Fünftes Kapitel

[98] »Was, der Zug hält nicht an der Station?« fragte Joachim von Herebrecht am Billetschalter eines Berliner Bahnhofes.

»Nein, nur die Lokalzüge.«

»Und wann geht der nächste?«

»Morgen früh um sechs Uhr,« sagte der Beamte und wandte sich von dem erledigten Fall seinen anderen Obliegenheiten zu.

Joachim stand eine Weile unbeweglich und störend im Menschengewühl des Bahnhoftumultes, wie jemand, der für den Augenblick ganz verdummt ist.

»Den Teufel auch,« dachte er verdutzt, »da trete ich mit einer Unpünktlichkeit in den neuen Wirkungskreis. So was macht immer einen schlechten Eindruck. Aber die Frauenzimmer hätten doch auch in den Briefen, die der Depesche folgten, ein Wort davon einfließen lassen können, daß man nur mit dem edlen Beförderungsmittel der Bummelzüge in die Försterschen Gefilde gelangen kann. Na, wo Frauen regieren, kann[98] man am Ende solche Vergeßlichkeit nicht befremdlich finden und kann auch wohl darauf rechnen, daß Unpünktlichkeit nicht als Untugend angesehen wird.«

Damit beruhigte er sich, suchte ein Hotel in unmittelbarer Bahnhofsnähe auf und ließ sein Gepäck gleich an der Eisenbahn. Der andere Morgen sah ihn sehr übellaunig im Coupé des ersten Zuges, der mit viel Geräusch und wenig Eile durch den märkischen Sand fuhr. Joachim, von Berufswegen zum steten Frühaufstehen gezwungen, haßte dasselbe doch gründlich und liebte an den Tagen, wo der Zwang wegfiel, ein verlängertes Verweilen im Bett, bis zur Mittagsstunde womöglich. Und natürlich würde nun kein Wagen an der Station sein und er konnte das Vergnügen genießen, ein paar Stunden durch den sonnigen Morgen zu Fuß zu laufen.

Diese Befürchtung bestätigte sich, denn der Inspektor teilte an der Station dem jungen Herrn mit, daß gestern zum letzten Zug – zum letzten Bummelzug, schaltete Joachim ein – der Wagen hier gewesen sei und daß die fremde Dame, die neuerdings auf Mittelbach wohne und Frau Försters Schwägerin sein solle, darin gesessen habe.

»Frau von Herebrecht?« fragte Joachim unglücklich. »Auch das noch!«

»Ich weiß nicht, wie die Dame heißt; sie ist jung, sehr schlank und trug ein weißes Kleid und einen großen weißen Hut.«[99]

»Natürlich – Adrienne!«

Joachim sagte, daß man sein Gepäck holen werde, und machte sich auf den Weg.

Es mochte gegen zehn Uhr sein, und der Junimorgen lag mit blendendem Sonnenschein über den Feldern. Die lang aufgeschossenen Pappeln warfen weitläufige Gitterschatten über die Chaussee, deren Fahrdamm wie von silbergrauem Staubpulver überschüttet war. Von rechts und links drängte sich das wogende Getreide an die Straße, ein erfrischender Wind fuhr über die bläulich aufschimmernden Aehren des Sommerkorns. Joachim nahm den Hut ab, daß der Wind ihm die Stirn kühle, und spannte einen blauleinenen Sonnenschirm, den er bisher als Stock benützte, über sich auf. Das Wandern durch die reichtragenden Felder ward ihm schnell zum Vergnügen, er pfiff den Fledermauswalzer vor sich hin und dachte nach, in einem abwechslungsreichen Durcheinander bald über die Verlobung der »kleinen Elly«, bald über die Qualitäten des Mittelbacher Bodens, bald über die Operette, die er vorgestern in Berlin gesehen hatte, und über die Menschen, die er in Mittelbach finden würde. Viel Sorgen machte er sich um das alles nicht.

Sein aschblondes Haar, leicht über der Stirn gelockt und ziemlich kurz gehalten, krönte ein junges, offenes, frohes Männergesicht. Die blauen Augen schauten hell um sich, die fein gebogene Nase – die Herebrechtsche Familiennase – stand über frischen,[100] feinen Lippen, die ein blondes Schnurrbärtchen zierte. Die Linie des Wangenprofils, die Form des festen Kinns, die Art, wie der Kopf getragen wurde, gaben dem jungen Antlitz den Ausdruck von Stolz und Adel. Dazu die sehr geschmeidige, mittelgroße Figur – man mußte gestehen, Joachim konnte mit dem Gepräge zufrieden sein, das die Natur ihm gegeben.

Er näherte sich, rüstig ausschreitend, dem Wald, an dessen Saum ein Landweg zwischen Knicken sich hinzog. Joachim sah da etwas, das seine Aufmerksamkeit fesselte, und der Walzer auf seinen Lippen – er hatte inzwischen eine Repertoireveränderung vorgenommen und war eben bei dem unsterblichen Coakeswalzer – endete mit einem charakteristischen Pfiff. Der Pfiff hieß in die Sprache übersetzt: »Paß auf, mein Junge!«

Nach dieser Selbstmahnung bestieg er den Meilenstein neben der nächsten Pappel und sah dann auch genauer, daß es eine reitende Frau sein mußte, die zwischen den Knicken entlang kam. Die sich hebende und senkende Bewegung eines Kopfes mit schleierumwundenem Cylinderhut, konnte nur davon kommen, daß die dazu gehörige Person auf einem Pferde saß und Trab ritt. Und jetzt ein helles Aufwiehern des Rosses.

Joachim, der auf alles Weibliche eine ungemeine Neugier besaß, eilte vorwärts, um womöglich da, wo Chaussee und Landweg sich schnitten, mit der Reiterin zusammenzutreffen. Das wäre nun selbst seinem[101] schnellsten Gang nicht möglich gewesen, aber die Reiterin sah, als sie die Chaussee überschreiten wollte, den Herrn mit dem Sonnenschirm daherkommen. Sie hielt ihr Pferd an und schaute dem Kommenden entgegen; eine so kultivirte Männererscheinung in elegantem grauem Straßenanzug, mit einem Schirm über der Schulter, mochte wohl zu auffällig um diese Zeit, auf dieser Straße, und vor allen Dingen als Fußwanderer, sein.

»Aha,« dachte Joachim, »das ist natürlich Fanny Förster. Donnerwetter! Ich dachte sie mir überhaupt älter.«

»Herr von Herebrecht?« rief Fanny ihm schon fragend entgegen. Sie hätte sein Gesicht überall wiedererkannt, nach dem Bilde, das Adrienne von ihm hatte.

»Zu dienen, meine Gnädigste. Und daß ich gleich mit einer Bitte um Entschuldigung beginnen muß, ist nicht sehr angenehm. Indes hatte ich keine Ahnung von der Eisenbahnverbindung,« sagte Joachim.

