Die Gnaden-Wahl

[197] Wer nicht die Worte hält, die im Gesetze stehen,

Dem deutest du den Fluch, o Gott, mit Schrecken an;1

Wer aber wird von uns dem strengen Spruch entgehen,

Dieweil kein einiger sich dessen rühmen kan?2

Ja, wenn ein Sterblicher gleich alles könt' erfüllen,

Hätt' er zu deinem Reich darum kein besser Recht.

Die Wercke gelten nicht. Er thäte deinen Willen,

Doch wär er immerhin ein armer Sünden-Knecht.3

Ich weiß zwar, daß dein Sohn sein heil'ges Blut vergossen,

Und von der Missethat uns alle loßgezehlt.4

Wie vielen aber bleibt der Himmel doch verschlossen!

Weil du die wenigsten auf Erden auserwehlt.5

Wie soll ich das verstehn, daß du hast können hassen

Den Esau, der noch nicht des Tages Licht erblickt?6

Wie kan ich mit dem Arm des Glaubens dich umfassen,

Eh deine Liebe sich zu meiner Schwachheit bückt?7

Du wilst zwar deinen Geist, auf Bitte, mir gewehren,

Den Tröster, welcher uns zum Weg der Wahrheit führt;8

Wie aber kan ich, Herr, den Geist von dir begehren,

Wenn nicht derselbe Geist schon Hertz und Lippen rührt?9

Ich darff, als schlechter Thon, nicht mit dem Töpfer streiten,

Ich red', als ein Geschöpff, nicht meinem Schöpffer ein,

Sonst fragt' ich: kanst du mich so leicht zum Himmel leiten,

Warum steht mir es frey der Höllen Raub zu seyn?10[198]

Ist an des Sünders Heyl dir, Herr, so viel gelegen,

Sagt solches mir dein Mund und Eyd-Schwur selber zu?11

Warum vergönnest du, daß sich die Lüste regen?

Ist Satan, Welt und Fleisch denn mächtiger als du?

Ach Gott! so qvälen mich zum öfftern die Gedancken;

Noch mehr verwirret mich der Schrifftgelehrten Streit,

Wenn sie sich, nach der Kunst, um deine Worte zancken;

Wenn dieser Gnade bringt, und jener Sterben dräut.

Es scheint, als hätten sie mit dir im Rath gesessen,

Und da mit dir zugleich das Urtheil abgefaßt,

Weil sie sich unterstehn, nach ihrer Schnur zu messen,

Was du, Unendlicher, in dir verborgen hast.

Bald will die blasse Furcht mich in den Abgrund stürtzen,

Bald grübelt die Vernunfft, doch kan ihr frecher Tand

Und mein Gewissen nichts als Zweifels-Knoten schürtzen;

Dadurch nimmt Sicherheit offt bey mir überhand.

Zuletzt erhohl' ich mich, und flieh' in deine Wunden,

Mein Heyland, die dir nicht ümsonst geschlagen sind!

Im übrigen sey dir dein Rath-Schluß ungebunden,

Ich unterwerffe mich dir, Vater, als dein Kind.

Hilff, daß ich wandeln mag, als brächt' ein frommes Leben,

Mir hier in dieser schon die Schätze jener Welt;

Doch wollest du dabey mir solchen Glauben geben,

Der mein Verdienst für nichts, und dich für alles, hält.

Fußnoten

1 5. B. Mos. 27. v. 26. Jer. 11. v. 13. Galat. 3. v. 10.


2 Rom. 3. v. 10.11.12.13.


3 Eph. 2. v. 8.9.10. Gal. 2. v. 16. Rom. 3. v. 28. c. 4. v. 5. c. 11. v. 6. Luc. 17. v. 10.


4 Gal. 3. v. 13. Tit. 2. v. 14. Rom. 4. v. 25. Col. 1. v. 13.14. Hebr. 10. v. 12.14. 1. Petr. 1. v. 18.19. 1. Joh. 1. v. 7.


5 Matth. 22. v. 14.


6 Rom. 9. Malach. 1.


7 Marc. 11. v. 24. Joh. 16. v. 23. Jac. 1. v. 5. Psalm. 51. v. 13.14.


8 Joh. 15. v. 26.


9 1. Cor. 12. v. 3.


10 Rom. 9. v. 19.20.21.22.23. Jes. 45. v. 9. Jerem. 18. v. 6. B. der Weißh. 15. v. 7.


11 Ezech. 33. v. 11. 1. Tim. 2. v. 4.2. Pet. 3. v. 9.


Quelle:
Friedrich Rudolph Ludwig von Canitz, Kritische Ausgabe: Gedichte, Tübingen 1982, S. 197-199.
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