leckereien[5] zu traktieren. Mit Lernen wurden wir auf diese Weise nicht übermäßig geplagt. Unser schöner Wahnfriedgarten war unsere eigentliche Schule, unsere Kameraden Hunde, Hühner, Kanarienvögel, wohl auch Salamander und Frösche, die sich in den Kleiderschränken versteckt wohl fühlen sollten, wenn sie auch in ihrem feuchten Elemente sich sicherlich glücklicher gefühlt hätten. An das erste bedeutende Ereignis meiner Jugend, die Grundsteinlegung des Festspielhauses im Jahre 1872, habe ich nur noch eine schwache Erinnerung. Meine Familie erzählte mir, daß ich mich ausgezeichnet sittsam benommen hätte. Als man mich fragte, was ich von der Festrede verstanden hätte, antwortete ich: »Deutsche Männer, gute Männer.« Sehr früh lernten wir Sprachen. Englische Gouvernanten sorgten für Kenntnis ihres Idioms, meine Mutter hatte Mühe, uns mit dem Französischen zu befreunden, denn das Künstliche dieser Sprache hat eher etwas für Kinder Abstoßendes. Am leichtesten fiel uns Italienisch, das uns bei den wiederholten Fahrten nach Italien am lebendigsten ins Gehör fiel. Mit meinen Hauslehrern hatte ich nicht viel Glück. Eine Ausnahme bildete natürlich Heinrich v. Stein, der später auch über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt gewordene, leider viel zu früh verstorbene Freund unseres Hauses. Durch Malvida v. Meysenbug meinen Eltern empfohlen, kam er nach Beendigung seiner Universitätsstudien in unser Haus und folgte uns nach Neapel, um dort in der Villa d'Angri meine Erziehung[6] zu übernehmen. Mein Vater wünschte, daß ich möglichst bald mit dem Griechischen vertraut würde; bevor ich mich also mit dem nüchternen Latein zu beschäftigen hatte, wurde ich mit der herrlichen Sprache Homers bekannt und im Laufe der Jahre so vertraut, daß sie mir wie eine lebende lieb wurde. Mit der Sprache kam auch die Begeisterung für die Kunst und Dichtung Griechenlands, eine Begeisterung, die bis jetzt im gleichen Maße anhält. Hellas blieb für mich das verlorene Paradies. Es selbst zu schauen, scheute ich mich, denn ich fürchtete, daß das heutige Griechenland das ideale Bild, wie es in meiner Phantasie lebendig war, zerstören könnte. Leider konnte Heinrich v. Stein nicht lange bei uns weilen. Seine Habilitation an der Berliner Universität zwang ihn, Wahnfried zu verlassen, das er später nur noch während der Ferien aufsuchen konnte.
Von entscheidendem Einflusse auf meine ganze Entwicklung waren unsere wiederholten Reisen nach Italien. Des ewig grauen Himmels in Deutschland satt – ich erinnere mich, wie mein Vater die geballten Fäuste gegen die Wolken erhob und ausrief: »Diese verdammten Kartoffelsäcke!« –, zog er mit Kind und Kegel, von König Ludwig II. gütigst unterstützt, über die Alpen, um seine Sorgen und Mühen wenigstens vorübergehend zu vergessen und um Sonne, bildende Kunst und heiteres Volksleben zu genießen. Außer der königlichen Hilfe war es noch das eben eingetroffene, für damalige Zeiten sehr üppige Honorar für den Festmarsch, das[7] die Reise ermöglichte. Nach den künstlerisch wohl glänzend, aber finanziell traurig beendeten ersten Festspielen 1876 führte uns die Reise über Verona, Venedig, Bologna nach Rom und Neapel. Damals erwachte in mir die Leidenschaft für die Architektur. Wie besessen lief ich von Kirche zu Kirche, von Palast zu Palast, und die ersten Versuche, mit dem Bleistift auf dem Papiere diese Eindrücke wiederzugeben, wurden anfänglich recht unbeholfen, allmählich aber ganz annehmbar gemacht, so daß meine Eltern mit Lächeln, aber auch mit Freude dieses alle überraschende Talent beobachteten, das sich da entwickelte.
Mein Vater war während dieser Reise in bester Laune. Nur in Rom wollte es zu keiner guten Stimmung kommen. Er wurde von taktlosen Menschen viel belästigt, der Anblick der zahllosen Priester reizte ihn; dazu mochten wohl auch schlechte Nachrichten über das Defizit der Festspiele aus Bayreuth eingetroffen sein. Ein Lichtblick war nur das erste Zusammentreffen mit dem Grafen Gobineau. Wir Kinder merkten natürlich weder von dem einen noch von dem andern etwas. Wir freuten uns, wenn die liebe Gräfin Isa Voß uns zu Schokolade einlud, und freuten uns weniger, wenn wir die Fürstin Karoline Wittgenstein zu besuchen hatten. Schon die Luft in ihrem Zimmer (es wurde anscheinend nie gelüftet), der penetrante Geruch stark duftender Blumen, brennende Wachskerzen und ihr eigentümliches Aussehen wirkten erschreckend auf unsere kindliche Phantasie.[8] Nachdem sie uns zahlreiche Photographien von Antiken gezeigt hatte, mußten wir zum Abschied einzeln vor ihr niederknien, um von ihr einen recht lang ausgedehnten und mit ritualen Gebärden ausgestatteten Segen zu empfangen, was uns einerseits – da wir so etwas noch nie erlebt hatten – ängstigte, anderseits aber auch zum Lachen reizte. Ich fürchte, daß sie das leise Kichern gehört hat, denn wir wurden nie mehr eingeladen. Die Schokoladennachmittage bei der Gräfin Voß mit ihrem reichlichen Kuchensegen waren uns jedenfalls damals lieber als der polnisch-kirchliche Segen!
In Sorrent trafen meine Eltern mit Malvida von Meysenbug und mit Nietzsche zusammen. Malvida hatte einige Jahre vorher den Versuch gemacht, sich in Bayreuth niederzulassen, da sie aber das Klima nicht vertrug, zog sie nach dem Süden. Diese räumliche Trennung vermochte aber nicht die freundschaftlichen Beziehungen zu meinen Eltern zu lockern. Bei unserm langen Aufenthalte in Neapel 1880/81 weilte sie einige Zeit als Gast in der Villa d'Angri. Ihre geniale Heiterkeit war eigentlich das Band, das diese langjährige Freundschaft immer wieder von neuem knüpfte. Denn ich kann mich wohl besinnen, daß es in manchen Fragen oft große Gegensätze gab, die zu ernsten, ja heftigen Auseinandersetzungen führten, so zum Beispiel in Fragen des Christentums, ferner der Vivisektion, für die Malvida eintrat, und in politischen Dingen war sie auf dem Standpunkt von 1848 stehen geblieben, während mein[9] Vater diesen längst überwunden hatte. Für Cavour hatte sie gar kein Interesse, während ihr Männer von der Richtung Mazzinis ans Herz gewachsen waren. Als es einmal wieder zu einer heftigen Diskussion kam und Malvida sichtlich irritiert und gekränkt sich in ihr Zimmer zurückzog, sandte mich mein Vater mit Blumen und einigen heiteren Zeilen zu ihr, um sie wieder zu versöhnen. Ich höre noch ihr lautes Lachen beim Lesen dieser Zeilen, und im Gegensatz zu manchen andern Freunden, die, die heftige Art meines Vaters mißverstehend, nach solchen Ausbrüchen gekränkt sein zu müssen glaubten, kam sie sofort mit mir in den Salon zurück, wo durch ihr Erscheinen alle Wolken der Mißstimmung verscheucht wurden.