»Das dachten wir uns, es ist unsere Schuld. Daß Sie aber nun zu Fuß daher marschiren, ist wieder Ihre Schuld, denn eine Depesche hätte den Wagen an die Station gerufen,« sprach Fanny, ihn mit herzlicher Freundlichkeit so unverhohlen betrachtend, als wäre ihr ein lieber Verwandter nach langer Trennung wiedergekehrt.

»Gegen die Depeschenbeförderung über Land habe[102] ich ein in üblen Erfahrungen wurzelndes Mißtrauen,« antwortete er.

Sie standen im kühlen Schatten des Waldsaumes, und die Sonnenstrahlen hatten hier noch nicht den Tau aus der Rasennarbe weglecken können. Es rauschte durch die Kronen wie Meeresbrandung; der wohlige Gegensatz zur langen, heißen Wanderung war so groß, daß Joachim tief befriedigt aufseufzte.

»Geht es immer durch den Wald?«

»Bis beinahe zum Dorfe. Sie können nicht fehl gehen, die Chaussee schneidet schnurgerade durch den Wald, und dann sehen Sie Mittelbach. Adrienne werden Sie im Park mit ihrem Kleinen finden, vor einer Stunde habe ich sie da verlassen. Ich würde Sie begleiten, allein erstens ist es ein ungemütliches Zusammengehen – einer zu Fuß, der andere zu Pferd; sodann muß ich zu den Wiesen hin; die Leute fangen heute beim Heuen an. Die Wiesen liegen da hinaus« – sie zeigte mit der Reitgerte rechts am Wald entlang – »und bilden eine Art Scheide zwischen Driesa und Mittelbach; das Flüßchen in der Mitte, das zur Elbe geht, bildet die Grenze. Das zeige ich Ihnen alles morgen. Für heute widmen Sie sich nur ganz Ihrer Schwägerin. Adrienne kann Ihnen inzwischen Ihre Zimmer anweisen. Also – auf Wiedersehen!«

Sie neigte sich und reichte ihm die mit einem Stulphandschuh bekleidete Rechte, mit der Linken so lange Zügel und Gerte zusammenfassend. Joachim[103] empfing den freundschaftlichen Händedruck, klopfte noch dem Pferd den Hals, sagte: »Ein schönes Tier!« und verneigte sich, Abschied nehmend. Fanny nickte noch einmal.

Er sah ihr eine Weile nach.

»Wie elastisch und stolz zugleich sie sich hält. Famos! Sehr formell und schwierig scheint sie nicht. Merkwürdig, mir ist es, als kenne ich sie schon lange. Und wie schön ihr Auge und ihr Lächeln ist!«

So dachte Joachim mit einer Art von objektiver Bewunderung, als stände er etwa einem schönen Bilde gegenüber, das er anstaunte, aber das ihn weiter nichts anging.

Noch froher schritt er fürbaß. Fannys Emanzipation war wenigstens nicht in unweibliche Manieren gekleidet. Joachim hatte merkwürdigerweise die vorgefaßte Meinung, daß Fanny eine selbstherrliche, emanzipationseifrige Person sei. Mochte das, was er so beiläufig dann und wann von ihrem selbständigen Wirken, von ihrem zielsichern Wesen gehört, ihm unmerklich diese Ansicht beigebracht haben – genug, er hatte das Vorurteil und war mit dem Vorsatz gekommen, sich nicht in den Bereich ihrer Weltverbesserungsideen ziehen zu lassen und überall ihr gegenüber seine Selbständigkeit zu bewahren. Es schien aber doch so, dem Gesamteindruck des ersten Augenblicks nach, daß sich werde mit ihr leben lassen.

Da war das Dorf, die Kirche, die Pfarre. Er[104] brauchte niemand um den Weg zu fragen, die Ulmenallee wies diesen von selbst. Doch besann er sich, daß seines Bruders Frau mit seinem kleinen Neffen und Patchen im Park sein sollte. Kecklich bog er gleich seitwärts um das Haus, mochte der Hofhund, der vorn an der Kette lag, gleich in wütendem Gebell die Frechheit des Fremden bekläffen.

Ah, hinten sah das vornehmer aus als vorn, wo der altmodische Beischlag, die düsteren Linden, das hohe Ziegeldach des Hauses und rechts und links am Hofe die langgestreckten Scheunen dem Ganzen einen ernsten, unschönen Charakter gaben. Hinten aber öffnete sich der prächtige Park, lud die mit gärtnerischem Schmuck umzierte Terrasse ein. Joachim folgte aufs Geratewohl einem Wege, der sich durch Gebüsch zur Parktiefe wand. Nicht lange, und ein weißes Gewand schimmerte durch das Grün. Nun hob er den Fuß mit Vorsicht. Er wollte mit dem Uebermut seiner fünfundzwanzig Jahre die Schwägerin erschrecken. War er doch der einzige, mit dem Adrienne je lachte, denn seiner unverwüstlichen Frohnatur widerstand ihre Teilnahmlosigkeit nicht.

Der Weg öffnete sich zu einer kleinen Rundung, in deren Mitte eine Riesenfichte himmelan strebte. Eine Bank stand unter dem Baum, doch an der andern Seite, so daß die darauf Sitzende Joachim den Rücken oder vielmehr in einer halben Wendung den Seitenumriß ihrer Gestalt zeigte. Das Gesicht und Haar,[105] die man bei dieser Stellung auch in den Profilinien hätte sehen müssen, waren unter einem jener mächtigen Gartenhüte aus weißem Musselin verborgen, die man Helgoländer nennt und die mit ihrem niederfallenden Stoffteil selbst noch den Nacken decken. Die Dame hatte ihre Ellenbogen auf den Rand des vor ihr stehenden Kinderwagens gestemmt und drehte in den zusammen emporgehaltenen Händen mechanisch eine Rose. Es war ein hübsches Bild; durch die Baumverzweigungen fielen einzelne Lichtflecke auf das im Schatten stehende weiße Gewand.

Joachim stand einige Sekunden und freute sich daran. Seine Gedanken flogen nach dem fernen Weltteil zum geliebten Bruder. Was der für eine Freude hätte, wenn er jetzt hier so lauschen könnte! Und wie voll und rund Adrienne geworden war bei aller Schlankheit! Daß sie eine so wunderbare Figur, so entzückende Händchen habe, war Joachim nie aufgefallen.

