Ein Brief

[1] O du Kindermund, o du Kindermund,

Unbewußter Weisheit froh,

Vogelsprachekund, vogelsprachekund

Wie Salomo!

Rückert.


[2] Liebe Erna!


Du schlanke Frau, ich sende Dir mein Büchlein,

Und mit den Frühlingslüften kommt vielleicht

Es angeflogen in Dein stilles Dorf,

Ein Liebesgruß aus ferner, lauter Stadt.


Wenn in der Mittagsstunde Du alsdann,

Die Hände leicht gefaltet und gekreuzt die Füßchen,

Nachsinnend lehnest im Großvaterstuhl,

Gleich der Prinzessin aus dem Ammenmärchen,

Bewacht von zwei schneeweißen großen Katzen,

Die emsig spinnend auf der Diele kauern,

Wenn Frühlingsonnenschein durch's Fenster fällt,

Quer durch die Stube auf Dein blondes Haupt,

Wenn dann die alte Magd, die schweigsam saß,

Halb Deinen Athemzügen, halb dem Winde lauschend,

Dich plötzlich fragt in ihrer treuen Art:

»Was schrieb denn die Frau Ada heute ... Frau?!«

Da wird Dir klar, was Du gedacht, gefühlt,

Seit Dir mein Büchlein aus der Hand gefallen,

Und leise sagst Du dann: Sie kommt bald wieder![3]

Denn als gesucht Du schweigend, und geblättert,

Da füllten Deine frommen blauen Augen,

Die erst mit Kinderneugier niederblickten

Auf jedes Blatt – mit Thränen sich allmählig.


Warum? ... Ich habe niemals Dir erzählt,

Wie lichtlos mich das Leben immer dünkt,

Wie seine Räthsel allzeit mich gequält,

Und wie ich litt, weil Andere schwerer litten.

Ich habe Dir kein einzigmal gesagt,

Welch' helles Wunder Du an mir vollbracht:

Wie Deines schlichten Wesens milder Glanz,

Und Deiner Stimme seltsam-weicher Klang,

Und Deiner Liebe weiblich-zarte Sorgfalt

Mich selber mild und weich und zärtlich machten.

Wie ich mich freuen lernte, weil Du Dich

Erfreuen konntest voll und wahr an Dingen,

Die unbeachtet ich von jeher ließ.

Wie ich auflachen konnte harmlos-heiter,

Um über dieses Lachen dann gar oft

Verwundert lange selber noch zu lächeln.

Wie ich mit einmal singen lernte ...

Und fast erschrack, als meine herbe Stimme

Durch das Gemach scholl, wo Du horchend

Inmitten standest ... und bald ernsthaft mitsangst,

Anschmiegend langsam dich der lust'gen Weise,

Die frohbewegt sich sacht mein Herz ersann.

Und war es nicht ein wunderliches Bild,[4]

Zwei Frauen in der Stube ganz allein

Sich drehen sehn' im Tanz? ... Ich wurde roth,

Als an dem Spiegel wir vorüberglitten.

So gab ich mählig mich Dir ganz anheim,

So ganz dem Zauber jener sanften Freude

Am Dasein, der Dich stets bewegt.

Ich lauschte Deiner Rede ... Weisheit dünkte

Mich die Geschichte Deines Kindheitsglückes,

Und Deiner Mädchenzeit harmlose Träume,

Und Deiner Brautschaft sorgenschwere Jahre,

Und Deiner Ehe reine Seligkeit.

Ich lebte mit Dir all' die Zeit zurück,

Und flog geschäftig mit Dir in die Zukunft

Bis in das Alter ... fern noch Deinem Scheitel.


So hobst Du mich, Dir selber unbewußt,

Hinüber aus der schweren Zwielichts-Müde,

Die sich auf meinen Geist gelagert, seit

Das Leben manches frühverfaulte Herz

Fast schmerzlos löste ab von meinem Herzen,

Und seit der Tod mir Eines jählings nahm,

Das ganz ich kenne, seit ich es verloren.


Und darum schwieg ich, ließ Dich stetig walten.

Mir war, als spräch's geheimnißvoll in mir:

»Nicht rühre an dem Zauber, den sie spinnt,

Nicht sinne ob des Wunders, das sie webt,

Nicht frage ob des holden Räthsels Lösung.«[5]

Du schautest nur mein lächelndes Gesicht,

Und nun mit einmal zwingt Dich meine Seele,

Hinauszublicken in die Einsamkeit,

In der sie wie ein heimatloses Kind

Die dunklen Lieder träumte, die Du lasest.


Nicht weiß ich, ob ich wohlgethan, wenn ich

Aus weiter Ferne in Dein klares Leben

Die Schatten meiner Träume gleiten lasse.

Doch wenig haben Dichter zu verschenken,

Ihr höchstes und ihr bestes ist ihr Lied;


Ich sende darum es in Deinen Wald,

Wo wir im gold'nen Sonnenscheine gingen,

Hin in den Wiesengrund, wo Nebelseen

Im Mondenlicht gespenstig uns umwogten,

Den Berg hinan, wo jener hohe Baum

Hinausragt über alle andern Bäume,

Und in das Haus, wo im Großvaterstuhl

Mein Liebling sitzt, die lichtumstrahlte Frau,

Die blonde, sanfte, rührende Gestalt,

In deren Nähe Freude wohnt und Friede ...


Sie werden fragen, wer und wo Du bist,

Wie ein Gebilde meiner Phantasie Dich nehmen,

Da ich nur halb den lieben Namen nenne

Und nicht den Ort, wo ich Dich, Holde, fand.

Doch neidisch bin ich auf mein stilles Glück,[6]

Gleich einen Schatz will ich Dein Herz mir hüten,

Und wenn ich wieder müde mich geschritten

In Herzensöden, Geisteswüsteneien ...

Wenn wieder Staub auf meinen Schwingen liegt,

Dann komm' ich wieder in Dein stilles Thal

Und Deine Seele wird mich doppelt lieben,

Weil dieses Buch Dich lehrt, was Du mir bist.
[7]

Quelle:
Ada Christen: Aus der Tiefe. Hamburg 1878, S. 1-8.
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