Bei meinen späteren Aufenthalten in Rom hatte ich die große Freude, mit dieser an Herz und Geist so reich begabten Frau viel zu verkehren. Ich wohnte ganz in ihrer Nähe am Kolosseum, und es verging wohl kein Tag, an dem ich sie nicht besucht hätte. Gemeinsame Lektüre regte die Konversation an; wir lasen Thukydides, Platon und andre griechische Autoren zusammen; auch mußte ich ihr öfters aus meinen soeben beendeten Opern Bärenhäuter und Herzog Wildfang vorspielen. Ihr außerordentlich stark entwickelter Sinn für Humor fand in diesen beiden Werken Befriedigung. Beim Anhören der Dichtung zu Herzog Wildfang rief sie aus: »Mein Fidi,« – dies ist mein Kindername – »da brauchst du ja gar keine Musik dazu zu schreiben. Das[10] solltest du als Schauspiel aufführen lassen.« Zwei Jahre später habe ich ihr noch die Dichtung meines Kobolds vorlesen können, und ich bin stolz darauf, aus dem Munde einer solchen Frau ehrliche Anerkennung vernommen zu haben. Die heitere Seite Malvidas kannten und weckten wohl am besten die Wahnfriedler. Andre wollten immer mehr aus ihr eine Art Egeria oder Makarie machen. Wenn diese Tonart angeschlagen wurde, kniff ich meistens aus, besonders wenn die Politik drankam. Tiefgewurzelt war in Malvida die Begeisterung für die Werke und Schriften meines Vaters; ihre Memoiren sind zu allgemein bekannt, als daß es nötig wäre, hier noch etwas darüber zu schreiben. Noch in ihren letzten Lebensjahren inszenierte sie, unterstützt von ihrer langjährigen Freundin, der Fürstin Marie v. Bülow, ein großes Wagnerkonzert in Rom, dessen Leitung ich übernahm.
Das obenerwähnte Zusammentreffen Malvidas und Nietzsches mit meinen Eltern in Sorrent war, soweit das ein Kind von sieben Jahren beurteilen kann, nicht ganz geglückt. Und daran war wohl Nietzsche schuld. Mein Vater schien verstimmt zu sein, wozu vielleicht die Anwesenheit von zwei ihm unsympathischen Freunden des Philosophen die Veranlassung war. Dieses war meines Wissens das letzte Zusammentreffen Nietzsches mit meinem Vater.
Nach Deutschland heimgekehrt, fanden meine Eltern eigentlich nur Ärger und Sorgen vor: das Defizit der[11] Festspiele 1876 zu decken fand sich niemand im großen Deutschen Reiche! Mein Vater mußte sich selbst aufmachen und, leidend und abgespannt, wie er war, Konzerte dirigieren. Diese Zeit hier zu schildern, dürfte wohl nicht nötig sein. Das ist alles in Glasenapps monumentaler Biographie zu finden. Die Kleinlichkeit und Teilnahmlosigkeit Deutschlands ist darin für alle Zeiten festgenagelt. Volle sechs Jahre mußte das Festspielhaus geschlossen bleiben! An eine Wiederholung des Rings war nicht zu denken. War es meinem Vater zu verdenken, wenn er sich aus dieser Ärgernis heraus wieder nach dem Süden sehnte? Wie oft wurden an besonders grauen und regnerischen Tagen der Gsell Fels und Bädeker herbeigeholt und Reisepläne geschmiedet! Italien, Griechenland und Ägypten waren die Ziele. Zu den beiden letzteren kam es nie, doch drei Reisen nach Italien sollten noch zu stande kommen.
Der Freigebigkeit Ludwigs II. war es zu verdanken, daß mein Vater die schon erwähnte herrliche Villa d'Angri am Posilippo in Neapel mieten konnte. Nie werde ich die jubelnde Stimmung vergessen, die uns erfaßte, als wir, dem nordischen Grau entrückt, am ersten sonndurchstrahlten Morgen aus den Räumen der Villa auf die Terrassen traten und den unbeschreiblich schönen Anblick des Golfes von Neapel genossen! Als wären alle Nachtalben in ihre Höhlen verbannt, triumphierte dort Schönheit, Freude am Leben, Unbesorgtheit! Während dieses ganzen, bis zum August währenden Aufenthaltes war mein Vater in heiterster Laune. Für uns Kinder[12] war diese Zeit das reinste Paradies. Mit unglaublicher Energie schuf meine Mutter unter phantastischen, echt neapolitanischen Verhältnissen einen wohlgeordneten Hausstand. Wer Neapel kennt, weiß, was dazu gehört. Diener und Kammerjungfer waren zwar mitgekommen, konnten aber keine große Hilfe sein, da sie kein Italienisch verstanden. Das übrige Personal mußte aus Neapel beschafft werden. Doktor Schrön, der deutsche Arzt, war dabei behilflich. Auch eine italienische Lehrerin wurde engagiert, die meinen Schwestern und mir die Sprache und Literatur beibringen sollte. Sie tat dies mit viel Gutmütigkeit, denn es stellte sich bald heraus, daß sie von Dante nicht mehr wußte als wir Kinder! Dafür stickte sie schön, und diese Tugend wußte meine Mutter, besonders im Hinblick auf den 22. Mai, zu stärken.
In diese Frühjahrszeit 1881 fällt die Bekanntschaft mit dem russischen Maler Paul v. Joukowsky, der durch seine hohe Kultur, vornehmen Formen und spontangenialen Einfälle Herz und Geist meiner Eltern für sich einnahm. Nebst Heinrich v. Stein und Malvida war er der meistgeladene Gast; er begann ein Porträt meiner Mutter zu malen, das, nach ungefähr vierzig Sitzungen, auch wirklich gut gelang und jetzt in Wahnfrieds Saal hängt. Sein Diener Pepino, ein richtiger Neapolitaner, mußte oft abends auf der Terrasse zur Mandoline Volkslieder singen, besonders die schönen älteren Liebesgesänge, die leider immer mehr verschwinden, verscheucht durch Operettenschmarren, die selbst ein so gesundes, unverdorbenes[13] Empfinden, wie es im italienischen Volke lebt, zu verseuchen droht. Mein Vater hatte wirkliche Freude an diesen Volksmelodien; es lebt in den südlichen Teilen Italiens immer noch ein Rest griechischen Geistes. Wem wären die Gesänge des Volkes bei der Wein- oder Olivenlese nicht als etwas ganz Besonderes, Zauberisches aufgefallen?
Von sonstigen Freunden Wahnfrieds möchte ich noch den Fürsten Rudolf Liechtenstein erwähnen; auch Arnold Böcklin kam, dessen farbenglühende Kunst auf meinen Vater starke Wirkung tat. – Der unglückliche Joseph Rubinstein, mit der Anfertigung des Parsifalklavierauszuges beschäftigt, gehörte weniger zu den anziehenden Erscheinungen des Freundeskreises. Er zeigte meiner Mutter und uns Kindern deutlich, daß er nur um unsres Vaters willen anwesend und daß die Familie eigentlich eine unnötige lästige Beigabe sei. Meine Mutter ertrug dies ruhig, weil sie das Gute und Bedeutende in ihm erkannt hatte; uns Kindern dagegen wurde er so antipathisch, daß es der weisen mütterlichen Mahnungen bedurfte, um uns von lauten Mißfallsbezeigungen zurückzuhalten. Ich nannte ihn »unglücklich«. Das war er wirklich. Er bekannte meinem Vater öfters, daß er unter seiner Rasse leide: ein Kundrynaturell, das sich nach Erlösung sehnte. Diese glaubte er durch meinen Vater und seine Kunst zu finden. Bald nach dem 13. Februar 1883, des helfenden Beschützers beraubt, an sich selbst verzweifelnd, nahm er sich das Leben. Das Gefühl[14] der Abneigung, das wir Kinder gegen ihn empfunden hatten, wandelte sich begreiflicherweise in Mitleid, als wir später fähig wurden, in seine zerrissene Seele Einblick zu gewinnen. Wie die Komik sich gern zur Tragik gesellt, so hatte selbst er, der Spröde, Abwehrende, das Herz eines weiblichen Wesens erobert: unsre englische Gouvernante verliebte sich in ihn. Wenn abends sein Mantel im Vorplatz hing, umarmte sie diesen, ungeachtet, ob wir freche kleine Bande herumstanden und sie verspotteten. Im Gegenteil, das bestärkte sie nur in ihren Gefühlen, denn sie rief zu meiner Schwester: »O Eva, tell him, that I love him!« Meine Schwestern hatten aber doch nicht den Mut, den Liebesboten zu spielen, und es blieb bei der Mantelumarmung.
Der Höhepunkt des Neapler Aufenthaltes war die Feier des 22. Mai. Monatelang hatte meine Mutter Vorbereitungen getroffen, um den Geburtstag des Meisters heiter anregend zu gestalten. Für diese Gelegenheit dichtete sie alljährlich ein Maifestspiel, das wir fünf Kinder darzustellen hatten. Sie richtete sich dabei ganz nach unserm Alter und unsrer Begabung. Ich kam gewöhnlich mit einem recht bescheidenen Part davon, denn mit dem Auswendiglernen haperte es bei mir meistens, selbst später noch während der Gymnasiumszeit. Nur Musik behielt ich schnell. Die zu diesen Huldigungsstücken gehörende Musik stellte sie zusammen, und einem der anwesenden Musiker vertraute sie die Ausführung an. Auch Einakter von Hans Sachs und Lope de Vega[15] wurden dargestellt. Den Schluß des Abends bildete eine Kahnfahrt an den Ufern des Posilippo entlang.