Er schlich näher, und über die Schultern der vor ihm Sitzenden hinweg plötzlich ihre Hände fassend, küßte er sie mit kühner Wendung über das Hutungeheuer hinweg auf den Mund. In der Sekunde oder vielmehr in dem Bruchteil der Sekunde, welcher verstrich von da an, daß Joachims Augen das Gesicht unter der weißen Umrahmung erfaßten, bis er auch schon seine Lippen auf den Frauenmund preßte, war es blitzgleich ihm gewesen, als sei's ein fremdes Gesicht. Aber Geberde und Lust zum Kusse waren in der[106] winzigen Zeitspanne eines Herzschlags nicht mehr aufzuhalten. Auch war Joachim nicht der Mann, seine Lippen zu schließen, wenn ein Frauenmund nicht weiter von ihnen war als kaum eines Fingers Breite. So, halb im Irrtum, es sei Adrienne, halb im jähen Schreck, sie sei es nicht, küßte Joachim einen heißen, blühenden Mund und starrte dann in zwei dunkle, entsetzte Augen.

In der Stummheit einer halben Minute, die zwischen den beiden sich verdutzt Anschauenden brütete, war Joachim von dem angenehmen Bewußtsein erfüllt, daß er für die Verwechslung nicht verantwortlich und gar nicht strafbar sei. Ja, er schaute mit begreiflichem Interesse auf das Gesicht, das – er mußte es sich zugeben – nicht schön, aber unglaublich interessant war.

»Meine Gnädigste,« begann er endlich mit aller Mühe, sehr ernst auszusehen, »ich bitte um Vergebung. Aber Frau Förster sagte mir, Adrienne sei mit meinem Neffen im Park, und da ich Gründe hatte, mir Adrienne in Weiß gekleidet vorzustellen, so war die Ueberrumpelung gewiß verzeihlich.«

»Also Herr von Herebrecht?« fragte sie, ihn immer noch groß ansehend.

»Allerdings! Und soll ich auf die Gegenwart der Hausherrin warten, um in feierlicher Vorstellung auch Ihren Namen, meine Gnädigste, zu erfahren?« fragte Joachim in seinem flottesten Ton entgegen.

»Ich heiße Severina,« sagte sie und errötete tief.[107]

»Merkwürdig – hat sie keinen weitern Namen? Ums Himmels willen, sollte es am Ende eine Bonne oder so was sein? Dann könnte ich gleich noch einmal ... aber nein, dazu ist sie zu ... ja ... wie denn? – zu apart,« dachte Joachim.

»Ich gehöre ins Pfarrhaus und habe Frau von Herebrecht Gesellschaft geleistet, die eben gegangen ist, sich zum Essen anzukleiden,« fuhr Severina fort.

»Also das Pastorentöchterlein!« rief Joachim lachend; »da muß ich mit erhöhter Eindringlichkeit um meines Ueberfalls willen Vergebung erflehen; denn meine Begrüßung als fromme Gewohnheit werkeifriger Nächstenliebe aufzufassen, dürfte ...«

»Dürfte selbst einem Landpastor die Herzenseinfalt fehlen,« fiel Severina ihm in die Rede, ebenfalls lachend, aber wie ihn däuchte, in etwas erregtem Tonfall.

Er sah ihr in die sprühenden Augen und hielt ihr die Hand hin.

»Schlagen Sie ein, darauf, daß dieser kleine Vorfall unter uns bleibe und unserem Verkehr – auf den wir doch wohl angewiesen sind – nichts von seiner Harmlosigkeit nimmt.«

Sie legte ihre Hand in die seine.

Er sah auf die kühlen Finger nieder und unterdrückte mühsam die Bemerkung, daß es die schönste Hand sei, die er je gesehen. Severina sah aber den Blick der Bewunderung, erglühend zog sie ihre Hand zurück.[108]

In diesem Augenblick schrie das Kind im Wagen kurz auf.

»O, ich Rabenonkel!« rief Joachim; »ich vergesse über schönen Augen und heißen Lippen unsern Herebrechtschen Stammhalter.«

Das entfuhr ihm so, er schien überhaupt Severina ganz vergessen zu haben, stand über dem Wägelchen gebückt und plauderte dem Kleinen das unglaublichste dumme Zeug vor. Das Kind sah mit großen, wundernden Augen zu dem fremden Mann empor. Die liebevolle, wohllautende Stimme war ihm ein unterhaltendes Geräusch, es blieb ganz stumm.

Severina sah dem drolligen Bild zu. Joachim war entzückt, mehr als das, er war stolz, in dem Kleinen ein so klugäugiges, rundbackiges Wesen zu finden, und erging sich in Ausdrücken der unbegrenzten Bewunderung. Schließlich war es ja natürlich – Arnolds Sohn konnte kein Alltagskind sein. Und wie der Bengel Arnold ähnlich sah! Die ganze unendliche Liebe zum Bruder brach in leuchtender Wärme aus dem fast kindischen Gebahren.

»Wie muß er ihn lieben!« dachte Severina. »Wer auch einen Bruder hätte – auch so geliebt würde!« fügte sie bitter für sich hinzu. Ihre Augen hafteten dabei mit einem seltsamen Gemisch von Teilnahme und Neid auf Joachim, der die kleinen Fingerchen seines Neffen einzeln küßte. Und plötzlich begegnete er diesem Blick.[109]

Er schnellte in die Höhe.

»Was ist hier denn für ein Lärm ... Joachim ... Joachim!« rief Adrienne. Es war das erstemal, daß Severina die Stimme dieser Frau lebhaft erschallen hörte. Mit einem Freudenruf sprang Joachim auf sie zu und fiel ihr um den Hals.

»Nun haben wir beide uns doch, da ist's leichter zu tragen, daß Arnold weg ist,« sprach er.

»Du guter Junge! Und wie Du wohl aussiehst!«

Adrienne küßte ihn. Dabei sah Joachim an ihrem Haupt vorbei auf Severina, so übermütig, als wollte er sagen: »Das haben wir schon abgemacht.«

»Hat Arnold kürzlich geschrieben?«

»Nein.«

»Kann der Junge schon Onkel sagen?«

»Wo denkst Du hin! Noch nichts. Er ist ja noch kein halbes Jahr.«

»Ich verstehe nichts von Babies.«

So ging das schnelle Reden hin und her. Severina fühlte sich namenlos überflüssig und ging schnell davon. Es sah wie eine Flucht aus, und ihr Herz klopfte dabei.

»Er sieht aus wie das Glück und die Freude selbst,« dachte sie, und ein Zittern lief durch ihre Glieder.

»Warum geht sie?« fragte Joachim.

»Sie denkt zu stören.«

»Für eine Pastorentochter sieht sie recht wenig zahm aus,« sagte Joachim, der Gestalt mit dem graziösen Gang eifrig nachsehend.[110]

»Sie ist ein Pflegekind. Eine Verwandte der Frau Pastorin hatte das Unglück, bei der Geburt einer Tochter zu sterben, ohne kundgethan zu haben, wer der Vater sei. Severina, das Mädchen mit dem ernsten Kalendernamen, ist nun von der Pastorin auferzogen und ausersehen, als Büßerin durchs Leben zu wandern. Aber was von Natur einmal darin steckt: die Energie, die Liebe zum Schönen und Anmutigen, der selbständige Geist, das bringt kein fortwährendes Predigen heraus,« erzählte Adrienne.

