Abschied dem Jahre 1834

[594] Leb wohl du Jahr voll Tränen!

O lasse mich an deinem letzten Tag

Noch einmal selig wähnen,

Daß ich an einem Kinderherzen lag!


Geh hin du Jahr voll Tränen!

Tritt glaubend hin vor Gottes Thron,

Er wird um krankes Sehnen

Dich strenge richten, nimmer doch um Hohn!


O selig Jahr voll Tränen!

War dir auch früh das tiefre Wort geraubt,

So war der Strom der Tränen

Zu ihren Füßen oft dir doch erlaubt!


O liebes Jahr voll Tränen!

O dichte Saat, wie segnend reift dein Schmerz,

O hochbelohnt! mein Sehnen!

Ich fühlte jauchzend, ja! sie hat ein Herz!


O Jahr von heißen Tränen!

Geheimnisvoller, als sie weiß, berauscht,

Was all sie kann verschönen,

Du hast in Tränen sterbend es belauscht.


O Jahr voll bitt'rer Tränen!

Ist irgend Gottes Wahrheit offenbar,

Ist vieles hier nur Wähnen,

So opfre, weine darum am Altar!


O Jahr voll tiefer Tränen!

Du magst vertraut dein armes müdes Haupt,

Ans Kreuz nur ruhig lehnen,

Du hast geliebet, hast gehofft, geglaubt.


O teures Jahr voll Tränen!

Du bist in bittrer Reue Flut getauft,[595]

Der wird uns auch versöhnen,

Der uns mit seiner Weihe Blut erkauft.


Geh hin! du Jahr voll Tränen!

Geh, werfe dich zu ihren Füßen hin!

Und wasche sie mit Tränen

Sag ihr, daß ich ihr armer Bruder bin!


Ihr Bruder ganz in Tränen,

Ihr kranker Bruder, um die eigne Schuld,

Um fremde Schuld in Tränen,

Ihr Bruder weinend um der Väter Schuld!


O sterbe Jahr in Tränen

Weil unsrer Väter Schuld die Kinder trennt,

Und diesen scheint ein Wähnen

Was unsre Mutter ew'ge Wahrheit nennt.


Leb wohl du Jahr voll Tränen,

O lasse mich an deinem letzten Tag

Noch einmal selig wähnen,

Daß ich an einem Kinderherzen lag.


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 594-596.
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