Bis zum August weilten wir in der Villa d'Angri. Touren nach Pompeji, Capri, Sorrent, Pozzuoli und auf den Vesuv brachten Abwechslung in das gleichmäßig ruhig verlaufende Leben. Mein Vater arbeitete am Parsifal, aus dem er einige Bruchstücke einer kleinen Hörerschar vorführte. Meine Schwestern bekamen den Chor aus der höchsten Höhe: »Der Glaube lebt, die Taube schwebt« einstudiert und errangen sich damit das Lob des Meisters. Von Neapel führte uns die Reise nach Siena. Auch dort hatte meine Mutter wieder mit glücklichem Griff eine Villa gemietet und eingerichtet, Villa Torre Fiorentina, und alles so vorbereitet, daß sich gleich die größte Behaglichkeit einstellte. Es folgten Wochen voll Glück und Frieden. Welch ein Kontrast nach den grandiosen Effekten des neapolitanischen Meerbusens, nach dem tollen Trubel der Straßen Neapels: nun diese Anmut und Stille, diese sanften Farben, lieblich heiteren Hügel, nichts Wildes, nichts die Phantasie Aufregendes. Ein wirkliches Idyll nach einem Drama. Ich möchte sagen, ein Hans Thoma-Bild nach einem Böcklin. Herrlich paßte in diese wohlige Stimmung ein längerer Besuch meines Großvaters Liszt, der selbst bei seiner Rückkehr nach Rom berichtete, er habe die glücklichsten Wochen seines Lebens bei Wagners verbracht. Nie habe er den Meister so heiter gesehen.
Wir Kinder hingen alle leidenschaftlich an unserm[16] Großvater. Seine überreiche Güte, sein originelles Eingehen auf die Eigenart eines jeden seiner Enkel hatte etwas ungemein Anziehendes für uns. Seine An kunft brachte uns außerdem stets einen freien Tag ein, was ja bei jugendlichen Gemütern nie seine Wirkung verfehlt. Diesmal war er allein gekommen, der übliche Schwarm von Schülern war ferngehalten worden. Es konnte daher nichts weltlich Störendes den trauten Verkehr der Familie stören. Selbst die Fürstin Wittgenstein ließ meiner Mutter Ruhe mit ihren sonst zur Gewohnheit gewordenen Mahnbriefen an diejenigen, bei denen Liszt zu Gaste war, in denen stand, was er essen dürfe, was nicht, wen man einladen dürfe, wen nicht, worüber man sprechen solle, worüber nicht. Als er einmal gemahnt wurde, er solle ja keinen Kognak trinken, antwortete er: »Man sagt, daß Wein die Milch des Alters sei, nun gut, dann ist Kognak die Sahne des Alters!«
Einen echt Lisztschen Zug kann ich hier einfügen, da er meines Wissens bisher noch nicht in der Öffentlichkeit bekannt geworden ist. Bei einer reichen Finanzbaronin in Paris eingeladen, nahm er, als nach dem Diner der Kaffee serviert wurde, den Zucker mit den Fingern aus der Zuckerdose. Die Hausfrau sah mit Unwillen, daß er nicht die Zuckerzange benützt hatte, und rief dem Diener zu: »Füllen sie die Zuckerdose neu auf!« Liszt tat, als habe er nichts gehört, trank seinen Kaffee, ging dann zum geöffneten Fenster und warf die kostbare Taste hinaus. Zu der Baronin sagte er aber auf[17] ihre Klage über ihr schönes Objekt: »Wenn Sie nicht Zucker aus einer Zuckerdose nehmen können, die ich mit der Hand berührt habe, werden Sie wohl erst recht nicht aus einer Tasse trinken können, die ich mit den Lippen berührt habe.« Deutlich offenbart sich seine Herzensgüte aus folgendem Begebnis. Eine Pianistin veranstaltete in Jena ein Konzert. Um mehr Publikum anzuziehen, ließ sie verkünden, sie sei Lisztschülerin. Das Unglück wollte, daß gerade am Tage ihres Konzerts Liszt von Weimar nach Jena kam. Klopfenden Herzens eilte die Künstlerin zu ihm und gestand ihm ihre Lüge. »Kommen Sie, Fräulein,« entgegnete Liszt, »setzen Sie sich an das Klavier und spielen Sie mir Ihr heutiges Konzertprogramm vor.« Sie folgte seinem Geheiß. Zwei volle Stunden korrigierte er nun, was ihm fehlerhaft dünkte, am Schlusse sagte er: »So, Kindchen, jetzt können Sie sagen, daß Sie Lisztschülerin sind.«
Meine Mutter hat vor Jahren eine Schrift über ihren Vater veröffentlicht, die wohl am besten von allen bisher erschienenen Publikationen das Wesen dieser faszinierenden Persönlichkeit wiedergibt. Drei ganz entgegengesetzte Naturen waren in ihm vereinigt. Vereinigt ist eigentlich nicht das richtige Wort. Sie standen in scharfen Kontrasten nebeneinander. Eine Franziskus-, eine Dionysos- und eine Wotannatur, die sich am klarsten in drei seiner Kompositionen wiederspiegeln: dem Dreizehnten Psalm, dem Mephistowalzer und dem ersten Satze der Faustsymphonie. Diese Kontraste konnten begreiflicherweise[18] philiströse und pharisäische Naturelle nicht verstehen. Daher auch der erbitterte Kampf gegen Liszts Kunst, der selbst heute noch nicht aufgehört hat. Umso mehr freut es mich, bei meinen Konzerten eine wachsende Begeisterung des nicht beeinflußten Publikums für die symphonischen Dichtungen wahrzunehmen, sogar in Städten wie Berlin und Wien, wo am stärksten von den eben erwähnten Elementen dagegen gewirkt worden ist. Die thematische Kraft dieser Werke läßt sich eben nicht unterdrücken. Und auf diese Gestaltungskraft kommt es nun doch einmal in erster Linie an. Mit Kontrapunktik und Instrumentationskünsten allein schafft man nicht Werke von bleibendem Werte.
Man muß aber auch Liszt zu dirigieren verstehen. Ein Nurmusiker wird kein Verhältnis zu diesen Werken haben. Man muß dichterisch mitempfinden. Es muß stets wie eine geniale Improvisation wirken. Die Fermaten über Pausen darf man nicht buchstäblich nehmen, sondern man muß sie als Zeichen zum Nichttaktschlagen ansehen. Tempo rubato im guten Sinne. Wie leicht kann zum Beispiel der erste Teil des Tasso zerrissen werden, und daher langweilig wirken, wenn der Dirigent da nicht etwas frei schaltet und geschickt über Pausen hinweghilft! Gerade diese Komposition habe ich glücklicherweise als Knabe von ihm am Klavier gehört. Außerdem noch Mazeppa (auf zwei Klavieren mit Reisenauer) und die Dantesymphonie. Da empfand man nirgends Leeren oder Lücken.[19]
Damals in Siena erinnere ich mich einiges von Beethoven und Chopin gehört zu haben. In Venedig bei seiner letzten Begegnung mit meinem Vater spielte er Beethovens Adur-Symphonie. Eines auf uns Kinder unbeschreiblich heiter wirkenden Intermezzos bei dieser Vorführung möchte ich doch hier gedenken. Während Liszt nämlich, umgeben von meiner Mutter, der Fürstin Hatzfeld und einigen Freunden, im Salon spielte, hörten wir Kinder im Nebenzimmer zu. Plötzlich, bei dem Scherzo, sehen wir unsern Vater eintreten und unbemerkt von Liszt und den Zuhörenden in der geschicktesten und anmutigsten Weise tanzen. Man hätte meinen können, einen Jüngling von zwanzig Jahren vor sich zu sehen. Wir hatten Mühe, unsre Freude an diesem Tanze nicht durch lautes Lachen kundzutun! Eines ist gewiß: Beethoven konnte sich nicht schöner sein Scherzo getanzt denken, und Isadora Duncan kann sich mit Recht auf meinen Vater berufen, wenn man ihr zum Vorwurf macht, daß sie Beethoven tanze.