»Armes Mädchen!« rief Joachim, von starker Teilnahme ergriffen.

»Dank Fannys Eingreifen, dem die Pastorsleute nicht widerstreben können, ist Severinas Bestimmung, eine asketische Betschwester zu werden, immer noch ihrer Erfüllung sehr fern. Fanny zieht das Mädchen viel in ihre Nähe, kleidet sie ganz und gar, wenn auch einfach, so doch, wie Du siehst, sehr anmutig, und wenn sie ausfährt, ja sogar auf Reisen nimmt sie Severina mit. Dafür betet diese natürlich Fanny an, als sei sie kein Weib, sondern ihr Gott.«

»Das begreift sich.«

»Aber nun komm ins Haus, in Deine Stuben.«

Joachim ließ es sich nicht nehmen, den Kinderwagen zu schieben, Adrienne ging neben ihm her.

»Langweilen werde ich mich hier nicht,« dachte er zufrieden, »so viel nette Frauen! Erstens meine Schwägerin, sodann die Hausfrau, die offenbar ebenso[111] gütig als verständig ist, und endlich das Mädchen mit dem Gesicht, das aussieht, als könne aus Augen und Mund ein Flammenstrom sich ergießen ... du bist ein Glückspilz.«

An der Terrasse kam ihnen die Magd entgegen, die den Kinderwagen an sich zog. Joachim und Adrienne schritten durch den Saal, über den Flur in die Zimmer, welche für den neuen Hausgenossen fertiggestellt waren. Sie lagen vorn, nach dem Gutshof hinaus.

»Hier aus Deiner Wohnstube führt die Thür links in Dein Schlafkabinet, rechts in die sogenannte Amtsstube, welche Fannys Audienz- und Arbeitszimmer ist. Ihre Privatzimmer liegen gerade über den Deinen,« erklärte Adrienne.

»So ist es recht,« scherzte er, »das Auge der Regentin und ihres ersten Ministers muß das Arbeitsreich jederzeit im Auge haben.«

Behaglich sah er sich in den einfachen, wohnlichen Räumen um. Als er dann über dem Sofa ein kleines, hübsch eingerahmtes Bild seines Bruders fand, drückte er der Schwägerin gerührt die Hand.

»An so etwas denkt nur eine Frau. Wie liebevoll ersonnen! Und ein Epheukränzchen ist darum.«

»Ich that das nicht,« sagte Adrienne verlegen; »Fanny weiß, daß Du Arnold so lieb hast.«

Joachim wollte alle Briefe lesen, die bislang von Arnold eingetroffen seien, Adrienne holte sie herbei, man las und plauderte zusammen, dann wollte Joachim auch ihre Wohnung sehen.[112]

»Donnerwetter,« sagte er oben, »Fanny muß ebensoviel Geld als Gutmütigkeit haben.«

Der gewisse Respekt, den wohlangewendeter Reichtum immer einflößt, erfüllte schon Joachims Seele.

So wurde es Mittag, und erst kurz vor der Essensstunde, die auf Mittelbach um vier Uhr anberaumt war, konnte Joachim Fanny begrüßen. Sie hieß ihn nochmals mit gütigen Worten willkommen und stellte ihn dem eben von Driesa herübergekommenen Lanzenau vor, der seinerseits dem jungen Mann mit väterlichem Wohlwollen die Hand schüttelte.

»Wo ist denn das interessante Fräulein, das ich heute morgen im Park sah?« fragte Joachim.

Lanzenau und Fanny lächelten über die unbefangene Art, sogleich nach dem einzigen jungen Mädchen des Ortes sich zu erkundigen.

»Severina ist nach Hause gegangen, kommt aber mit der ganzen Familie heute nachmittag her. Zur Feier Ihrer Ankunft muß unser kleiner Kreis sich doch vereinen,« sagte Fanny.

Adrienne wurde rot. Der Gedanke, daß Joachim mit dem jungen Doktor Magnus Hesselbarth bekannt werden würde, sich vielleicht gar mit ihm befreunden könne, war ihr seltsam unbehaglich.

Während des Speisens mußte Joachim von dem Gut und der Familie erzählen, wo er bisher als Oekonomievolontär gelebt. Er that es mit heiterem Freimut. Fanny neckte ihn sogar ein wenig mit der[113] »kleinen Elly«, die in seinem Brief eine so große Rolle gespielt habe, und Lanzenau schenkte ihm allemal sein Glas voll, wenn er es leergetrunken. Es war eine Art zärtlicher Protektion, mit der ihn alle hier behandelten. Joachim empfand es angenehm, aber nicht auffallend; er war es eben gewöhnt, daß alle Welt herzlich und fröhlich mit ihm verkehrte. Gott mochte wissen, woher das kam; er war innerlichst davon überzeugt, soweit ein ganz ehrenhafter, braver Junge zu sein, aber was Bedeutendes hatte er nie geleistet noch an sich gehabt, noch würde er je dergleichen vollbringen. So war's denn seine Pflicht, allen Menschen für das gütige Entgegenkommen durch ein möglichst lustiges und bescheidenes Wesen zu danken.

»Ein zu lieber, netter junger Mensch,« sagte Fanny nach Tisch vergnügt zu Lanzenau.

»Ja, er ist das, was man einen liebenswürdigen Jungen nennt. Eins von den Sonntagskindern, die einem das Herz erfreuen schon durch ihr bloßes Dasein,« meinte Lanzenau.

Als Fanny dann in ihrem Arbeitszimmer mit den Dorfbewohnern – davon täglich der eine oder die andere erschien – deren Weh und Ach überlegte und verbesserte, war es ihr eine angenehme Empfindung, nebenan jemand rumoren und pfeifen zu hören. Joachim packte seine eben angekommenen Sachen aus. Als er damit fertig war, klopfte er an und trat von seiner Wohnstube aus ein.[114]

»Wir haben, meine gnädigste Frau,« begann er, »mein Hieherkommen durch einen Depeschenwechsel abgemacht. Vielleicht haben Sie selbst schon daran gedacht, daß es doch noch einige Punkte zu erledigen gibt, deren wichtigster wohl der ist, den Umfang meiner Thätigkeit zu bestimmen.«

Fanny, die eben den letzten Bittsteller entlassen, drehte sich auf ihrem Stuhl Joachim zu, steckte die Feder hinter das Ohr, trommelte mit den Fingern der Rechten auf den Tisch, während sie die Linke in ihrem Schoß ruhen ließ, und sagte eifrig:

