Felsenmeer

[131] Felsen reiht sich an Felsen,

Und dem Auge des Menschen

Erscheint es, als seien es

Mächt'ge erstarrte Wellen,

Als hätte des allmächtigen Bildners

Wuchtige Hand

Ein wogendes, brausendes,

Schäumendes Meer

In Stein gehauen.

Und in dem Volke schreitet die Sage,

Daß hier dereinst eine See gebrandet,

Eine durch Zauberers Spruch

Erstarrte, in Stein verwandelte

Wilde, brausende See ...
[131]

Ach! wo einst das rastlose Leben

Der Fluthen gebraust und gebrandet

Wo sie in neckendem, fröhlichem Spiel

Sich überstürzten

Oder voll titanischer Wuth

Schäumten und rangen

Mit dem Gestade in grausem Kriege,

Geführt durch den Sturmgott –

Dehnet sich heute ein steinernes,

Graues, lebloses Abbild.


Träumend steh' ich, sinne und grüble,

Und wie ich sinne, dünkt mich, ich höre

Den alten Mahnruf

Der Zeit, der Hünin,

Die ewig geht und dennoch bleibt,

Daß Alles vergänglich

Und Alles eitel.


Ja! auch an uns

Und unser Fühlen

Und unsere Thaten

Mahnt nach einer winzigen Zahl

Winziger Jahre

Nur solch ein starres

Farbloses Abbild;

Und kalt und lieblos

Schreitet ein neues Geschlecht

Ob unserm Grabe,

Das nichts mehr weiß

Von unserm Ringen

Und unsern Qualen.

Nur ein Gewaltiger noch,

Vielleicht ein Fürst oder Weiser,

Ragt aus dem Schutte

Vergangener Zeiten.

Quelle:
Wilhelm Arent (Hg.), Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig 1885, S. 131-132.
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