Die Verehrung Liszts für meinen Vater war so tief, sein Verständnis für das so oft verkannte Wesen so groß, daß selbst Scherze wie diese nicht übelgenommen wurden: Nach einer kirchlichen Komposition, die mein Großvater vorspielte – ob es etwas aus dem Christus war, kann ich mich nicht mehr entsinnen –, rief mein Vater: »Dein lieber Gott macht aber viel Spektakel!« – Seine Enkelkinder liebte Liszt innig. Sigius – so nannte er mich – durfte immer zu ihm ins Zimmer. Ich kramte dann[20] gern in seinem Papierkorb herum, wo Notenpapier und seltene Briefmarken meine Beute wurden. An einem großen Marienfesttage nahm er mich in Venedig in die Kirche mit. Wir saßen in dem schönen alten Chorgestühl der »Frari«. Das Hochamt begann, da ertönten von der Orgel her die gemeinsten Galopps und Polkas, wie das damals in Italien Mode war. Bei der Wandlung konnte man das schöne Lied: »Ich möchte deine schwarzen Augen küssen« hören. Kurz, es ging auf dem ziemlich defekten Orgelkasten recht kirchweihartig zu. Ich merkte, wie mein Großvater unruhig wurde, er gab mir ein Gebetbuch und empfahl mir, darin zu lesen. Kaum war die Feier zu Ende, da nahm er mich heftig bei der Hand und eilte mit mir hinaus. Kurz vor dem Portal stürzte der naive Organist auf ihn zu und fragte ihn weiß Gott, wie ihm seine Musik gefallen habe. Liszt antwortete: »Pour vous dire la vérité: c'était une saleté, une cochonnerie.« Flugs rannte der sichtlich überraschte Polkaspieler über die nächste Brücke davon. Während unsrer Heimfahrt in der Gondel aber wiederholte mein Großvater wohl ein dutzendmal: »Saleté, cochonnerie.« Es war ihm peinlich, daß ich von einem kirchlichen Feste einen solchen gemeinen Eindruck haben konnte.
Ich gab ihm öfters zu Heiterkeit Anlaß. Bei einem Spaziergang im Bayreuther Hofgarten fiel ihm einst auf, daß ich, damals ein Bub von sechs Jahren, deutliche Zeichen von schlechter Laune gab. Auf seine Frage, was ich hätte, antwortete meine Mutter: »Er ärgert sich,[21] daß er einen eleganten Anzug anhat. Er will immer so aussehen wie die Straßenjungen!« Und in Venedig überraschten er und meine Eltern mich, als ich am Klavier saß und die Begleitung zur Schlummerarie aus der Stummen von Portici spielte und die Melodie dazu pfiff. Auch das Sextett (oder ist es ein Septett) aus der Lucia von Donizetti, das ich wiederholt mit Gefallen am Marktplatz gehört hatte, ward von mir in dieser »pfiffigen« Weise reproduziert. Der Lohn, vielleicht auch die Beschämung dafür war, daß danach sich Liszt hinsetzte und das eben Vernommene in seiner Weise wiedergab, mit einer allerdings etwas üppigeren Begleitung, als ich und auch Auber und Donizetti es ausgestattet hatten. Von allen Pianisten, die ich später hörte, hat eigentlich, mit Ausnahme von Sophie Menter, nur Mottl auf mich einen ähnlichen Eindruck gemacht, und zwar nicht etwa durch die Technik – Mottl wollte gar kein Pianist sein –, sondern durch das Magnetisch-Zauberische, Dämonische, was sich aus den Fingerspitzen auf die spröden Klaviertasten übertrug. Die hinreißende Wirkung auf das Publikum läßt sich nur durch solch einen Zauber erklären. Technik allein begeistert wohl Philister, aber nicht den nach tieferen Wirkungen sich sehnenden naiven Hörer.
An der Breite, mit der ich mich in diesen kurzen Erinnerungen mit meinem Großvater befasse, werden die Leser wohl merken, mit welcher Liebe ich an dieser Persönlichkeit hänge. Bei Gelegenheit des Berichtes über[22] jenen Besuch in Siena wollte ich gern alles zusammenfassen, was in meinem Gedächtnisse haften geblieben ist. Es verbleibt nur noch, des letzten Aufenthaltes Liszts in Bayreuth im Jahre 1886 zu gedenken. Er war zur Hochzeit meiner Schwester Daniela mit Henry Thode gekommen, reiste dann zu Bekannten, wo er sich den Keim zu seiner letzten Krankheit holte, und traf schwerleidend zu den Festspielen ein, um die erste große selbständige künstlerische Tat seiner Tochter, die Aufführung des Tristan zu erleben. Keine Mahnung der Umgebung konnte ihn davon abhalten, sich nach dem Festspielhaus fahren zu lassen. Die Behauptung mancher Biographen, meine Mutter habe ihn dazu gezwungen, ist falsch. Tiefergreifend für die Umgebung waren jene letzten Tage Liszts. Vater und Tochter, nach allen Trennungen eines an inneren und äußeren Kämpfen so überreichen Lebens, nun so ganz einander gegeben. Kein Störenfried! Alles wurde ferngehalten. Wohl kamen Telegramme über Telegramme aus Rom an, worin die Fürstin Wittgenstein meiner Mutter sehr erregte Anweisungen gab, damit ja nichts versäumt werde, um Liszts Seele vor den Krallen des Teufels zu bewahren. Sie muß entschieden Angst gehabt haben, daß unser Großvater der Hölle verfallen sei. Meine Mutter kannte ihren Vater besser, wußte daher, daß der Komponist des Dreizehnten Psalms und der Heiligen Elisabeth weder Hölle noch Fegefeuer zu fürchten hatte. Unbeachtet wanderten die Telegramme dahin, wohin sie gehörten, in den Papierkorb. Noch in[23] den letzten Stunden, die ihm verblieben, wollte er sich immer wieder aufraffen, um nach dem Festspielhaus gefahren zu werden. Das Letzte, was er sich vorlesen ließ, war Thodes Werk über den heiligen Franz von Assisi. Charakteristisch, daß gerade diese herrliche Gestalt, mit der er selbst so manche Ähnlichkeit hatte, ihn so unwiderstehlich anzog. Seine Ruhestätte fand er im Bayreuther Friedhofe. Die schlichte romanische Kapelle wurde von Gabriel Seidl (nicht, wie das irrtümlicherweise verbreitet worden ist, von mir) entworfen. Allerdings hatte auch ich eine Skizze zu einem Mausoleum angefertigt, eine Kapelle im italienischen Frührenaissancestil, an die kleine Maria dei Miracoli in Venedig erinnernd, reich mit Marmorornamentik versehen. Dem viel einfacheren, ruhigeren Entwurf Seidls wurde mit Recht der Vorzug gegeben.
Nun zurück zur chronologischen Aufzeichnung der Begebenheiten. Auf die harmonischen Wochen in Siena folgte ein Aufenthalt in Venedig. Vor der Rückkehr nach Bayreuth wurde uns Kindern in München noch die Freude gewährt, Werke unseres Vaters im Hoftheater zu hören, ja, sogar einer Separataufführung für den König durften wir einmal beiwohnen. Wir saßen mit unsrer Mutter unterhalb der Königsloge und blickten ab und zu verstohlen mit ehrfurchtsvoller Neugier zum König und meinem Vater hinauf. Es wurde Lohengrin gegeben. Wir waren begeistert und fanden alles herrlich. Unser Erstaunen war daher nicht gering, als[24] wir am Ende der Vorstellung unsern Vater tiefverstimmt antrafen. Die Begegnung mit dem Dirigenten, es war Hermann Levi, war peinlich; nur die Geschicklichkeit meiner Mutter vermochte das drohende Ungewitter abzulenken. Bei den Aufenthalten, die auf jeder Hin- und Rückreise von und nach Italien in München stattfanden, durften wir an den geselligen Zusammenkünften unsrer Eltern mit ihren Freunden teilnehmen. Außer Levi waren es vor allen Lenbach, Gedon, v. Bürkl, auch Bernays und andre.