»Natürlich, natürlich. Auch Ihr Gehalt ...«

»Bitte, das ist vorerst nebensächlich. Das sag' ich aber nicht, weil ich in lächerlichem Hochmut es peinlich empfände, vom Geld als dem Lohn meiner Arbeit zu sprechen, sondern weil die Arbeit selbst mir meiner Lage nach zunächst das Wichtigste ist. Was mir notthut, um meine Laufbahn gut zu beginnen, ist ein großes und verantwortliches Thätigkeitsfeld. Wenn Sie mir dies nicht anweisen können, Frau Förster, so wäre mein Hiersein herzlich überflüssig. Ich bin gekommen, gleich und freudig, weil ich mir dachte, wenn Sie mir nicht schaffen können, was ich fordern muß, so werden Sie Adriennens Schwager gewiß ein paar Wochen als Gast behalten, bis er eine Stellung gefunden. Mich bei Ihnen, verehrte Frau, in einer Zwitterstellung als Gast und Verwandter einerseits und Gutsinspektor andererseits auf die faule Seite zu legen,[115] wäre eine – eine – ja, eine Unanständigkeit, die ich weder vor Arnold noch vor mir selbst verantworten könnte.«

Fanny sah mit ihren großen, klugen Augen in sein Gesicht, das in diesem Augenblick von männlichem Stolz durchleuchtet war.

»Ich habe vor wenig Tagen meinen Verwalter von Driesa entlassen müssen, weil jener sich ein Gütchen im Mecklenburgischen gepachtet. Anstatt wieder für Driesa jemand zu suchen, ist Lanzenau hinübergesiedelt, ich reite jeden Morgen dahin. Sie, mein lieber Joachim, sollen alleiniger Administrator von Mittelbach sein,« sagte Fanny herzlich. »Sie werden eine Ueberfülle von Obliegenheiten finden. Daß Sie, wenn dieselben erledigt sind, als Familienmitglied sich in meinem Heim zu Hause fühlen mögen, ist natürlich mein Wunsch.«

»Weshalb haben Sie mir nicht Driesa zugewiesen?« fragte Joachim. »Es wäre bequemer für Sie gewesen.«

»Gewiß – ja,« sagte Fanny etwas befangen. »Aber da Lanzenau früher Eigentümer von Driesa war und noch sein Vermögen darin stehen hat, so werden Sie begreifen – daß ein besonderes Interesse Lanzenaus ...«

Sie stockte. Das Lügen ging ihr nicht von der Zunge.

Joachim war zufrieden. Als alleiniger Verwalter des großen Gutes fühlte er sich vollkommen beruhigt wegen seiner Stellung. Fanny nannte ihm die Summe, die sie sich als seinen Gehalt gedacht. Diese war durchaus in den Grenzen der für solche Stellung natürlichen[116] Besoldung. Als Joachim in der ersten Sekunde über die Höhe derselben erschrecken wollte, erinnerte er sich in der zweiten, daß sein Freund Soundso, der das Gut des Grafen Soundso verwaltete, einen ähnlichen Gehalt bekomme. Die bei einer Frau so seltene Unbefangenheit, mit der Fanny auch diesen Punkt erläuterte, berührte ihn sehr angenehm. Wahrlich, es schien, als stehe sie allezeit über den Dingen.

»Es fährt ein Wagen in den Hof,« bemerkte Joachim, zum Fenster hinsehend.

»Der Jagdwagen des Grafen Taiß!« rief Fanny und sprang auf. Geschwind schloß sie Bücher und Geldnapf in die Schublade ihres Schreibtisches, aber noch ehe sie damit zu Ende war, öffnete der Diener schon die Thür vom Flur her und meldete:

»Der Herr Graf!«

Taiß folgte augenblicklich, Fanny streckte dem hohen, bärtigen Mann beide Hände entgegen.

»Haben Sie einen Platz für mich an Ihrem Abendtisch, teure Frau, und eine Stätte für mein Haupt zur Nacht?«

»Beides. Fritz,« rief sie dem Diener nach, »das Zimmer für den Herrn Grafen!«

Der Graf, eine stolze Erscheinung, gut gewachsen und tadellos gekleidet, mit jener Eleganz, die der letzten Mode zu folgen weiß und doch das Geckenhafte vermeidet, hatte ein sonnenverbranntes Gesicht, dessen untere Hälfte sich in einem kurz gehaltenen dunklen[117] Vollbart verbarg, über den die flatternden Enden des viel hellern Schnurrbarts hingen. Aus den nicht schönen, aber angenehmen Zügen traten eine wohlproportionirte Nase und ein helles, adlerscharfes Augenpaar hervor.

Dies streifte jetzt Joachim, den Fanny alsbald vorstellte.

»Ich bin auf einer Rundtour. Weshalb? – später. Für jetzt bin ich nur froh, daß Sie daheim sind und nicht alle Fremdenstuben voll haben!« rief Graf Taiß.

»Sie wissen, ich lebe immer still für mich weg. Nur im September ist es lebendig hier.«

»Meine Frau und meine Schwester senden tausend Grüße – sie werden sich wie alljährlich im September einfinden,« sagte der Graf. »Leonore hatte die größte Lust, mich heute zu begleiten, aber das mochte ich nicht wagen, Sie gleich mit der Gattin zu überfallen.«

»Sie hätten es nur thun sollen. Frau von Herebrecht ist auch hier. Bitte, lieber Joachim, benachrichtigen Sie Adrienne. Herr Graf wird sich in seinem Zimmer vom Staub der Landstraße befreien wollen – Pastors werden auch inzwischen kommen – also: Rendezvous auf der Terrasse!«

Taiß küßte Fanny die Hand und ging hinaus. Joachim sah dem eleganten Mann mit dem langen rehfarbigen Paletot nach.

»Ist das der bekannte Konservative?« fragte Joachim.[118]

»Ja. Aber, bitte, sagen Sie Adrienne Bescheid.«

Zwei Stunden später saß die ganze Gesellschaft um den Theetisch auf der Terrasse. Der Samowar stand vor Severina, die den Thee einschenkte. Joachim saß neben ihr und sah es als sein Recht und seine Pflicht an, ihr zu helfen, wie er sich denn überhaupt immer unwillkürlich zu ihr gesellte, kraft der Zusammengehörigkeit der Jugend. Die Pastorin strickte mit rasender Geschwindigkeit. Adrienne lag in den Schaukelstuhl zurückgelehnt und hatte die zarten Hände im Schoß gefaltet. Fanny nähte an einem Flanelljäckchen. Die Herren rauchten Cigarretten, mit Ausnahme des Pastors, der nur Erlaubnis tagsüber zu zwei Pfeifen hatte. Magnus sah von Zeit zu Zeit flüchtig über Adrienne hin, schien aber sonst ganz beschäftigt, respektvoll dem Gespräch zuzuhören, das Graf Taiß und Lanzenau leiteten.

