Heidelbeeren

[309] Als heut ich durch die Dresdner Haide fuhr,

Stand meine Kindheit vor mir da: Ein Kind,

Ein Bauernmädelchen im kurzen Rock,

Das bunte Kopftuch über dem blonden Haar:

Die »Guge«, die sich so hübsch an rote Backen schmiegt

Und unterm Kinne zipfelig geschlungen ist.

»Barbs« geht sie – barfuß: was für Wädelchen!

Wie süß die zierlichen Zehen geschnitten sind

(Ob auch ein wenig mit Staub gepudert) –, ach und sieh:

Wie sich das Bäuchlein leise vorwärts wölbt

(Grad nur, zu zeigen, daß es da ist), und

Wie schelmhaft dieses Fräulein lächeln kann!
[309]

Ein Fräulein von zwölf Jahren, ein Kind und doch

Ein Frauchen: Allerliebst kokett bereits

Und doch unschuldig, Duft noch ganz und Tau

Des frischen Morgens. In den Händen hält

Das Kindchen einen Korb, bis obenan

Gefüllt mit Heidelbeeren. Und da seh ich nun,

Warum die Lippen ihm ein bißchen »schnuddlich« sind:

Gefärbt vom Blaurot unsrer Wäldlerin,

Der drallen Blauen, die sich den Armen schenkt.


Ja wohl, so wars: So sah meine Kindheit aus.

Die Heidelbeere, nicht die Ananas,

Seh ich als Sinnbild jener zagen Zeit.

Die Heidelbeere, tief im Wald gesucht,

Die wäßrig-säuerliche, die so süß doch war

Dem unverwöhnt gesunden Kindesmund,

Der damals schon beim Süße-Suchen sang:

Heedelbeern, Heedelbeern,

Such ich in der Haide.

Heedelbeern, Heedelbeern

Suchen macht mir Freide.

Heedelbeern sin scheene,

In den Kober kommt keene;

Ich esse alle Heedelbeern, Heedelbeern alleene.

Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Gesammelte Werke. Band 1: Gedichte, München 1921, S. 309-310.
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