Eigenartig war das Verhältnis meines Vaters zu Levi. Die Kundrynatur stak auch in diesem wie in Joseph Rubinstein. Er war einer der interessantesten und bedeutendsten Juden, die mir je begegnet sind. Chamberlain hat einen fesselnden und das Wesen, besser gesagt den Konflikt in Levis Natur prägnant darstellenden Nachruf verfaßt, auf den ich hier verweise, denn ich glaube nicht, daß ich ein besseres Bild von Levi geben könnte, als er dort. Im antiwagnerischen Milieu herangewachsen, spät zur Kunst meines Vaters gelangt, galt er in jenen Kreisen für einen Abtrünnigen. Anderseits trauten ihm die Wagnerianer nicht, so daß selbst mein Großvater Liszt einmal zu ihm die bittere Bemerkung machte, daß Heinrich Porges schon zu einer Zeit Wagnerianer war, als damit noch kein Geschäft zu machen gewesen sei. Ein hartes Wort, das, glaube ich, nicht gerechtfertigt ist. Levi war eben auf anderm Wege zum Anhänger geworden, nicht durch spontanes Gefühl, sondern[25] durch den Intellekt. Die Jugendwerke bis zum Lohengrin waren spurlos an ihm vorübergegangen. Erst das Bekanntwerden mit der Tristan- und Meistersingerpartitur hatte die Wendung hervorgerufen, also wieder einmal in erster Linie der Eindruck, den die Technik erweckte. Für Menschen, die schon an der ersten großen Gebetsmelodie in der Rienziouvertüre gemerkt hatten, welcher Genius da der Welt geschenkt wurde, für diese ist natürlich eine solche späte Bekehrung etwas zum mindesten schwer Verständliches. Erst als der äußere Erfolg einsetzte, fühlte Levi das, was er viel leicht längst empfand, was er aber laut zu bekennen nicht den Mut besaß, bestätigt, und dann setzte er sich mit seiner ganzen Persönlichkeit für die Sache ein. Es fehlte ihm eben eines, und darunter litt er, wie er es meiner Mutter wiederholt bekannte, am meisten: der Glaube. Als in den schweren Jahren nach dem Tode meines Vaters meine Mutter die Leitung der Festspiele übernahm und dabei auf solche Anfeindungen stieß, daß die Fortsetzung des Unternehmens schweren Gefahren ausgesetzt schien, versagte Levi wieder; er glaubte nicht an die Zukunft Bayreuths, und unter dem Eindrucke der Pressegehässigkeiten, die sich hauptsächlich gegen die Tannhäuseraufführung richteten, entstand in ihm der Gedanke, in München ein Festspielhaus zu errichten, ein Gedanke, den Possart sofort aufgriff. Später, als meine Mutter siegreich aus dem Kampfe hervorging, als die Schar der wirklich zu Bayreuth Gehörenden immer[26] mehr anwuchs, als in der französischen, englischen und amerikanischen Presse begeisterte Artikel über das Regiegenie meiner Mutter erschienen (unter diesen waren es in erster Linie wieder die geistvollen Aufsätze Chamberlains), da sah Levi sein Unrecht ein. Von da ab trat auch er glühend für das Wirken meiner Mutter ein. Wo er helfen konnte, half er, wie er überhaupt einer der freigebigsten Männer war. Einen ähnlichen Zug von Unsicherheit erlebten wir an ihm in bezug auf Hans Thoma. Als Henry Thode, damals am Anfang seiner Laufbahn als Kunsthistoriker stehend, leidenschaftlich für den nur von einer kleinen Schar echter Kunstkenner erkannten, sonst aber vollständig ignorierten oder verlachten und von einer Frankfurter Weinbergbesitzerin als »Schmierer mit den Spinatwiesen« titulierten Schwarzwälder Meister eintrat, sagte Levi, wirklich ernstlich um Thodes Zukunft besorgt, zu diesem: »Warum treten Sie so für Thoma ein? Sie schaden sich in Ihrer Karriere; warten Sie doch, bis er tot ist.« Auch da kein Glaube, und dabei kaufte er sich Bilder von Thoma und war entzückt von dieser schlichten, echt deutschen Kunst. Solang wir Kinder waren, empfanden wir keine Sympathie für Levi. Erst als wir reifer wurden, vermochten wir seine seltenen Eigenschaften zu würdigen. Am liebsten hatten wir seine gemütlichen Mahlzeiten dort oben im vierten Stock in der Arcostraße. Seine Haushälterin Frau Stamm setzte sein Lieblingsgericht Rindfleisch mit Frühlingssoße vor. Es ging heiter angeregt zu. Alles,[27] was es an besonderen, geistreichen Menschen in Europa gab, war in seinem Hause zu Gast. Kein geistiges Thema, das da oben nicht behandelt wurde. Man lachte, disputierte, man zankte sich wohl auch, aber man schied stets in heiterster Laune. Levi hatte lebhaftes Interesse für jeden einzelnen von uns, er ging auf unsre Individualitäten ein: meine architektonischen Entwürfe zeigte er in den Münchener Künstlerkreisen herum, und nie werde ich ihm vergessen, mit welchem Eifer er sich für die Aufführung meines Bärenhäuters in München verwandte. Er überwachte alle Proben, obwohl er selber durch seine Gesundheit verhindert war zu dirigieren (Franz Fischer waltete dieses Amtes). Bei einer Stelle im zweiten Akte, die ihm besonders gefiel, küßte er mich auf die Stirn. Daß er zum Dirigenten des Parsifal von meinem Vater auserkoren wurde, zeigt wohl am deutlichsten, was mein Vater von ihm hielt. Viele Jahre leitete er dies Werk, das dann später als sein berufener Erbe Karl Muck übernahm, der zu Parsifal dasselbe Verhältnis hat, wie Richter zu den Meistersingern und Mottl zum Tristan.
Wie vorher bei Gelegenheit des Besuches meines Großvaters in Siena, so bin ich jetzt bei Nennung des Namens Levi abermals von dem eigentlichen Erzählen abgewichen. Den Faden wieder anknüpfend, will ich daher jetzt noch von den zwei letzten Reisen nach dem Süden berichten, die wir mit unserem Vater machen durften. 1881 auf 82 war Sizilien sein Ziel: zuerst Palermo, dann Acireale, mit kurzen Ausflügen nach[28] Taormina, Messina und Catania. Zum erstenmal wurde das Weihnachtsfest fern von Wahnfried verbracht. Meine Mutter, die stets das Genie zeigte, das Unmögliche möglich zu machen, hatte selbst dort unten eine Fichte aufgetrieben und als Weihnachtsbaum geputzt. Der Besuch Joukowskys war eine willkommene Bereicherung der Festtage, und die überaus herzliche Gastfreundschaft der Palermitaner Gesellschaft, voran des lieben alten Grafen Tasca, befreiten uns von dem Gefühle des Heimwehs, das doch jeden Deutschen befallen muß, wenn er gerade an diesem traulichen nordischen Festtage, den der Südländer in diesem Sinne nicht kennt, fern von der Heimat weilt. Für unsre Familie wurde der Aufenthalt in Palermo von besonderer Bedeutung durch die Verlobung meiner Schwester Blandine mit dem sizilianischen Grafen Gravina, einem durch Vornehmheit, Schönheit und Herzensgüte ausgezeichneten, uns allen sehr sympathischen Manne. Seine Familie rühmte sich, von den Normannen abzustammen, der Name Gravina wird schon im elften Jahrhundert genannt.
Wenn ich von mir selbst, dem damals Zwölfjährigen, aus dieser Zeit etwas erzählen soll, so wäre es, daß meine Liebe und mein Talent zur Architektur sich immer mehr entwickelten. Durch das lange Verweilen in den Kirchen kam es, daß auch der katholische Kultus großen Eindruck auf Sinn und Gemüt machte, und bei dem Kindern eigenen Nachahmungstriebe wollte ich nun gern selber zuhause die Zeremonien ausführen. Mit dem Taschengeld,[29] das ich ab und zu erhielt, und mit dem, was ich mir von Joukowsky und andern Freunden erbettelte, kaufte ich mir eine Gipsmadonnenfigur, Leuchter, Kerzen und Weihrauch; Joukowsky schenkte mir eine Ampel und ein Meßgewand dazu. (Beide befinden sich jetzt noch zur Erinnerung in meinem Arbeitszimmer.) Diese Gegenstände wurden insgeheim in den Koffer gepackt, und nach unsrer Rückkehr richtete ich mir im kleinen Gartenhaus eine regelrechte Kapelle ein und las die Messe, wobei meine Kameraden die Ministranten spielen mußten. Wir taten das alles mit tiefstem Ernst, durchaus nicht verhöhnend. Mein Vater machte aber der Sache bald ein Ende, die Kapelle wurde ausgeräumt, und traurig gehorchend ließ ich von dieser Passion ab.