Es hatte sich sehr lange und lebhaft mit den neuen Kolonien beschäftigt, wozu Arnolds Reise die natürlichste Veranlassung gegeben. Adrienne konnte den Binnenlandsbewohnern manche kleinen Dinge aus dem Leben der Marineoffiziere erzählen, die neu und interessant waren. Aber seit Graf Taiß erzählt hatte und durch eine Notiz aus der Kreuzzeitung zu belegen wußte, daß das Kommando der Offiziere und Besatzung der »Maria« schon klimatischer Verhältnisse wegen nach einem Jahr abgelöst werden würde, seit dem war sie in Schweigen[119] versunken, ein Schweigen, das sowohl Fanny als Magnus auffiel.

»Sie scheint nicht glücklich darüber,« dachten beide. Und Magnus sah sie darauf öfters an.

Die Pastorin warf, je angeregter Taiß im Gespräch wurde, um so häufiger einen Seitenblick auf den Whisttisch, der am andern Ende der Terrasse aufgerichtet war.

»Wissen Sie,« sagte Taiß, »daß unser bisheriger Vertreter im Reichstag, der alte von Behren, sein Mandat wegen Altersschwächlichkeit niederlegt und daß wir an eine Neuwahl denken müssen?«

Fanny sah ihn sehr mißtrauisch an.

»Sind Sie deshalb gekommen?« Taiß nickte. »O weh,« sagte sie, »mir wird bange!«

»Vor der Politik – das kennen wir,« meinte Lanzenau, »aber vielleicht ist Taiß nur gekommen, uns zu sagen, daß er selbst das seit fünfzehn Jahren von Behren innegehabte Mandat übernimmt.«

»Keineswegs,« erklärte Taiß; »ich werde meinem bisherigen Wählerkreis nicht untreu. Schmettow will für uns kandidiren, aber es ist ein sozialdemokratischer Gegenkandidat zu fürchten, der bekannte Schneider Mülding.«

»Wie schade!« seufzte Fanny; »ehedem erbte es sich von Periode zu Periode als Selbstverständlichkeit fort, daß Behren gewählt wurde. Nun gibt es Wühlereien, die Leute bekommen mir Raupen im Kopf, der Wirt verdient. Unser Idyll ist zerstört. So kann[120] der Frömmste nicht im Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.«

»Alle dem können Sie für Driesa, Mittelbach und Ihre Vorwerke vorbeugen, teure Frau, wenn Sie meinem Plan zustimmen. Versammeln Sie morgen Ihre Bauern, halten Sie ihnen eine Rede und sagen Sie den Leuten, daß sie unsern Kandidaten wählen sollen. Bei der blinden Verehrung, welche man Ihnen zollt, werden uns die hundertunddrei Stimmen Ihres Reiches bedingungslos zufallen.«

»Ich,« rief Fanny mit blitzenden Augen, »ich sollte mich mit Politik befassen? Niemals! Die Rede, welche ich den Leuten halten würde, möchte ein Unikum sein und Ihnen für immer Stoff zum Lachen geben.«

»Aber eine Frau muß doch Stellung nehmen zu den großen Fragen der Zeit!« rief Taiß entgegen.

»Die großen Fragen der Zeit, das sind für jede Partei nur ihre Prinzipienreitereien.«

»So wollen Sie uns patriotische Ziele und ehrliche Bemühungen absprechen?«

»Keineswegs; aber ihr alle, von welcher Farbe ihr auch sein mögt, ihr kommt mir oft vor wie Menschen, die einer Kugel nachschieben, die ohnehin schon rollt. Viel unnützer Aufwand ist dabei,« sagte Fanny.

»So haben Sie gar keine politische Ueberzeugung? So ist Ihnen die innere und äußere Entwicklung des Vaterlandes gleichgiltig? So wollen Sie, eine Frau von hervorragender Intelligenz, teilnahmslos zusehen?[121] Was soll man dann von den minder Begabten, den minder Selbständigen erwarten? Und überall sieht man doch die Frauen aus den bisherigen Grenzen hinausstreben,« sprach Graf Taiß lebhaft.

»Das sind viele Fragen auf einmal,« sagte Fanny ruhig, »aber ich will sie Ihnen kurz beantworten. Ob die Kürze auch Bündigkeit ist, bleibe dahingestellt. Ich halte mich gern an den Ursprung der Dinge, um sie recht zu verstehen. Da die Natur nun einmal von Anfang an die große Teilung der Daseinsaufgaben vorgenommen und Mann und Weib je eine besondere Hälfte zugewiesen, so beuge ich mich kritik- und willenlos vor der großen Meisterin. Gewiß ist, daß im Laufe der Kulturentwicklung die Grenzen erweitert worden sind, die Wirkungs- und Ideenkreis der Frau einschlossen – er ist gewachsen mit dem des Mannes, der seinerseits, als die Frau sich mit Linnenweben und Kindertränken begnügte, auch bloß der Jagd und den primitivsten Staatsgeschäften, dem brutalsten Verteidigungskrieg oblag. Heute nimmt er an den grandiosen Formen des Weltverkehrs, des politischen Lebens, der wunderbarsten Erfindungen, der tausendfältigen Erwerbsthätigkeit als Mitwirkender oder Nutznießer oder wenigstens als kritischer Zuschauer teil. Soll das Weib ihm wie einst Gefährtin sein, so muß auch sie die Vorgänge der Zeit verstehen, wie sie ohne Zweifel damals verstehend zuhörte, wenn der Gatte vom Bärenfang, von wilder Schlacht erzählte. Die Mehranforderung[122] verführt nun viele, die natürlichen Grenzen zu vergessen, und die Pflicht, zu begreifen, mit der Pflicht, zuzugreifen, zu verwechseln. Das heißt aber gegen ewige Gesetze sündigen.«

Lanzenau nickte, er kannte Fannys Glaubensbekenntnis wohl. Die Pastorin nickte auch, dachte aber, daß Fanny nur einfach hätte sagen sollen, es stehe schon in der Bibel, und alles andere sei Teufelsversuchung.

»So ordnen Sie das Weib dem Manne unter?« fragte Magnus, in der Hoffnung, ein Ja zu hören.

»Keineswegs,« sprach Fanny, ungestört an ihrem Jäckchen weiternähend; »das ist, wenn es geschieht, eine ebenso große Lächerlichkeit, als wollte man beispielsweise sagen: Der Kaufmann ist wichtiger als der Landwirt, die Bildhauerei höher als die Musik, die Luft nötiger als Wasser. Die Verschiedenheit der Dinge gibt noch keine verschiedene Rangordnung. Jeder steht vollfähig und unentbehrlich an seinem Platz. Aber daß nur nicht die Plätze verwechselt werden! Daraus entsteht Unheil.«

Joachim, der mit wachsendem Staunen den Aeußerungen der Frau zuhörte, die er für emanzipirt gehalten, rief hier: »Aber Sie, verehrte Frau, Sie beweisen doch durch Ihr eigenes Leben, daß eine Frau ganz den Platz eines Mannes ausfüllen kann!«

Fanny, die gerade mit dem Fingerhut eine Naht auf dem Tisch glatt strich, sah auf und über den Tisch zu ihm hin.[123]

»Beweisen? Ich?« sagte sie. »Gott bewahre, ich will nichts beweisen. Ich lebe so, wie meine Individualität es heischt, ich erfülle meine Pflichten, zwischen denen freilich manche sind, die sonst der Hausherr trägt; aber meine Kräfte reichen.«

»Aber wenn Förster lebte, was hätten Sie dann bei minderer Beschäftigung mit dem Ueberschuß Ihrer Fähigkeiten angefangen?« fragte Graf Taiß, der im Grunde von Fannys Ansichten entzückt war und nur für seine augenblicklichen Zwecke gern ein teilweises Zugeständnis vernommen hätte.

»Ich weiß nicht. Hoffentlich wäre ich so gescheit gewesen, mir in der Armenpflege und in der Ausübung meines bißchen Maltalentes Beschäftigung zu machen. Sicherlich ist das Leben von Frauen, die mehr Leistungsfähigkeit haben, als ihre Stellung in ihrem besondern Dasein von ihnen fordert, immer ein gefahrvolles. Wenn sie durch Selbsterziehung oder durch einen liebevollen Gatten dahin geleitet werden, ihren Pflichtenkreis gesund zu erweitern, sind sie gerettet, andernfalls liefern sie einen starken Bruchteil zu den ›unverstandenen‹ und somit auf abschüssigen Pfaden wandelnden Frauen. Gehen die Fähigkeiten aber sehr weit ins Männliche hinüber – die Natur liebte zu allen Zeiten solche Spielarten – so muß die Frau eben ihren Ausnahmeweg gehen. Aber glauben Sie mir, die George Elliot, die Angelika Kauffmann, George Sand, Maria Theresia, und wie die großen Frauen auf den[124] verschiedenen Gebieten heißen, entbehrten das stille, reine Glück des Weibes. Sie hatten auch das Glück, aber es trug das Antlitz einer Sphinx, es hatte glühende, drohende Augen und ein bitteres Lächeln um den Mund.«

Fanny war erregt geworden, und eine leichte Blässe lag über ihrem Gesicht.

»Das rechte Glück kommt nur durch Glauben und Demut,« murmelte die Pastorin, auf Severina blickend, die mit großen Augen und gespannten Mienen zuhörte.

»Auch wird jede Frau,« fuhr Fanny, zum Ausgangspunkt des Gesprächs zurückkehrend, fort, »wenn sie durch Verhältnisse gezwungen und durch Anlage befähigt ist, aus der Stille des Hauses herauszutreten, immer zuletzt irgendwo scheitern, und zwar nicht an Mangel von Verstand, sondern an Ueberschuß von Gefühl. Es kommt immer einmal eine Stunde, wo das Herz sie blind und ungerecht macht.«

»Das ist bei Ihnen nicht zu fürchten,« bemerkte Lanzenau etwas bitter. Fanny sah ihn vorwurfsvoll an, lächelte aber sogleich wieder und scherzte:

»Wer weiß! Niemand soll die Ruhe seines Herzens vor seinem Lebensabend loben.«

»Und das Ende vom Lied ist,« sagte Graf Taiß seufzend, »daß Sie ablehnen, in die Wahlagitation für unsern Kandidaten Ihr unentbehrliches Gewicht zu werfen.«

»Allerdings,« sprach Fanny lachend, »mein Patriotismus ist der eines Frauenzimmers. Ich liebe meinen[125] Kaiser und sein Haus; hätte ich Söhne, würde ich sie stolz im Rock unseres Heeres sehen; meine Kasse ist allezeit offen für Zwecke, die der allgemeinen Wohlfahrt dienen. Und wenn Deutschland kleiner würde, möchte ich nicht mehr leben; aber die Regierungsgeschäfte von irgend einem Standpunkt rechts oder links zu bekritteln und zu verbessern, fühle ich mich nicht berufen.«

»So gestatten Sie mir, in einiger Zeit mit einigen Mitgliedern des Wahlkomites wieder zu kommen, damit wir eine Versammlung abhalten können.«

»Meinetwegen, lieber Taiß!«

»Unsere gute Pastorin sieht den Kartentisch mit einer gewissen Schwermut an!« rief Lanzenau. »Was meinen Sie, Herr Pastor, wollen wir anfangen? Sie sind von der Partie, Graf?«

»Mit Vergnügen!«

»Ich trete aus,« sagte der Pastor mit nicht allzu schwerem Herzen, denn er kannte Taiß als scharfen Spieler; auch stieß die Gegenwart von Gästen immer ihre billige Spieltaxe um.

»Bitte, nicht, Papachen,« bat Fanny schmeichelnd, »das Jäckchen muß noch fertig werden; Sie wissen, die Klassen ist noch zu schwach, selbst zu nähen, und das Kind hat nichts anzuziehen – ich kann nicht spielen.«

Ihr eine Bitte abzuschlagen, war der Pastor nie im stande. Er setzte sich mit dem Märtyrerbewußtsein,[126] daß die Geschichte ihn einen halben Thaler oder mehr kosten könne.

Adrienne und Magnus gingen langsam in den Park hinaus. Die Pastorin sah ihnen unruhig nach.

»Nun geht er wieder mit Frau von Herebrecht,« flüsterte sie ihrem Manne zu.

»So lasse ihn doch. Er kann doch nicht wie ein kleiner Junge immer an Deiner Schürze hängen,« sagte der Pastor.

»Was haben Sie morgen für ein Thema?« fragte Taiß. »Ich denke in die Kirche zu kommen.«

»Sehr freundlich!« sprach die Pastorin beglückt. Sie sah es immer als persönliche Höflichkeit an, wenn man zu ihrem Gatten in die Kirche kam.

»Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich wie ein tönendes Erz und eine klingende Schelle,« sagte der Pastor.

»Das schönste Thema! Lanzenau, wollen Sie eigentlich noch geben?« fragte Taiß.

Severina stand hinter Lanzenaus Stuhl, Joachim hinter dem des Pastors, ihr gegenüber.

»Ja, ein schönes Thema,« sagte auch Joachim und sah das Mädchen an. Ihre Augen schlossen sich halb, ihre Hände umgriffen klammernd die Stuhllehne.

»Wollen wir nicht Adrienne und Ihrem Bruder folgen?« fragte Joachim.