Die letzte Italienfahrt 1882 bis 1883 galt Venedig. Nicht endenwollende Regengüsse hatten die ganze Etsch- und Brentagegend überschwemmt. Die Brücke in Verona, über die wir zum Bahnhof fuhren, stürzte wenige Stunden danach ein. Wir gelangten nur mit knapper Not nach der Lagunenstadt. Auch dort wollte es zu keinem schönen Wetter mehr kommen, so daß trotz der herrlichen Wohnung im Palazzo Vendramin während dieser ganzen Zeit die richtige italienische Sonnenfreudigkeit nicht einsetzte. Ein großer Komet erregte bei abergläubischen Gemütern – auch ich bin nicht ohne Aberglauben – Furcht vor drohenden Ereignissen, kurz, es lastete ein Druck auf diesem Aufenthalte. Die Erregungen des Festspieljahres 1882 hatten die Gesundheit meines[30] Vaters stark mitgenommen. Ob Parsifal im Jahre 1883 wiederholt werden könne, war eine schwere Frage. Die Hoffnung, daß auch das deutsche Volk sich in reger Weise an der erstmaligen Aufführung dieses letzten seiner Werke beteiligen würde, war vernichtet. Nur die drei ersten Abende waren gefüllt, bei den übrigen konnte man große Lücken wahrnehmen! Also auch diese letzte Enttäuschung blieb meinem Vater nicht erspart!
Trotzdem siegte auch in diesen letzten Monaten seines Lebens immer wieder die Heiterkeit. Ich habe schon oben berichtet von seinem Tanze zu Beethovens Siebenter Symphonie; das geschah einen Monat vor seinem Scheiden. Entzückend war er mit vornehmen Damen, zum Beispiel mit der liebreizenden Fürstin Hatzfeld, mit ihrer Tochter, der treuen Mitkämpferin Gräfin Schleinitz, deren Bedeutung unter anderen auch von Glasenapp gebührend gewürdigt worden ist, so daß ich hier nicht zu wiederholen brauche, mit Gräfin Dönhoff der jetzigen Fürstin Bülow, und andern. Er hatte bei solchen Gelegenheiten etwas – ich möchte sagen fast französisch Chevaleresk-Anmutiges in seinem Gebaren. Sehr drollig nahm es sich aus, wenn die baumlange Gräfin Hildegard Usedom ihm die Hand küßte. Sie tat es gern, weil sie wußte, daß sie dann zum Lohn einen Kuß auf die Lippen bekam. Der Anblick der sich tief bückenden Riesin hatte etwas unwiderstehlich Erheiterndes. Wie gut mein Vater mit dem einfachen Volke war, ist bekannt. Die Dienstboten vergötterten ihn! Seine Heftigkeit[31] wurde von ihnen nie mißverstanden, weil er eine Minute darauf jegliche Gekränktheit durch einen Witz zu beseitigen wußte. Nur recht unbegabte Leute trugen ihm nach. Sehr oft war ich der Glückliche, der seine Heiterkeit erregte. Von meiner gepfiffenen Auberschen Schlummerarie erzählte ich bereits; außer dem Pfeifen belustigte ihn aber auch mein damals in Venedig erwachendes Bedürfnis, zu dichten. Ich entwarf eine Reihe aufregender Stücke, Ritterschauspiele; auch Catilina mußte herhalten. Beim Vorübergehen lugte mein Vater in mein Heft und rief lächelnd zu den Geschwistern: »Still, Kinder, stört den Fidi nicht, daß er nicht vom Pegasus purzelt!« Mein Hauslehrer trug, allerdings mehr wider seinen Willen, zur Heiterkeit bei, als er sich von »Mutti« aus dem nördlichsten Winkel Deutschlands sein Federbett kommen ließ. Der reichliche Genuß von Marzipan, ebenfalls von »Mutti« gesandt, widerte meinen Vater allerdings mehr an. Er konnte Weichlichkeit nicht ausstehen. Gern war er darauf bedacht, uns eine Freude zu machen. Die größte waren die schon früher erwähnten und von meiner Mutter nicht gern gesehenen Gänge zu dem großen Konditor Lavena. Im Theater sahen wir die Baruffe Chiogiotte und Paesiellos »Barbier von Sevilla«, selbst zu den Karnevalsfestlichkeiten auf dem Markusplatz wurden wir mitgenommen.
Das schönste Ereignis aber war die Aufführung seiner Jugendsymphonie zum Geburtstag meiner Mutter. Es war das dritte Mal, daß ich ihn als Dirigenten sehen[32] durfte. Einige Jahre vorher war es bei der gleichen Gelegenheit die Adur-Symphonie von Beethoven und Sätze aus der Fdur, die er mit dem Meininger Orchester in Wahnfried leitete. Seine Art zu dirigieren, von der zu lernen seine Schüler, wie Hans v. Bülow, Klindworth, Richter, und später indirekt Mottl, Muck und Nikisch, mit Glück bestrebt waren, zeichnete sich durch plastische Einfachheit und große Klarheit aus. Zu diesen gehörte auch Anton Seidl, der zur vollen Zufriedenheit seines Meisters den Ring des Nibelungen bei den Angelo Neumannschen Aufführungen dirigierte. Seine reichen Gaben entfaltete er später in Amerika, wo er sich der größten Beliebtheit beim Publikum erfreute. Ich persönlich gedenke noch in besonderer Dankbarkeit seiner, da er sich mit Eifer der Verbreitung meiner Kompositionen annahm. Meine erste orchestrale Arbeit, die symphonische Dichtung »Sehnsucht« (nach dem Schillerschen Gedichte) führte er in Amerika auf. Ergreifend schön war seine Direktion des Parsifal in Bayreuth. Ein früher Tod raubte uns leider diesen echt Bayreuther Künstler. Mein Vater wirkte hauptsächlich durch das Auge, was er ja selbst wiederholt als das Wichtigste der Willensübertragung bezeichnete. Seine Leidenschaftlichkeit war also nach außen hin mehr gebändigt; sie zeigte sich für diejenigen, die ihn nach der Arbeit in der Nähe sahen, durch das äußerst starke Transpirieren. Der Anblick für den Zuschauer blieb immer ästhetisch, nichts von all den jetzt beliebten übertriebenen Gestikulationen, die[33] den Eindruck erwecken, als sei der Dirigent der Endzweck der Musik und das aufzuführende Werk Nebensache. Das Auge war das Elektrisierende. Allerdings, der Dirigent muß auch ein Auge haben, in dem sich eine Seele widerspiegelt. Fehlt das, so müssen Schlangenmenschenverkrümmungen über das Manko hinwegtäuschen. Ein Teil des Publikums scheint ja auch an diesen Verrenkungen Freude zu haben. Das eine weiß ich aus eigener langjähriger Erfahrung: die Orchestermitglieder ziehen ein äußerlich gebändigtes deutliches Dirigieren der scheingenialen Zappelei vor. Bei meinen vielen Konzerten, die mich in Berührung mit Hunderten von Orchesterkörpern gebracht haben, ob es in Deutschland, England, Frankreich, Spanien, Italien oder Rußland, Skandinavien war, überall hörte ich von Orchestermusikern, wie angenehm ihnen meine ruhige Art zu dirigieren sei: »Da wird man wenigstens nicht nervös.« Ich sage immer, das sei die Schule meines Vaters.
Das zweite Mal sah ich ihn nicht als Dirigenten. Es war bei der letzten Parsifalvorstellung, als er die zweite Hälfte des dritten Aktes dirigierte. Luise Reuß-Belce, meine famose Mitarbeiterin bei den Bayreuther Festspielen, lange Jahre die berühmte Fricka, damals im Jahre 1882 Blumenmädchen und Gralsknappe, erzählte uns oft und gern von dem Gefühl, welches alle auf der Bühne tätigen Künstler überkam, als sie nach der Wandeldekoration beim Wiedererscheinen des Gralstempels statt Levi plötzlich meinen Vater am Dirigentenpult[34] stehen sahen. Nur einer schien sichtlich erregt darüber zu sein, der bis jetzt unerreicht gebliebene Sänger des Amfortas, Theodor Reichmann, der nur einen Fehler hatte, daß das Musikalische ihm viel Not machte. Er rief aus: »Mein Gott, der Meister selbst am Pulte, wird er mir denn meinen Einsatz richtig geben?«
Die Proben zu seiner Jugendsymphonie wußte mein Vater durch kleine Witze dem italienischen Orchester sehr fröhlich und angenehm zu machen. Dabei setzte er alles durch, was er an Vortragsfeinheiten zu erreichen wünschte. Sein mangelhaftes Italienisch trug auch zu komischen Mißverständnissen bei.
Von dem letzten Tage im Leben meines Vaters ist mir ein Erlebnis mit meiner Mutter deutlich in der Erinnerung geblieben. Obwohl sie eine Meisterin des Klavierspiels war – ihr Musiklehrer Seghers hatte von den beiden Schwestern gesagt: »Blandine sera une excellente musicienne, Cosima une grande artiste« – hatte ich sie nie spielen hören; ihre Tätigkeit im Dienste meines Vaters war so umfangreich, daß sie das Klavier ganz vernachlässigen mußte. Am 13. Februar war es, ich saß im Salon und übte am Klavier. Da trat meine Mutter ein. Sie ging auf den Flügel zu und begann zu spielen. Auf meine Frage, was sie spiele, antwortete sie mir mit einem ganz entrückten Blicke: »Schuberts Lob der Tränen«. – Einige Minuten später brachte die Kammerjungfer die Nachricht, daß es schlecht um meinen Vater stünde. Nie vergessen werde ich, wie meine Mutter zur[35] Tür hinausstürzte. Eine Gewalt leidenschaftlichsten Schmerzes drückte sich darin aus; dabei stieß sie sich so stark an dem halbgeöffneten Türflügel, daß dieser fast zerbrach. Wenn ich sie in späteren Jahren bei den Proben zu den Festspielen Rollen wie Kundry, Isolde, Sieglinde, Brünnhilde darstellen sah, mußte ich oft jenes Augenblicks in Venedig gedenken; ihre Darstellung war von antiker Größe, wie ich sie auf der Bühne nur einmal wiedergesehen habe: bei der Verkörperung des Othello durch den damals schon siebenundsiebzigjährigen Salvini.
Der 13. Februar 1883 brachte eine große Wendung in unser Leben, vor allem äußerlich. Mein Vater hatte, um mich des populären Ausdruckes zu bedienen, von der Hand in den Mund gelebt. Aus den Einnahmen seiner Werke wurde das tägliche Brot, die Reisen und so weiter bestritten. Ein angelegtes Vermögen war nicht vorhanden, nur das, was meine Mutter mit in die Ehe brachte. In den nun folgenden Jahren galt es, langsam an die Gründung eines Vermögens zu gehen. Hierbei hatte sie die größte Stütze an Adolf v. Groß, der fortan nicht nur alles Praktische des Festspielunternehmens, sondern auch unsre ganzen Privatangelegenheiten übernahm. Ohne diesen Mann wären wir nicht weit gekommen; noch jetzt heißt es in allen Angelegenheiten, in denen wir keinen Rat wissen: »Gehen wir zu Adolf.« Verstand und Herz sind bei diesem unvergleichlichen Manne gleich hoch entwickelt. Abhold allem Scheine, wurde er oft verkannt,[36] mißverstanden, als unliebenswürdig gescholten. Das war und ist ihm gleichgültig. Er fühlte sich vom Schicksal auserkoren, für eine große Sache zu wirken; das gab ihm die Kraft, alles Äußerliche als falschen Tand von sich zu weisen. Während meine Mutter an der künstlerischen Arbeit immer wieder Befriedigung, Genugtuung und Erhebung fand, hatte Adolf Groß eigentlich nur das Mühselige, Widerwärtige, Dumme zu bewältigen. Wohl freute auch er sich an den Bühnenleistungen, aber wie oft wurde ihm die Freude durch das Rauhpraktische vergällt. Durch zahlreiche Prozesse mit Verlegern und so weiter, durch die Hypotheken, die auf Wahnfried lasteten, gelang es ihm nur sehr allmählich, uns in eine finanziell bessere Lage zu versetzen. Wir lebten in den Jahren 1883 bis 1890 in der denkbar einfachsten Weise, ein eigentümlicher Gegensatz zu dem früheren Leben und zu dem äußeren Scheine, den der Anblick des schönen Hauses mit dem großen Garten erweckt. Mein Vater wußte genau, daß dereinst seine Werke seiner Familie genügend einbringen würden; daher durfte er mit Recht die letzten Jahre so leben, wie es seinem Bedürfnisse und seiner Phantasie entsprach. Nur spießbürgerliche, kleinliche Menschen konnten sich über den angeblichen Aufwand erregen. Ich weiß nicht, ob über andre Künstlerfamilien auch so phantasiert und gelogen wird. Eins ist sicher, daß bis jetzt noch nie eine Notiz, die in der Zeitung stand, oder ein Gerücht, das über uns verbreitet wurde, gestimmt hat. Etwas war mindestens falsch daran, wenn[37] es nicht überhaupt ganz erfunden war. Die phantastischsten Begriffe über unser Vermögen herrschten, und noch jetzt müssen wir unter diesen törichten Fabulierereien leiden. Daß Künstler gern freigebig sind, ist bekannt. Bei uns wurden von dieser Eigenschaft Rückschlüsse auf die »Reichtümer« gezogen.
Gleich nach der Rückkehr aus Venedig ließ sich meine Mutter meine weitere Erziehung besonders angelegen sein. Ich wurde zum Eintritt in das Bayreuther Gymnasium vorbereitet, in das ich im Herbst 1883 aufgenommen wurde. Gern und dankbar gedenke ich meiner Schulzeit. Meine Lehrer waren so richtig Gestalten aus der Jean-Paul-Zeit, würdig, von einem Gottfried Keller oder von einem Dickens geschildert zu werden. Besonders war da der Rektor Großmann, eine magere, fast asketische Gestalt mit langem Barte, von peinlichstem Ordnungstriebe erfüllt, einer Eigenschaft, die uns Jünglinge damals teils ärgerte, teils zum Lachen reizte, deren Wert für uns wir erst später zu würdigen wußten. Wenn ich heute einen schiefen Fensterriegel sehe, denke ich jetzt noch an meinen guten Rektor und schiebe ihn zurecht. Wir Schüler bekleideten außer unsrer Würde, Oberklässer zu sein, noch ein Nebenamt, je nach den Qualitäten oder nach dem Platze, auf dem wir saßen. Ich hatte das Unglück, in nächster Nähe des Spucknapfes zu sitzen; diesen hatte ich sauber zu halten. Einige meiner Mitschüler, die bemerkten, daß ich kurz vor Beginn der Stunde noch eifrig zu präparieren hatte, spuckten[38] kurz vor Eintritt Großmanns heimlich in den Napf. Der Rektor tritt ein, sein erster Blick fällt auf das beschmutzte Objekt. Mit dem Fuße die Sägespäne über die unästhetischen Stellen deckend, wendet er sich zu mir und sagt deprimiert: »Wann endlich, Wagner!« Sein »Non decet, imo dedecet« war noch wirksamer. Ganz bös wurde es, wenn er ausrief: » Quo usque tandem!« Dabei rieb er sich heftig beide Augen. Ein häßlicher Zug der Jugend ist es, die Schwächen eines Älteren auszunützen. Großmann war schwerhörig, und ich schäme mich eigentlich jetzt noch, daß ich es nicht anders als meine Mitschüler machte und davon profitierte. Während der Stunden glich die Klasse einem summenden Bienenschwarm, der zu solchem Kreszendo anschwoll, daß Großmann es schließlich merkte. Ein schmerzlicher Zug war auf seinem Gesichte deutlich zu erkennen, einmal über sein Leiden, dann über unsre Frechheit, daß wir dieses Leiden zur Verletzung der Ehrfurcht, die er verdiente, mißbrauchten. – Ja, Ehrfurcht! Von Jugend auf wurde mir diese wichtigste Tugend des Menschen ans Herz gelegt, und das Kapitel in Goethes Wanderjahren, worin von der dreifachen Ehrfurcht die Rede ist, möchte man jetzt in allen Schulen der heranwachsenden Jugend mahnend vorlesen. Wenn man hört, daß Mädchen am Karfreitag auf Tanzvergnügen gehen und daß sie auf die Frage, ob sie nicht wüßten, was für ein Tag es sei, antworten: »Das ist doch ein Sonntag wie jeder andre,« wenn man das hört – und man kann noch Schlimmeres[39] vernehmen – dann sieht man, wohin man gelangt, wenn man der Ehrfurcht den Rücken kehrt. Großmann war der größten Begeisterung fähig; selbst über Klopstocksche Oden vermochte er Tränen zu vergießen, und das will viel heißen. Als er an einem schwülen Nachmittag merkte, daß die Hitze die Gehirne seiner Schüler nicht gerade belebte, hieß er uns die lateinische Arbeit beiseite legen und las uns Tiecks »Blonden Egbert« vor.