»Ach ja,« sagte die Pastorin, den ersten Stich einnehmend, »thut das.«[127]

Sie gingen in den Park und dachten nicht daran, die beiden anderen einzuholen. Joachim wollte Severina einmal ein bißchen »auf den Zahn fühlen«, das heißt, sie zu Mitteilungen über sich und ihr Leben veranlassen. Daß sie in seinem Interesse mehr als eben nur ein solches durch das nahe Beieinander der hiesigen Existenzen genugsam erklärtes sehen könne, fiel ihm nicht ein, und daß er ihr zuweilen in die Augen sah und überhaupt ihr ein wenig die Cour machte, war nach seiner Meinung das naturgemäße und selbstverständliche Verkehren zwischen zwei lebensfrohen jungen Menschen.

»Sie haben es wohl nicht allzu leicht im Pfarrhause?« fragte er.

»Alle meinen es gut mit mir; aber Sie wissen, auch die Hexenverbrenner meinten es gut,« sagte sie mit ihrem herben Lächeln. »Mama wittert in mir die schrecklichste Sündhaftigkeit und sieht bei allem meinem Thun Fallstricke des Teufels. Das Ermahnen hört nie auf. Papa hat Mitleid, er ist sehr gut. Das kommt eben, Mama glaubt an Beelzebub und Papa an den lieben, gütigen Gott.«

»Da würde Frau Pastorin es auch als Beelzebubs Werk ansehen, daß ich Sie küßte!« rief er lachend.

»O, sprechen Sie nicht davon!« flehte Severina erglühend.

»Warum nicht? War es so schrecklich?« fragte[128] er leichtsinnig. Sie trat an einen Busch, der von wilden Rosen wie übersät war, und riß einige Blüten ab. Er sah, wie ihre Hände dabei zitterten.

»Wenn Fanny nicht wäre,« fuhr Severina dann mit etwas heiserer Stimme fort, »lebte ich vielleicht nicht mehr; ich wäre verdurstet vor Sehnsucht nach Sonnenschein. Aber sie – sie versteht, was meine Seele füllt und daß ich bis an das Ende der Welt fliegen möchte, um ...«

»Um was?« fragte Joachim, sich zu ihr beugend.

Nein, wie konnte sie das sagen, wie nur schon so viel mit dem Manne sprechen, den sie so wenig kannte; ihre Lippen schwiegen. Ja, bis an das Ende der Welt möchte sie fliegen, um das lachende, ganze, sättigende Glück zu finden, um zu erfahren, was das Glück denn eigentlich sei. Wie sie am Herzen zehrte, diese gegenstandslose, unermessene Sehnsucht. Ihre Lippen schwiegen – aber ihr Auge, das dunkle Feuerauge schlug sie voll zu Joachim auf.

Der Blick rann ihm wie Flammenzüngeln durch alle Adern.

Er schwieg ein Weilchen, dann begann er von alltäglichen Dingen zu reden, dachte aber dabei mit einem schaurigen Behagen: »Das ist ja der reine Dynamit.«

Unterdes wanderten Adrienne und Magnus mit langsamen Schritten unter allerlei konventionellen Gesprächen weiter. Ganz im Gegensatz zu den beiden[129] jungen Menschen, die, sich selbst zu bewachen nicht gewohnt, schon nach den ersten paar Worten Persönliches und Vertrauliches zu verhandeln das Bedürfnis hatten, unterhielt Adrienne sich mit dem jungen Doktor über seine Arbeiten und den Gang seiner Studien. Er sprach viel Gelehrtes, das sie nur halb verstand, und sie machte Zwischenbemerkungen, deren Mangel an Logik ihm nicht weiter auffiel. Dennoch waren beiden Unterhaltung und Spaziergang von hohem Interesse. Schließlich kamen sie auf die moderne Literatur zu sprechen, und Magnus fragte nach diesem und jenem. Es fand sich, daß Adrienne diejenige Kenntnis der modernen deutschen Literatur hatte, welche ihr als Gouvernante nötig gewesen; eine Kenntnis also, die sich in ziemlich einseitiger Richtung bewegte.

Magnus bat um die Erlaubnis, den Damen zuweilen etwas vorlesen zu dürfen.

»Wenn Fanny dabei ist,« meinte Adrienne.

»Wir wollen sie nachher fragen.«

Das geschah beim Abendtisch, und Fanny fand den Vorschlag köstlich.

»Ohnehin fing ich an, mich zu vernachlässigen. Wir wollen zwei Nachmittage in der Woche festsetzen und diese ordentlich ausnützen, so zwar, daß ich, während Magnus liest, meine Staffelei nehme und nach einander für Arnold seine Lieben porträtire: erst Adrienne, dann Joachim, zuletzt, wenn ich dergestalt in Uebung bin, auch Baby.«[130]

»Eine Zeitausnützung, die Fanny ähnlich sieht,« sagte Lanzenau.

Fanny setzte gleich, da morgen, als am Sonntag, nicht daran zu denken sei, Montag für diese Stunden fest.

Als sie am Abend dieses Tages, nachdem Graf Taiß sich zurückgezogen und auch Lanzenau fortgeritten war, sich in ihr Zimmer begab, trat sie noch an das Fenster. Durch die Lindenwipfel raunte der Nachtwind, sternenlos drohte die wolkenschwere Finsternis. Sie dachte an das Heu auf ihren Wiesen und sah mit dem Licht nach dem Barometer, das innerhalb des Fensters an der Holzverschalung der Mauer angebracht war.

»Gefallen!« murmelte sie.

Plötzlich klang eine weiche und doch männliche Tenorstimme in die Nacht hinaus.

Fanny bückte sich vor. Unter ihr aus dem offenen Fenster brach ein Lichtstrom und lag auf Lindenstamm und Hof als trauliches Zeugnis, daß da unten jetzt jemand hause. Dem Licht, das aus Menschenwohnungen in die Nacht fällt, haftet immer ein eigener Zauber an. Es war Fanny unendlich behaglich, hineinzusehen.

Und wie Joachim sang – richtig – Adrienne hatte ja davon gesprochen. Er aber dachte offenbar nicht daran, daß vorn hinaus noch jemand schlafe und er also vielleicht mit seinem Gesang störe.

Nein, er störte auch nicht. Es war Fanny ein[131] sehr wohliges Gefühl, zu Bett zu gehen und dabei der schönen jungen Stimme zu lauschen, die, getragen und von offenbarer Lust an der eigenen Klangschönheit erfüllt, in die Nacht hinein das Scheffel-Hentschelsche Lied sang:


»Nun liegt die Welt umfangen

Von starrer Winternacht,

Was frommt's, daß am Kamin ich

Entschwund'ner Lieb' gedacht?


Das Feuer will erlöschen,

Das letzte Scheit verglüht,

Die Flammen werden Asche,

Das ist das End' vom Lied.


Das End' vom alten Liede,

Mir fällt kein neues ein,

Als Schweigen und Vergessen –

Und wann vergäß' ich dein?«


Fanny lauschte, lächelte und entschlummerte friedlich.[132]

Quelle:
Ida Boy-Ed: Fanny Förster, Stuttgart, Leipzig, Berlin, Wien 1889, S. 98-133.
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