Außer für Großmann empfand ich besondere Verehrung für unsern gütigen Religionslehrer Nägelsbach. Ich fürchte, daß ich dem armen Mann manches Kopfschütteln verursachte, denn seinem Gesichte war das Staunen über das, was ich zum Beispiel aus dem Alten Testamente nicht wußte, deutlich anzusehen. Mit Religionsunterricht war ich als Kind wenig, ja kaum geplagt worden. Nur das Leben des Heilandes kannten wir. Das Alte Testament wurde uns ganz fern gehalten. In dem Schulreligionsunterricht wurde aber damals (ich weiß nicht, ob es jetzt noch so ist) besonderes Gewicht darauf gelegt; ich stand daher mit meiner Unkenntnis sehr allein und wurde von den Mitschülern verlacht.
Im Jahre 1889 bestand ich das Abiturientenexamen. Eines Erlebnisses aus jener Zeit möchte ich noch hier gedenken, weil es auf den damals Siebzehnjährigen nicht ohne Eindruck blieb. Es war an einem Dezembermorgen früh zwischen sechs und sieben Uhr, da trat unser[40] Diener an mein Bett und meldete mir, eine Dame sei im Salon und wünsche mich zu sprechen (meine Familie war verreist). Ich, sehr erstaunt, wer mich zu dieser sonderbaren Stunde aufsuchen möge, kleidete mich schleunigst an und eilte hinab, um meine Neugier zu stillen. Da stand vor mir eine große, schöne, vornehme Dame, von den Festspielen her mir bekannt, in eleganter Theatertoilette, in einen Abendmantel gehüllt; sie ging mit weitgeöffneten Armen auf mich zu und rief: »Lieber Siegfried, ich bin gekommen, um Ihnen den Bruderkuß zu geben, der die Welt erlöst!« Ich stand so verdutzt da, daß sie es wohl merken mußte und vorderhand von ihrem Vorhaben abstand. Wir setzten uns nun, und aus dem folgenden Gespräche enthüllte sich mir allmählich das Rätsel. Die arme, gutmütige Frau war in die Hände eines Hypnotiseurs gefallen, der ihr suggeriert hatte, an einem bestimmten Tage das auszuführen, was sie nun von mir begehrte. Sie war abends im Dresdener Theater gewesen, erzählte mir noch, wie anders jetzt Schuch dirigiere, seitdem sie ihm den Bruderkuß gegeben habe, und wie anders sich jetzt die Menschen küssen – da plötzlich habe es ihr keine Ruhe gelassen, sie sei mitten im Tristan aufgestanden, zur Bahn geeilt, und nun sei sie hier, so wie sie gestern im Theater gewesen sei. Zu Wolzogen wolle sie ebenfalls, um auch ihm den Bruderkuß zu geben. Ob sie bei ihm mehr Glück hatte als bei mir, weiß ich nicht zu sagen. Um ein Uhr brachte ich sie an die Bahn. Einige Wochen später erhielt ich[41] einen Brief ihrer Schwester, worin sie mich bat, ihr zu erzählen, was vorgefallen sei. Man habe nämlich ihre Schwester in eine Irrenanstalt gesperrt. Auf Grund meines Briefes wurde die arme Frau daraus gerettet und aus den Händen eines Schwindlers befreit. Sie war mir später immer dankbar für mein Eintreten, und innige Freundschaft verband uns bis zu ihrem Tode.
Bevor ich nun das architektonische Studium begann, ging ich ein Jahr als Schüler zu Engelbert Humperdinck. Meine Mutter hatte wahrgenommen, daß neben dem Hang zur Architektur ein starker Trieb zur Musik sich in mir bemerkbar machte. Nur um zu prüfen, ob diese Begabung wirklich groß genug sei, und um nichts zu versäumen, riet sie daher zu diesem Probejahre. Sie hatte in richtiger Erkenntnis seines hohen Könnens, zugleich aber auch in Erkenntnis seines seelenguten Wesens den Meister der Kontrapunktik Humperdinck gewählt, der ihr ja seit 1880 bekannt war und den wir Kinder alle herzlich liebhatten. Der leider jetzt uns durch den Tod Geraubte blieb uns stets einer der trautesten, sympathischsten Freunde. Wie gern sah man in seine vergißmeinnichtblauen Augen; wie heiter stimmten uns seine neckischen Wortspiele, aber auch seine Zerstreutheit und sein traumverlorenes Wesen! Sein Zuspätkommen war sprichwörtlich geworden. Selbst den Papst hat unser Freund einmal eine halbe Stunde lang in den vatikanischen Gärten warten lassen, das heißt, der Kirchenfürst wartete[42] nicht auf den Audienzbedürftigen, sondern unser Freund hatte das Nachsehen. Er war der Deutsche, wie er im Märchen steht. Als er mich einmal fragte, ob ich nicht einen guten Operntext für ihn wüßte, sagte ich ihm, er solle sich nur selber komponieren, das gäbe das beste Märchenspiel. Mit seinem Schüler Siegfried war er zufrieden, ja so zufrieden, daß er meiner Mutter schrieb, er glaube bestimmt, daß die Musik die Architektur verdrängen werde. In diesem eigentümlichen, zwischen zwei Berufen schwankenden Zustande bezog ich im folgenden Jahre für zwei Semester das Charlottenburger Polytechnikum, darauf ein Semester das Karlsruher.
Was mich nach Karlsruhe zog und dann bald die Wendung herbeiführte, war nicht mehr die Architektur, sondern war Felix Mottl. Hatte ich schon während meines Berliner Aufenthaltes musikalische Eindrücke durch die von Hans v. Bülow geleiteten Konzerte gehabt – ich schätze mich glücklich, seine Interpretation der Beethovenschen Symphonien und der verschiedenen Vorspiele meines Vaters noch kennengelernt zu haben –, so fachten die Aufführungen in Karlsruhe immer stärker die Sehnsucht nach dem Musikerberufe an. Mottl dirigierte die Werke meines Vaters mit ebenso hinreißendem Schwunge wie Mozart und Weber. Durch seinen magnetischen Zauber wurden selbst spröde Werke, wie die Berliozschen, vorübergehend warm. Unvergeßlich bleibt mir die szenische Aufführung der Heiligen Elisabeth, bei der meine Mutter Regie führte und Mottl[43] dirigierte. Auf der bald nach dem Karlsruher Aufenthalt erfolgten sechsmonatigen Reise nach Indien und China – es war, wie ich mich noch gut entsinne, nach einer stürmischen Nacht am Ostermorgen – faßte ich den Entschluß, der Architektur Valet zu sagen und mich ganz der Musik zu widmen.1 Die Neigung zur Architektur mußte fortan sehr in den Hintergrund treten, ganz unterdrücken ließ sie sich nicht. Ja, diese Kunst half mir später, wenn ich zu Dekorationen Entwürfe machte, und vielleicht kann man es auch den verschiedenen Vorspielen zu meinen Opern, ja, selbst meinen Dichtungen anmerken, daß dem Verfasser Sinn für Architektonik innewohnt. Mein Entschluß weckte helle Freude in Wahnfried. Konnte doch jetzt meine Mutter hoffen, daß ich dereinst die Leitung der Bayreuther Festspiele übernehmen könne und daß die Worte meines Vaters an Pusinelli sich bewahrheiten würden: »Siegfried Richard wird seines Vaters Namen erben und seine Werke der Welt erhalten.« Besonders erwähnen muß ich, daß meine Mutter mir gegenüber nie den Wunsch geäußert hatte, ich solle Musiker werden. Sie sah ruhig, ohne jede Beeinflussung, meiner Entwicklung zu. Die Behauptung, ich sei von ihr zum Musikerberuf gezwungen worden, konnte daher nur von jemand aufgestellt werden, der sie nicht kannte.
Jene Reise unternahm ich damals auf Einladung eines mir sehr befreundeten jungen Engländers, Clement[44] Harris, der gleichzeitig mit mir in Frankfurt Musik studierte. »Wakefield« hieß das Kauffahrteischiff, das uns von London über Gibraltar (mit einem Abstecher nach Granada), Port Said direkt nach Singapore trug, von dort weiter über Saigon nach Hongkong, Kanton, Makao, den Philippineninseln und zurück über Zeylon nach Neapel, unvergeßliche Eindrücke, die ich in einem ausführlichen Tagebuche wiederzugeben versuchte. Da ich während der ganzen Reise nur mit Engländern in Berührung kam, hatte ich Gelegenheit, dieses Volk kennenzulernen und mich davon zu überzeugen, wie gemütlich, humorvoll und taktvoll sie sind, solange sie als Menschen und nicht als Politiker sich zeigen. Ich will im nachstehenden einige Auszüge aus dem erwähnten Tagebuche geben, weil sie gut die Wirkung dieser Weltreise auf mich damals Dreiundzwanzigjährigen veranschaulichen.
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